Naturschutz: "Dafür sind wa da“

Ein Interview mit Annett Hertweck, Geschäftsführerin des Naturschutzstation Östliche Oberlausitz e.V.

Annett Hertweck ist in Meißen geboren, in Görlitz aufgewachsen und seither dem Leben in der Lausitz treu geblieben. Ihre aktive Naturschutzarbeit begann bereits in den 90er Jahren. Heute ist sie aus der Region nicht mehr wegzudenken. Das Team rund um die Naturschutzstation mit Sitz in Förstgen im Landkreis Görlitz organisiert Bildungsarbeit für nachhaltige Entwicklung, konzipiert Umweltschutz-Projekte und leistet aktive Naturschutzarbeit. Hierfür werden unter anderem regelmäßig Veranstaltungen in und mit Schulklassen durchgeführt und vielfältige Landschaftspflege betrieben. Der Schaffensraum erstreckt sich über die Landkreise Bautzen und Görlitz.

Im Jahr 2019 begann eines ihrer Herzensprojekte: die Sanierung und Verwandlung der Wassermühle des Ortes in ein Café mit Übernachtungsmöglichkeiten und einem kleinem Museum. Im Jahr 2022 fand die Eröffnung statt. „Seitdem geht hier die Post ab“, so Annett Hertweck.

Annett Hertweck klein

Foto: privat

Es wird eine Bandbreite von Events veranstaltet, von Exkursionen über Koch- und Musikabende bis hin zu Workshops und Märkten. An Wochenenden dient das Mühlencafé als Begegnungsort. Ortsansässige Cafébesucher:innen treffen auf Tourist:innen aus ganz Europa. Es wird sich über die Gegend ausgetauscht, die Bewohner:innen werden nach Tipps gefragt. „Den Austausch, der hier stattfindet, hab ich so nicht erahnt. Das ist total fantastisch. Jedes Wochenende ist anders. Man will fast keinen Tag in der Mühle versäumen, weil wieder jemand Neues reingekommen ist und wieder neue Ideen reinbringt. Da hole ich mir auch ganz viel Input für mich.“ Durch Gespräche im Café kann Annett Hertweck Menschen für Umweltthemen begeistern, die sie mit ihrer Arbeit in der Naturschutzstation nicht erreichen würde. Dank der Mühle wird damit ein niedrigschwelliger Zugang zu Naturschutzthemen geschaffen. 

Das Thema Nachhaltigkeit ist essenziell. Die Umweltbildungsarbeit fokussiert den Erhalt bestehender Natur, macht auf Herausforderungen aufmerksam und bietet Lösungsansätze. Im Zuge der nachhaltigen Umbauplanung und -realisierung der Wassermühle gab es die stetige Bestrebung, Materialien und Einrichtungsgegenstände wiederzuverwenden. Unter dem Dach sind Überwinterungsquartiere für Fledermäuse platziert. Der Zugang zu den Räumlichkeiten ist barrierefrei gestaltet.

Die Wassermühle ist zudem Teil der Plattform „Social bnb“, die nachhaltige Unterkünfte vermittelt. Durch jede Übernachtung wird die Naturschutzstation unterstützt. Zudem haben Gäste die Möglichkeit, Teile von Annett Hertwecks Arbeit einzusehen. So nehmen Gäst:innen zum Beispiel an der abendlichen Schafsfütterung teil.

Auf die Frage, was in der Region verändert werden müsste, antwortet sie mit Nachdruck: „Es müssen die Gehälter angehoben werden, das ist ja klar!“ Sie kritisiert die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen, Stadt und Land sowie Ost- und Westdeutschland. Es bedarf aus ihrer Sicht unter anderem des Ausbaus der Infrastruktur und besserer Bedingungen für berufstätige Eltern. Andererseits betont sie die erhöhte Lebensqualität durch die geringeren Mieten in der Lausitz und insbesondere durch die umliegende Natur.

Jungen Frauen würde sie raten: Wenn man etwas Bestimmtes erreichen will und fleißig ist, dann schafft man das auch. Unentbehrlich ist, an der Realisierung mit Motivation und Engagement zu arbeiten. „Wenn man für eine Sache brennt, dann macht man von sich aus mehr“.

Zukünftig ist die Sanierung des Schlosses Niederspree geplant. Hier soll ein Landschulheim entstehen, das sich mitten im Naturschutzgebiet befindet und somit ein hervorragender Ort für praktische Umweltbildungsarbeit ist.

Weniger erfreulich ist der momentan nötige Kampf um den Erhalt der Schafherde, welche zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft beiträgt. „Wir arbeiten da hauptsächlich mit Fördermitteln. Das ist sehr, sehr schwer. Wir arbeiten eben auch alle immer ein bisschen mehr, damit wir das ausgleichen. Das geht bloß bis zu einem bestimmten Punkt. Dann bricht das zusammen“.

Grundsätzlich möchte sie weiterhin vielfältig aktiven Naturschutz betreiben um den Naturreichtum vor der Haustür zu bewahren. "Dafür sind wa da“, betont Annett Hertweck.

 

Die Naturschutzstation Östliche Oberlausitz...

... ist hier zu finden.

Isabelle Fobo...

... hat Annett Hertweck für uns interviewt. Sie wurde 1994 in Hoyerswerda geboren und ist im Landkreis Görlitz aufgewachsen. Sie ist Sozialarbeiterin(B.A.) und Musicaldarstellerin und befasst sich im Rahmen ihres Schaffens unter anderem mit Familienbildung, sozialer Gerechtigkeit und Frauen-Empowerment.

Das Thema Frauen und Nachhaltigkeit...

... hat Franzi Stölzel für uns angestoßen. Sie hat für F wie Kraft den Eku-Nachhaltigkeitspreis gewonnen und somit diese Beitragsserie angestoßen. Lest hier weiter, was Franzi Stölzel über Frauen und Nachhaltigkeit schreibt und seid gespannt auf ein weiteres tolles Porträt über eine nachhaltig aktive Lausitzerin!

Interessant dazu ist auch die Studie "Zur (Daten-) Lage von Frauen im Strukturwandel der Lausitz", durchgeführt vom TRAWOS-Institut der Hochschule Zittau/Görlitz. Dort werden die Zusammenhänge zwischen Frauen, der sozialökologischen Transformation und dem regionalen Strukturwandel beleuchtet. Hier geht's zur Studie.

„Zeit der Bewegung und der Unsicherheit ist immer eine Chance, etwas Neues zu starten“

Ein Interview mit Stefanie Alsen, Herausgeberin des Magazins „ÖKO Lausitz“

Vor zweieinhalb Jahren kehrte die gebürtige Oberlausitzerin in ihre Heimat zurück. Ihr Ziel war es, ein Magazin herauszugeben, das sich mit Nachhaltigkeitsthemen befasst. Hierfür gründete sie Anfang 2023 den Pataka Verlag. Die erste Ausgabe der Öko Lausitz erschien im September 2023. Das Magazin befasst sich mit regionalen Landwirt:innen und deren Produkten sowie Ideenanreizen rund um gesunde Ernährung und ein naturnahes Leben. Zentral ist dabei, dass sich das Thema Nachhaltigkeit durch alle Bereiche zieht. In verschiedenen Rubriken werden unter anderem Betriebe aus der Region, Rezepte mit saisonalen Zutaten und Reportagen über alternative Alltagskonzepte vorgestellt. Für Kinder gibt es ein Gemüsemärchen, geschrieben von Stefanie selbst.

 Kritisch betont sie bei der Herausgabe von Magazinen die Kontroverse in Bezug auf den Nachhaltigkeitsaspekt bei Printmedien, entschied sich jedoch aus verschiedenen Gründen für den Druck des Magazins. Einerseits sei das Nutzen von Bildschirmen ebenso nicht ohne Rohstoffverbrauch, andererseits möchte das Team der Öko Lausitz eine weite Bandbreite an Menschen in der Lausitz erreichen.

Stefanie Alsen

Stefanie Alsen © Franziska Weidle

 

 Für den Druck arbeitet Stefanie Alsen zusammen mit einer Druckerei, die nachhaltig konzipiert ist. Zukünftig plant die Unternehmerin eine Baumpflanzaktion mit Leser:innen um verbrauchte Ressourcen gemeinsam wieder aufzustocken.

Zudem ist die Intention, den Vertrieb so wenig umweltbelastend wie möglich zu gestalten. Hierfür werden bereits bestehende Lieferketten genutzt. Stefanie Alsen beschreibt hier das „Prinzip der Abholpunkte“. Die Öko Lausitz hat bisher 17 verschiedene Partner:innen in Form von Bio- und Hofläden sowie Cafés. Das Abholen am Abholpunkt dient der geringeren CO2 Belastung und kreiert zudem einen Ort der Begegnung. Bereits 80 Prozent der Leser:innen würden dies nutzen.

Der Begriff „Strukturwandel“ begegnet ihr fast täglich. Viel ist in Bewegung, aber eine „Zeit der Bewegung und der Unsicherheit ist immer eine Chance, etwas Neues zu starten“.

Auf die Frage, was sie jungen Frauen raten würde, die einen ähnlichen Weg wie sie gehen wollen, antwortet sie „Es fängt damit an, was man sich selbst zutraut“. Als Grundkonzept beschreibt sie: Idee formulieren, sich Feedback einholen und die Idee am Ende so formen, dass man dahinterstehen kann. Sie würde junge Frauen ermutigen, den Schritt zu gehen, eine eigene Vision zu realisieren. Denn „was danach kommt, ist total schön“. Fluktuationen gehören dazu, aber Höhen und Tiefen machen die Arbeit erst lebendig. Wichtig ist, dranzubleiben.

Die Zukunftspläne für die Öko Lausitz sind vage. Das Finanzierungskonzept ist kürzlich weggebrochen und jetzt sucht das Team der Öko Lausitz nach neuen Perspektiven. Die Aufgabe: den Druck der nächsten Magazin-Ausgabe durch Crowdfunding zu realisieren. Langfristig sucht Stefanie Alsen nach stabileren Möglichkeiten. Ihr Wunsch ist, neben der Fortführung des Magazins, das Sortiment es Verlages zu erweitern- stets mit Publikationen, die Nachhaltigkeit und Frauen-Empowerment sowie alternative Lebenskonzepte aufzeigen. Derzeit sind sowohl ein Kochbuch als auch ein Kinderbuch im Gespräch.

 

Öko Lausitz...

... das Magazin für nachhaltiges Leben, ist hier zu finden.

Isabelle Fobo...

... hat Stefanie Alsen für uns interviewt. Sie wurde 1994 in Hoyerswerda geboren und ist im Landkreis Görlitz aufgewachsen. Sie ist Sozialarbeiterin(B.A.) und Musicaldarstellerin und befasst sich im Rahmen ihres Schaffens unter anderem mit Familienbildung, sozialer Gerechtigkeit und Frauen-Empowerment.

Das Thema Frauen und Nachhaltigkeit...

... hat Franzi Stölzel für uns angestoßen. Sie hat für F wie Kraft den Eku-Nachhaltigkeitspreis gewonnen und somit diese Beitragsserie angestoßen. Lest hier weiter, was Franzi Stölzel über Frauen und Nachhaltigkeit schreibt und seid gespannt auf ein weiteres tolles Porträt über eine nachhaltig aktive Lausitzerin!

Interessant dazu ist auch die Studie "Zur (Daten-) Lage von Frauen im Strukturwandel der Lausitz", durchgeführt vom TRAWOS-Institut der Hochschule Zittau/Görlitz. Dort werden die Zusammenhänge zwischen Frauen, der sozialökologischen Transformation und dem regionalen Strukturwandel beleuchtet. Hier geht's zur Studie.

Frauen als Akteur:innen der Nachhaltigkeit

Franziska Stölzel gewinnt für F wie Kraft beim EKU-Zukunftspreis 2022

Der EKU Zukunftspreis bietet Engagierten in Sachsen die Möglichkeit, Preisgelder für Projektideen zu generieren, die ökologische und nachhaltige Grundprinzipien verfolgen. 

Auch wir haben uns im letzten Jahr beworben und ein Preisgeld gewonnen. Die Idee: Frauen als nachhaltige Akteur:innen in der Lausitz sichtbar machen und das Thema Nachhaltigkeit aus Sicht der Lausitzerinnen darstellen.

Für mich selbst ist Nachhaltigkeit ein immer wichtiger werdender Teil des Lebens. Das liegt vor allem daran, dass ich mehr und mehr lerne und erfahre, wie andere Menschen auf der Welt leben, damit ich mir meinen Lebensstandard ermöglichen kann. Von Klimagerechtigkeit und Biodiversität mal abgesehen, geht es für mich auch um Menschenrechte. 

Franzi Stölzel

© Franziska Stölzel

Warum spielen Frauen so eine wichtige Rolle, wenn es um Nachhaltigkeit geht? Fest steht, dass Frauen ein stärkeres Interesse an Nachhaltigkeit haben. Sie interessieren sich eher für Tierwohl als Männer und leben daher auch öfter vegan oder vegetarisch. Sie schätzen einen nachhaltigen Lifestyle, nutzen Second-Hand-Märkte und kaufen Produkte biologisch, regional und im Allgemeinen auch gesünder. Des Weiteren engagieren sich Frauen öfter engagiert im Umweltschutz (Jennifer Kuzu, Fashionchangers.de, 2021).

Die 2018 durchgeführte Mintel-Studie hat den so genannten Eco-Gender-Gap beschrieben. In dieser Studie wurden 71 Frauen und 59 Männer zu Nachhaltigkeitsthemen befragt. Frauen stimmten eher als die befragten Männer den Aussagen zu, dass sie nachhaltig leben, Freunde und Familie davon überzeugen wollen und diese Sichtweisen im Alltag einbringen. Sie gaben auch häufiger an, zu Recyclen, die Heizung beim Verlassen des Hauses/der Wohnung auszuschalten und auf den Wasserverbrauch zu achten, sowie Lebensmittel nicht zu verschwenden und Abfälle zu kompostieren.

Natürlich zählt auch hier die unbezahlte Arbeit von Frauen dazu, die sich um Pflege, Einkaufen, Putzen, Gartenarbeit kümmern und Ehrenämter sozial auswählen. Kuzu schreibt: “Damit einher geht auch die Verpflichtung, möglichst gesunde Produkte für die Lieben auszuwählen: Es wird erwartet, dass insbesondere Mütter stets die besten Entscheidungen für die zu versorgenden Personen treffen. Weil mittlerweile deutlich geworden ist, wie schädlich Produkte aus Plastik, bestimmte Stoffe in Kosmetika, Kleidung und Lebensmitteln sein können, ist die logische Konsequenz der Griff zu nachhaltig produzierten, unbedenklicheren Gütern und Bioprodukten”. 

Frauen und Marketing: Es ist nicht überall Nachhaltigkeit drin wo es drauf steht

Als Ergänzung dazu ist es enorm wichtig, über das Marketing mit und für Frauen zu sprechen. Allgemein kann man davon ausgehen, dass 70 - 80% der Kaufentscheidungen von Frauen getätigt werden. 86% der Haushaltsführenden sind weiblich. Produkte werden daher so vermarktet, dass sie Frauen ansprechen. Während Männer zielorientiert einkaufen, mögen Frauen das Erlebnis des Kaufens, kaufen eher nach Bedarfen und der qualitativen Erfüllung eines Produktes ein  (Eva Simone Klaver, 2011). Frauenmärkte bilden einen „hohen Konkurrenzgrad, [einen] hohen Grad der Produkt- und  Markendifferenzierung, niedriges Preisniveau und hohe Umsatzschnelligkeit“ (Frink 1993, S.30). Wir Frauen werden also für unsere unbezahlte Arbeit und den Willen, möglichst nachhaltig zu kaufen, in die Irre geführt. 

Es ist auch wichtig zu betonen, dass es das Gendermarketing vor allem für Kinder und junge Menschen schwer macht, das richtige Produkt auszuwählen. Die Dimensionen von Geschlecht werden schon seit Jahren für die Vermarktung von Produkten genutzt. Es wird davon ausgegangen, dass wir als Verbraucher:innen uns mit unserem Geschlecht identifizieren und ein Produkt eher kaufen, wenn es sehr weiblich aussieht: “Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder werden durch ästhetische Merkmale sowohl geformt als auch wirksam transportiert: wie ›rund, pink, helle Farben, glänzende Oberflächen‹ (›weiblich‹) und ›kantig, blau, dunkle Farben, matte Oberflächen (›männlich‹)”.

Doch was bedeutet das nun für uns Lausitzer:innen?

Die Autorinnen Hausner, Waibel, Muner-Sammer und Fischer der Österreichischen Gesellschaft für Umwelt und Technik beschreiben in ihrer Studie: Gender & sozial-ökologische Transformation, dass Frauen weniger in Transformationsgeschehen beteiligt sind. Das gilt auch für andere vulnerable Gruppen wie Senior:innen, Menschen mit Behinderung, Kinder und Jugendliche uvm. So entsteht auch in diesen Prozessen wenig Sichtbarkeit für Minderheiten. Wir merken es selbst, dass in vielen politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Gremien universale Geschlechterstereotype bedient und weitergegeben werden. Dabei wäre es umso wichtiger, Diversität als Chance zu begreifen und die Intersektionalität von Betroffenen einzubeziehen. 

In der Studie Frauen.Energie.Wende wird von ungleichen Beteiligungsmöglichkeiten bei der Energiewende gesprochen. Sie erklären eindrücklich, warum Frauen Schlüsselakteur:innen für die Transformation sind und das nicht nur, weil sie eine positivere Einstellung zu erneuerbaren Energien haben als Männer. Eine gendergerechte Energiepolitik hat eine größere Reichweite und führt somit auch zu nachhaltigen Maßnahmen. Zudem belegen die Autor:innen, dass Diversität auch den Unternehmen gut tut, denn diese “steigert Profitabilität, senkt Risikoverhalten/Umweltbelastungen, begünstigt Nachhaltigkeit und Innovation”.

Was wir also brauchen ist gerechte Arbeit (-steilung) und Gleichberechtigung für Alle. Frauen verhalten sich nämlich nicht immer nur nachhaltig, weil sie es wollen, viele haben keine andere Wahl. Keil Auto zu besitzen heißt, auf ÖPNV angewiesen zu sein, sich kein Haus mit viel Platz leisten zu können, heißt in kleineren Wohnungen zu leben. Somit ist Geschlecht – egal ob sozial oder biologisch – auch ein Teil der Raumentwicklung und muss bei Planungsprozessen mitgedacht werden.

 

Franziska Stölzel...

... ist Wissenschaftlerin für Wandel- und Transformationsprozesse. Obwohl es sie nach ihrem Studium zunächst nach Südamerika gezogen hat, war für sie immer klar, dass sie zurück in die Lausitz möchte. Aktuell lebt sie in Weißwasser. Sie ist in verschiedensten Projekten aktiv und unterstützt die Initiative F wie Kraft durch Öffentlichkeitsarbeit und ihr Händchen für Projektanträge.

Mit dem Preisgeld...

... unterstützt Franzi verschiedene Akteurinnen aus dem Netzwerk F wie Kraft - zum Beispiel die Menschen rund um das F.E.S.T. in Bautzen. Außerdem entstand durch ihre Arbeit unsere Beitragsserie "Frauen als Akteurinnen der Nachhaltigkeit" mit den spannenden Porträts über Stefanie Alsen und Annett Hertweck. 

Interessant dazu...

... ist die Studie "Zur (Daten-) Lage von Frauen im Strukturwandel der Lausitz", durchgeführt vom TRAWOS-Institut der Hochschule Zittau/Görlitz. Dort werden die Zusammenhänge zwischen Frauen, der sozialökologischen Transformation und dem regionalen Strukturwandel beleuchtet. Hier geht's zur Studie.

 

„Auch jene Frauen, die nach 1990 blieben, waren extrem beweglich“

Die ländliche Region der Lausitz ist von starker Abwanderung geprägt. Wie aber geht es denen, die bleiben – und denen, die nun kommen? 

Ebru Taşdemir im Gespräch mit Dr. Julia Gabler

Im Jahr 2017 zogen erstmals mehr Menschen aus dem Westen in den Osten Deutschlands als andersherum. Aber macht sich diese Trendumkehr auch im ländlichen Raum bemerkbar, der nach der Wende jahrzehntelang durch einen Mangel an Frauen geprägt war? Die Soziologin Dr. Julia Gabler schaut sich in der sächsischen Lausitz den sozialen Wandel genauer an.

Frau Gabler, viel wurde über die Abwanderung aus dem Osten geschrieben. Aber was passierte mit den Frauen, die nach dem Mauerfall hier im ländlichen Raum geblieben sind? 

Viele Frauen hier in der Lausitz waren die Ersten, die aus den Prozessen rausgeflogen sind – und gleichzeitig am schwierigsten Anschluss gefunden haben. Sie haben besonders prekäre und sehr schlecht bezahlte Jobs gefunden. Dazu kommt, dass die Kinder weggegangen sind. Dann sind vielleicht noch die Nachbarn weggezogen. Der Forschungsstand dazu ist prekär, es gibt nur Einzelinterviews. Aber diese Abwanderung zu erleben und selbst zu den Verbleibenden zu gehören, verursacht ein kulturelles Trauma des Zurückgebliebenseins.

 

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Weil das Klischee entsteht, dass man sich nicht bewegt, obwohl doch vieles im Umbruch ist? 

Genau. Viele waren im Gegenteil extrem beweglich und mussten mit sehr vielen Veränderungen einen Umgang finden. Gerade die Generation, die ungefähr 40 Jahre alt war zur Wende, hatte noch ein halbes Erwerbsleben vor sich, das darf man nicht vergessen. Die Menschen, die hiergeblieben sind, sind dann oft in den Verwaltungsbereich oder in die Krankenkassen gewechselt, also in die Versorgungsstruktur und Dienstleistungen. Die Industrie gab es ja nicht mehr, über 90 Prozent der Arbeitsstellen wurden zurückgebaut. 

Wie beurteilen denn diese Frauen, die jetzt im Rentenalter sein müssen, ihr damaliges Nichtgehen – also: ihr Bleiben? 

Das ist ein mit Scham besetztes Thema. Denn es hieß immer wieder: Warum bist du denn da nicht weggegangen? Mobilität als einfache Lösung. Diese Menschen haben eine starke Bindung zu ihrer Familie, zur Landschaft, zu Haus und Hof. Wir haben versucht, das in Einzelgesprächen aufzuschließen, mussten aber auch respektieren, dass diese Frauen lieber unsichtbar bleiben wollten und sich zurückgezogen haben. 

Wenn Frauen wegziehen oder sich zurückziehen, macht das was mit der Zivilgesellschaft. 

Dort, wo Frauen sind, findet regionale Entwicklung statt, weil dort soziale Themen nicht nur als Sanierungsfall gedacht werden. Sondern als Gestaltungsräume, in denen unterschiedliche Akteur*innen zusammenkommen, die etwas ändern wollen.

So öffnen sich neue Räume?

Ja, es entstehen Räume, in denen die Kritikfähigkeit dieser ländlichen Gesellschaft eingeübt wird: in der Lage zu sein, miteinander kritisch zu diskutieren, ohne dass es persönlich gemeint ist. Es geht darum, wie Rahmenbedingungen des Lebens zu bewerten und zu beurteilen sind und durch wen! Und da ist der Strukturwandel natürlich ein Raum, in dem man Genderfragen und Nachhaltigkeitsfragen verknüpfen kann. Statt nur über Investitionslogiken und die Kompensation von Arbeitsplätzen zu reden. 

Dafür initiierten Sie die Online-Plattform „F wie Kraft“. Dort steht: „Egal, ob Du schon immer hier warst, neu in der Lausitz oder zurückgekommen bist – F wie Kraft ist Deine Plattform.“ 

Welche Menschen wollen hierherkommen? Wie können wir dazu einladen, herzukommen? Mit wem wollen wir zusammenarbeiten? All das sind weibliche Netzwerke, die nicht sichtbar waren, aber sehr stark bis in die Gegenwart wirken. Bei den Veranstaltungen der Initiative haben wir mit so vielen Frauen aus der Region darüber gesprochen, was wir und was sie machen und was in dieser Region passiert. Auch um die Akteurinnen zu ermutigen, davon zu berichten. 

Warum heißt der Slogan „F wie Kraft“? 

Weil eine wichtige Rückmeldung war, dass da nicht stehen soll: F wie Feminismus. Den sehen hier viele Frauen als urbanes Projekt und wollen sich davon abgrenzen. „F wie Kraft“ weist auch auf die physikalische Formel hin: Masse mal Beschleunigung. Ein Autor der Sächsischen Zeitung schrieb mal: Frauen müssen die männliche Masse in Bewegung versetzen. 

Die männliche Masse, das spielt auf die massive Abwanderung von Frauen nach der Wende an, die einen Frauenmangel in vielen Regionen nach sich zog. 

Es gibt noch immer Abwanderung, und auch, wenn wir nicht in allen Bildungsgruppen Geschlechterunterschiede feststellen: Insgesamt sehen Frauen ihren Verbleib skeptischer. Wenn man heute junge Menschen in Sachsen nach der beruflichen Zukunft fragt, ist ihre Herkunftsregion nicht mehr die erste Wahl, wobei dieser Trend seit ungefähr fünf Jahren langsam abnimmt. Was wir festgestellt haben, ist, dass der Einzugsbereich der Hochschule ein zentraler Faktor dafür ist, nach der Schule in der Region zu bleiben. 

Die jungen Menschen bleiben also, wenn sie studieren können? 

Gut zwei Drittel der Studierenden sind aber zugewandert! Dass nach der großen Abwanderungswelle in den 1990ern nun eine kollektive Rückkehrer-Welle in ländliche Regionen wie die Lausitz kommt, das ist bei weitem nicht so, auch wenn es wegen der vielen Rückkehr-Initiativen so wirkt.

Wieso gehen die Menschen denn weg?

Heute sind es weniger die fehlenden Arbeitsplätze, da war der Abwanderungsdruck in der Elterngeneration viel höher als bei den Jugendlichen heute. Es hat sich vielmehr eine Form von Abwanderungskultur etabliert, wie es die Bevölkerungsgeografen Tim Leibert und Karin Wiest für Sachsen-Anhalt beschrieben haben. Eltern oder auch Lehrerinnen und Lehrer sagen ihnen: Ihr habt hier keine Chance, keine Zukunftsperspektive. In der Lausitz ändert sich das aber interessanterweise mit dem Fachkräftebedarf.

Welche Gruppe von Frauen kehrt jetzt zurück?

Was jetzt, nach 20 bis 25 Jahren, eine neue Phase einläutet, ist die schwierige Versorgungslage in vielen ostdeutschen ländlichen Regionen. Viele Frauen kommen zurück, weil sie sich um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern. 

Wie stark stehen die jüngeren Frauen noch unter dem Einfluss der mütterlichen oder groß- mütterlichen Erzählungen aus der DDR-Zeit, darüber, dass die Frauen hier emanzipierter waren als im Westen?

Dieses Selbstbild trägt hier durchaus das kulturelle Selbstverständnis. Insbesondere in der Generation meiner Mutter, die jetzt bald in die Rente geht, gibt es das Verständnis, als Frau im Ingenieurberuf genauso anerkannt zu sein wie der männliche Kollege. Sie verzichten auf eine weibliche Berufsbezeichnung – das gehört auch zum Selbstbild. Das ist bei jüngeren Frauen definitiv anders. 

 

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Inwiefern?

Die Gleichstellungsbeauftragte unseres Landkreises, Marika Vetter, ist eine junge Handwerkerin. Mit ihrem Projekt „Frauen bauen“ wurde sie gerade ausgezeichnet. Sie berichtet über Geschlechterungerechtigkeiten auf Baustellen. Viele aus der Generation unserer Mütter teilen diese kritische Perspektive nicht, weil sie das Gefühl haben: Wenn frau sich durchbeißt und wenn sie gut ist, dann schafft frau es überall.

Ein Generationenzwist?

Ja! Da wird viel verklärt in den biografischen Erzählungen, was in der Selbsterfahrung junger Frauen deutlich problematischer wahrgenommen wird. 

„Den Begriff Feminismus meiden wir: Viele sehen ihn als urbanes Projekt“. Fühlen sich junge Frauen in technischen Berufen denn wohl in der Region?

Es ist gerade nicht richtig attraktiv, im ländlichen Raum seine Berufsperspektiven zu starten, obwohl viele Unternehmen händeringend Leute suchen. Für Frauen im technischen Bereich ist das noch schwieriger. Wenn eine junge Frau von der Hochschule Zittau/ Görlitz ihren Maschinenbau-Abschluss hat, dann wird sie hier eher nicht arbeiten. Weil sie selbst erfahren hat oder annehmen muss, dass Frauen in dem Bereich zwar anerkannt sind, aber trotzdem gefragt wird: Wo ist der Chef? 

Schwierig, ja.

Das ist dieser Widerspruch: auf der einen Seite ein relativ tradiertes Hierarchie- und Geschlechterverständnis zu haben, andererseits auch das Selbstverständnis, dass Frauen in diesen Bereichen arbeiten können.

Leben Sie eigentlich selbst gern in der Lausitz?

Ja, total gern. In den ersten fünf Jahren dachte ich: Oh Gott, wir müssen wegziehen. Jetzt weiß ich, ich lebe und arbeite hier mit sehr spannenden Leuten, die diesen ländlichen Raum entwickeln und das sehr intrinsisch motiviert tun. Als Soziologin habe ich hier alles, was ich brauche. Alle gesellschaftlichen Fragen türmen sich hier und liegen vor mir, wenn ich die Tür aufmache. 

 Der Artikel erschien am 28. September 2023 im der Freitag | Nr. 39

Der Osten ist weiblich. Immer mehr Frauen wollen in Ostdeutschland leben. Was finden sie dort?

Dr. Julia Gabler...

... geboren 1979 in Rostock, ist Direktorin des Instituts für Transformation, Wohnen und soziale Raumentwicklung an der Hochschule Zittau/ Görlitz. Als Sozialwissenschaftlerin forscht sie zu den Verbleibeperspektiven qualifizierter Frauen im ländlichen Raum.

Die Fotos...

... stammen aus den Fotoalben der Familie Pech und wurden für diesen Artikel zur Verfügung gestellt.

"Demokratie und Gleichstellung gehören zusammen."

Interview mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Bautzen, Fränzi Straßberger, zur Geschlechtergerechtigkeit im Strukturwandel der Lausitz

Fränzi Straßberger ist seit 2020 Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte der Stadt Bautzen und Sprecherin des Bündnisses der Lausitzer Gleichstellungsbeauftragten. Zuvor war sie Projektleiterin bei der Fraueninitiative Bautzen e. V. und Mitinitiatorin der Initiative „Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz“. Im Gespräch mit Marius Koepchen von der Europa-Universität Flensburg blickt sie auf ihre Rolle als Gleichstellungsbeauftragte und die Bedeutung von geschlechtergerechten Perspektiven im Strukturwandel der Lausitz. 

Tine Jurtz Fotografie 2022 09 2895

© Tine Jurtz 

 

Marius Koepchen: Frau Straßberger, wie kamen Sie zu Ihrem frauen- und gleichstellungspolitischen Engagement in der Lausitz?

Fränzi Straßberger: Ich bin in dieses Engagement hineingewachsen. Mit den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017, als wir sahen wie der Frauenanteil auf einmal wieder zurückging, wurde es politischer. Wir wollten aktiv werden, haben das „Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz” gegründet und uns oberlausitzweit vernetzt. Sich gemeinsam mit anderen für etwas einzusetzen, ist für mich ein wichtiger Anker in der Region. Man lernt tolle Menschen kennen und merkt, dass man mit seinem Anliegen nicht alleine ist. Oft übersehen wir, dass wir keine “Einzelkämpferinnen” sind. Doch die Sichtweisen von Frauen liegen selten im Zentrum der Aufmerksamkeit.  

Marius Koepchen: Und wo liegen die Verbindungen zwischen Ihrer gleichstellungs-politischen Arbeit und dem Strukturwandel der Lausitz?

Fränzi Straßberger: Ich habe mir die Rolle als Gleichstellungsbeauftragte im Strukturwandel nicht aktiv gesucht. Der Impuls kam letztendlich durch das Statuspapier “Geschlechtergerechtigkeit für die Lausitz im Wandel“, das im Rahmen eines Forschungsprojektes der Zukunftswerkstatt Lausitz entstand. Als ich 2020 in die Stadtverwaltung gewechselt bin, habe mir unter anderem die Fragen gestellt: Wo liegen gerade die Herausforderungen? Was steht an? In Bautzen sind die Folgen des Tagebaus bzw. auch des Kohleausstiegs nicht so mit dem bloßen Auge sichtbar wie beispielsweise in Hoyerswerda oder Spremberg. Seit 2020 arbeiten wir nun kontinuierlich zum Thema Geschlechtergerechtigkeit im Strukturwandel und stellen immer wieder fest: Das ist eine riesige Herausforderung für eine ganze Region! Es ist nicht so einfach, die eigene Rolle darin zu finden. Aber wenn ich die Zeitung aufschlage, ist mir klar: Hier ist eine Leerstelle. In der Regel sind es gut etablierte, anerkannte Männer, die wir sehen, wenn es um den Strukturwandel geht. Gleichzeitig fehlen überproportional viele jüngere Frauen in der Region. Letztlich ist es eine Aufgabe für die gesamte Lausitz, diese auch für jüngere Menschen – vor allem auch für Frauen – attraktiv und lebenswert zu machen, sonst haben wir über kurz oder lang nicht nur ein demographisches, sondern auch ein demokratisches Problem. Und das geht alle an. Maßnahmen im und rund um den Strukturwandel müssen das systematisch in den Blick nehmen und Perspektiven schaffen – für Jüngere, Ältere und alle Geschlechter.

Marius Koepchen: Sehr spannend, ich würde da gerne anknüpfen: Können Sie die geschlechterpolitische Dimension des Strukturwandels noch etwas ausführen? Was sehen Sie da?

 

Fränzi Straßberger: Es ist kein neues, sondern genaugenommen ein Dauerthema – seit 1990. Die Region befindet sich permanent im Wandel. Viele Frauen verloren zu Beginn der 1990er Jahre ihre Arbeitsplätze, vor allem auch im technischen bzw. industriellen Bereich. Sie waren überproportional vom Stellenabbau betroffen und es hat sich kaum jemand dafür interessiert. Ich erinnere mich an meine erste Lausitz-Konferenz, in der man sich sehr um die Zukunft der heute noch im Tagebau Beschäftigten sorgte. Wir wissen, dass technische Berufe vor allem von Männern ausgeübt werden. Diese Sorge und Verantwortlichkeit um verlässliche berufliche Perspektiven wünsche ich mir auch für die sogenannten eher „weiblichen Berufe“. Eine „brüchige“ Berufsbiografie ist leider eine Lebensrealität für viele,  auch sehr gut ausgebildete Frauen. Doch an dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit wird sich nur selten gestört. Deshalb ist das Thema überhaupt nicht neu. 

Mich hat es auch persönlich geprägt, wie in den 90er Jahren Menschen um mich herum scheinbar beliebig ihre Arbeit verloren oder ihr Zuhause für eine berufliche Zukunft verlassen mussten. Mitschüler*innen zogen auf einmal weg. Die Hintergründe habe ich damals als Grundschulkind natürlich noch nicht verstanden. Als ich 2002 mein Abitur machte, gab es auch noch diese Grundhaltung: Für eine echte Perspektive musst du weggehen! Danach änderte sich vieles – auch der Arbeitsmarkt. Aber dieses "Wir müssen schauen, wie es weitergeht." gehörte in meiner Lebensperspektive schon immer dazu.

Deshalb und aus vielen anderen Gründen ist Gleichstellungsarbeit heute immer noch wichtig. Unsere Verfassung gibt uns allen, nicht nur den Gleichstellungsbeauftragten, einen klaren Auftrag und dennoch müssen wir uns für unsere Arbeit immer wieder rechtfertigen. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern verkennt die Chancen, die sie bietet.

Marius Koepchen: Sehr spannend! Wir stellen uns in unserer Forschung auch die Frage nach frauenpolitischen Visionen und Zukunftsvorstellungen. Daher die konkrete Frage: Wo sehen Sie denn die Bedarfe in der Lausitz? Was müsste sich aus frauenpolitischer Sicht verändern? 

Fränzi Straßberger: Gleichstellung geht alle an – auch Männer! Wir sollten anerkennen, dass wir ein Problem haben. Die Rollenvorstellungen für alle Geschlechter sind hier oft „eher eng“, auch für Männer. Wie wird über Väter gesprochen, die mehr Zeit für Familie aufbringen wollen, vermeintlich männlichen Statussymbolen nichts abgewinnen können, länger als zwei Monate in Elternzeit gehen wollen und das Haupternährermodell für überholt halten, eventuell sogar eine Teilzeitbeschäftigung anstreben? Wir müssen leider wieder sehr viel mehr über Respekt reden. An diesen mittlerweile rauen Ton will ich mich nicht gewöhnen. Die vielen kleinen und großen alltäglichen Abwertungen mit einem „geschlechtlichen“ Bezug sind weder witzig noch tragen diese zu einer engen Verbundenheit mit der Region bei. Es braucht auch diesbezüglich einen kulturellen Wandel. Das hat jetzt noch nichts direkt mit dem Strukturwandel zu tun. Doch beim Thema Geschlechtergerechtigkeit bedingt das eine immer auch das andere, und regionale Verbundenheit entsteht auch auf der zwischenmenschlichen Ebene. Ein Mangel an Offenheit und Toleranz in einer Region führt sonst schlussendlich dazu, dass viele junge Menschen für sich dort keine Zukunft sehen.

Ein weiterer Aspekt sind die ewig kurzfristigen Projektfinanzierungen im sozialen und kulturellen Bereich. Wir beklagen die Abwanderung der gut ausgebildeten Frauen und gleichzeitig bieten wir ihnen hier keine Zukunfts- und Berufsperspektive. Wie sollen sie sich hier ein Leben, mit oder ohne Familie, aufbauen? Dabei tragen diese Fachkräfte wesentlich zu einem guten Leben in der Region bei und versuchen, die Menschen beieinander zu halten. Sie sind Teil der Daseinsvorsorge und schaffen weiche Standortfaktoren. Gerade in Krisenzeiten sind sie wichtiger denn je. Die Lausitz konkurriert auch hier mit den Großstädten um Fachkräfte, gleichzeitig stehen die Kommunen vor enormen finanziellen Herausforderungen. Wie kann hier ein Ausgleich erfolgen? Damit dürfen die Kommunen, vor allem in ländlichen Regionen wie der Lausitz, nicht allein gelassen werden. Es braucht adäquate Förderprogramme, die der kleinteiligen Wirtschaftsstruktur gerecht werden, die die bestehenden Strukturen stärken und die moderne Organisationskulturen einfordern. 

Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass wir der Geschichte und den Traditionen der Lausitz mit Respekt begegnen und diese würdigen. Denn nur so können wir darauf aufbauen, Dinge verändern und die Region in eine Zukunft bringen, die zu ihr passt. 

Marius Koepchen: Sie haben schon viele Gründe erwähnt, warum junge Frauen aus der Region wegziehen, sowohl aus Ihrer persönlichen Perspektive betrachtet, als auch mit Ihrem Blick als Gleichstellungsbeauftragte. Gibt es noch weitere Gründe, warum junge Frauen aus der Lausitz wegziehen? 

Fränzi Straßberger: Ich finde es schon mal spannend, wer hier überhaupt zu den jungen Frauen zählt. Mit Ende 30 werde ich hier häufig noch als Teil dieser Gruppe gesehen. Da muss ich oft schmunzeln. Sitze ich hingegen in einer größeren Stadt im Café, sehe ich viel mehr weitaus jüngere Menschen um mich herum. Da zeigt sich schon die demographische Schere: Wer ist hier jung? Wer überlegt wegzuziehen und warum? Hier fehlt fast eine ganze Generation, die größtenteils in den 90er Jahren gegangen ist. Das macht den anstehenden Generationenwechsel unheimlich schwer. Oft sind die Lebensphasen, Ansichten und das, was einen beschäftigt, sehr weit voneinander entfernt. Ich frage mich wirklich: Wie bekommen wir den Generationenwechsel, vor allem auch in den Vereinen, hin? Dabei brauchen wir Vereine nicht nur, damit sich die Zivilgesellschaft organsiert, sondern auch für unser aller Zusammenleben. 

Schon rein demographisch bedingt, müssen Aufgaben von „vielen“ Schultern auf deutlich weniger Schultern verteilen. Gleichzeitig stecken gerade junge Frauen in der Rush-Hour des Lebens und sind mit vielen parallelen Aufgaben und Erwartungen konfrontiert. Da ist die Sorge groß, dass wenn Eine geht, die Last für die Verbleibenden noch schwerer wird und irgendwann gar nicht mehr zu (er)tragen ist. Viele Vereine und Gruppen funktionieren nur, weil einige Wenige Verantwortung übernehmen. Oft habe ich den Eindruck, dass jede für sich bangt: „Hoffentlich geht nicht noch eine“.

Marius Koepchen: Jetzt haben wir schon eine Menge behandelt. Uns interessiert auch besonders die Sorgearbeit, diese Carearbeit, die vor Ort gemacht wird. Wie sehen Sie die strukturelle Rolle von Carearbeit im Strukturwandelprozess? Was sind die zentralen Dinge, die gemacht werden, die so wichtig sind und die wegfallen würden, wenn Frauen gehen? Beispielsweise in Bezug auf bezahlte, wie auch unbezahlte Sorgearbeit.  

Fränzi Straßberger: Wer mehr Sorgearbeit leistet, hat weniger Zeit für Engagement. Also müssen wir sie gerechter verteilen. Es muss nicht immer fifty-fifty sein, aber fair und zur Lebensphase passend. Auch hier sind alle gefordert. Vor allem in der politischen Teilhabe von Frauen haben die ländlichen Kommunen noch viel Luft nach oben. Die Rahmenbedingungen sollten so gestaltet sein, dass alle, die sich gesellschaftlich und politisch einbringen wollen, dazu zählt auch der Strukturwandel, dies auch verwirklichen können. Leider muss man sich ein politisches Engagement nicht nur finanziell, sondern auch zeitlich leisten können. Das Thema „effiziente Sitzungskultur“ sollte viel stärker in den Fokus rücken. Statt langer Redebeiträge und dem mehrfachen Wiederholen des zuvor Gesagtem, könnte man zur Ressourcenschonung aller, auch schneller zum Punkt kommen. 

Unbezahlte Sorgearbeit muss fairer aufgeteilt werden. Dazu braucht es auch mehr Männer, die aktiv für neue Modelle eintreten. Das kann die bereits angesprochene Teilzeit sein, die Inanspruchnahme von mehr als den zwei sogenannten „Vätermonaten“, Führung in Teilzeit oder auch der „politikfreie Sonntag“. Mobiles Arbeiten kann gerade im ländlichen Raum Wegezeiten massiv verkürzen und Vereinbarkeit erleichtern. Das geht natürlichen nicht in allen Berufsfeldern, aber mittlerweile in vielen. Leider müssen wir auch nach wie vor über die ungleiche Entlohnung von sogenannten weiblichen und männlichen Berufen sprechen. Hinzu kommt die deutlich geringere Tarifbindung im Osten. Freie Träger konkurrieren mit dem öffentlichen Dienst um Fachkräfte, sodass sich das Personalkarussell immer schneller dreht. Das geht an die Substanz der Organisationen, des Personals und letztlich aller, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind.

Marius Koepchen: Haben Sie abschließend noch etwas zu den gleichstellungspolitischen Sichtweisen auf die Lausitz zu ergänzen? 

Fränzi Straßberger: Wenn ich mir was wünschen könnte: Wir brauchen hier viel mehr Struktur, Gleichstellungsinfrastruktur in den ländlichen Räumen. Die Gleichstellung der Geschlechter braucht hauptamtliche, mit Ressourcen ausgestattete Akteur*innen, die diese stetig einfordern, fördern und voranbringen. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die fast jeden Lebensbereich mehr oder weniger betrifft. Das ist im Ehrenamt nicht leistbar. Wir müssen neue Wege der Zusammenarbeit ausprobieren und uns mit den unterschiedlichen Ebenen, Kommunen - Land - Bund - EU, gut verzahnen.

Demokratie und Gleichstellung gehören zusammen.

Marius Koepchen: Das ist doch mal ein guter Vorschlag. Vielen Dank für das Gespräch!

 

Fränzi Straßberger...

... ist die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bautzen. https://www.bautzen.de/adressen/gleichstellungs-und-frauenbeauftragte-strassberger-819

 

Paula Walk, Marius Koepchen, Johannes Probst und Josephine Semb...

 ... die Autorinnen des Interviews, sind Wissenschaftler*innen an der Europa Universität Flensburg und der TU Berlin. Sie beschäftigen sich mit der nachhaltigen Transformation des Energiesystems. Dabei legen sie in ihrer Forschung insbesondere einen Fokus darauf, wie diese Transformation einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit leisten kann.

Ein Buch wie eine Exkursion

"Für Natur sorgen?" Dilemmata feministischer Positionierungen zwischen Sorge- und Herrschaftsverhältnissen 

Eine Rezension von Dr. Julia Gabler

Sabine Hofmeister (Universität Lüneburg) und Tanja Mölders (Universität Freiburg) haben einen Ergebnis- und Diskussionsband zu dem gemeinsam geleiteten Forschungsprojekt: „Caring for natures? Geschlechterperspektiven auf (Vor)Sorge im Umgang mit Natur/en – Dilemmata feministischer Positionierungen zwischen Sorge- und Herrschaftsverhältnissen“ herausgegeben. Der variantenreiche Titel ist Programm und verweist bereits auf die zu problematisierenden Mehrebenen und Pluralität(en) der Konzepte gesellschaftlicher Natur- und Geschlechterverhältnisse. 

Ich nahm das Buch zur Hand, um die Verbindung sozialwissenschaftlicher Fragen und Landschaftsgestaltung im Bereich Bergbaufolgelandschaften zu recherchieren. In den neuen Landschaften kommt es immer wieder zu Rutschungen. Rutschungen sind Massenbewegungen eines Schlammstroms, die durch ungünstige Befeuchtung, z.B. Grundwasseranstieg, ausgelöst werden und besonders im Bereich bergbausanierter Natur(nahe)räume vorkommen können. Dort entsteht eine neue Wildnis unberührbarer Natur, die nicht mehr betreten werden darf, weil sie zu riskant und lebensgefährlich ist. Hierin, so erfahre ich eindrücklich in den empirisch wie theoretisch begründeten Argumentationen, ist auch eine geschlechterspezifische Lesart verborgen. Natur, als kulturgeschichtlich weiblich konnotiert, ist gleichermaßen Zugriffsmuster auf Natur als Aneignungsraum für gesellschaftliche Ressourcengewinnung und Widerhall für Geschlechtszuschreibungen Natur/das Weibliche – Zivilisation/das Männliche als Objekt-Subjekt-Beziehung. Das Konzept der Sorge wie das der Natur ist (nicht nur) in der Geschlechterforschung „heikel“ und „brisant“ (S. 10). In der Zuspitzung auf die „Frau-und-Natur-Frage“ betreten die Forscherinnen „umstrittenes und umkämpftes Terrain“ (ebd. f.). Während seit über 30 Jahren aus feministischer Wissenschaftsperspektive gefordert wird, die sozial-ökologische Krise müsse auch als Krise der Geschlechterbeziehungen analysiert werden, findet die Berücksichtigung von Macht- und Herrschaftsfragen in der Sozialen Ökologie seltener statt. Für die analytische Verknüpfung kündigen die Herausgeberinnen in der Einleitung erwartbare „Uneindeutigkeit(en) und Unentschiedenheit(en)“ (S. 12) sowie Unbestimmtheit (S. 14) an, die zu Irritationen führen. Hier darf die Leserin gespannt sein, ob das Feld begrifflicher Unschärfen am Ende des Bandes klarer gezeichnet ist und es gelingt, den avisierten transformativen Wissenschaftsanspruch (S.10) umzusetzen.

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Der Sammelband in guter Gesellschaft: Für Natur sorgen? Dilemmata feministischer Positionierungen zwischen Sorge- und Herrschaftverhältnissen. Sabine Hofmeister und Tanja Möldners (Hrsg.). Hier mit einem Beitrag  von Inga Haese zur Care-Ökonomien im ländlichen Raum am Beispiel eines ostdeutschen Gemeinschaftsprojektes - erschienen in der sub/Urban.

Foto: Julia Gabler

Die Herausforderungen nehmen nicht ab, wenn sich die Autorinnen dem Forschungsgegenstand – dem Naturschutz als gesellschaftlicher Ausdruck der Sorge um Natur – zuwenden. Für mich als Leserin sind die zahlreichen Verweise und vielfältig eingeführten Begriffe, z.B. Naturschutz, Prozessschutz, Schutznatur, Schutzkonzept, erneut begriffliches Dickicht, das durchschritten werden muss, um den Ertrag für die Geschlechter/Sorge-Debatten ersichtlich zu machen. 

Der Band erscheint selbst wie die Wildnis, die er zu durchschreiten versucht. Als würde ich Teil einer Exkursion sein. Licht fällt ins Begriffsgestrüpp, wenn die „Prozess“-Kategorie ins Zentrum gerückt wird. Naturschutz als Untersuchungsgegenstand wird zur analytischen Leiter, um die eingeschriebenen gesellschaftlichen Normen und Praktiken im Status der Natur als Sorge- und schutzbedürftiges „Gegenüber“ zu re- und dekonstruieren: Von der statisch, objekthaften Natur bis zur dynamischen, veränderlichen und aktiven Natur im Prozessschutzkonzept, die, wenn man so will, Raum erhält, ihren eigenen Entwicklungspfaden zu folgen. Hier vermitteln sich mir augenblicklich die Verwicklungen zu den Machtverhältnissen in Geschlechterbeziehungen. Der Umgang mit Natur/en ist damit unverkennbar politisch; ihre Institutionalisierung demnach folgenreich. 

Das Eingangskapitel legt nahe, dass die „Irritationen“ oder besser Dimensionen von Care-Begrifflichkeiten und Praktiken (wissenschaftliche, lebensweltliche, institutionelle und politische Praxis) Zugang zu unterschiedlichen normativen Verwendungen, gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen sowie sozialökologischen Anschlüssen ermöglichen könnten. Wie das gelingt und welche Pfade der Operationalisierung am empirischen Fall gelingen, zeigen die nachfolgenden Aufsätze. Sehr spannend und erhellend durchleuchtet Christine Katz den Stellenwert von „Funktionalität, Störung/Dynamik von Biodiversität“ (S. 69) in zahlreichen Fachartikeln der Ökologie zur Biodiversitätsforschung und analysiert die eingeschriebenen (geschlechtlich konnotierten) Ordnungen mit Blick auf Bewertungsmuster. Rationalisierungen und Zuweisung von Schutzbedürftigkeit ökologischer Komponenten, so zeigt der Aufsatz von Katz eindrücklich, obliegen selbst Zeitlichkeiten, Kontexten, Spezifizität und Normativität (S. 62) von Akteuren und Aktivitäten. 

Trotz der schwierigen Aufgabe der Operationalisierung von geschlechtertheoretischen Kategorien für die Untersuchung von Natur- und Geschlechterverhältnissen bietet das Care-Konzept Zugang zur Untersuchung eines multifaktoriellen Sozialverhältnisses. Tanja Mölders entwickelt in ihrem Aufsatz ‚Wildnis‘ als gesellschaftliches Raumverhältnis eine differenzierte, empirisch geleitete Interpretation, wie Naturschutz als gesellschaftliche Praktik, die sich auf das zukünftig Werdende (S. 214) konzentriert, gelingen kann. Sie zeigt wie im Naturschutz die Hierarchisierung von Naturen – der wilden, er gezähmten, der funktionalen – sowie die Naturalisierungen von Subjekten praktiziert wird. Mölders macht rationale Unterscheidungen sichtbar und unterstreicht deren Charakter als Entscheidungen, die wir – im Prozess – korrigieren, mindestens aber üerprüfen können.

 

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 Glossar der Fürsorge für Natur/en - Jan Lindenberg (Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde)

Foto: Julia Gabler

Insgesamt überzeugt der Herausgeberband und lädt ein, den Literaturverweisen nachzuspüren und das junge Feld feministischer Ansätze im sozialökologischen Bereich aufzuschließen. Auch wenn es sprachlich an manchen Stellen schwieriges Gelände ist, das man erstmal bereit sein muss zu durchqueren, gleicht der Sammelband inhaltlich wie formal auch einer Exkursion: anstrengend, erlebnisreich und auch gefährlich, abenteuerlich, spannend und erschöpfend. Am Ende weiß man, was man getan hat. Das Schöne ist: Die Leserin kann - und das habe ich empirisch erprobt - verschnaufen, das Buch hinlegen und voller Neugier an/in den Ort des Geschehens gehen und Naturen erkunden und wann immer sie wieder bei Kräften ist, die Lektüre fortsetzen. 

 Herausgeberinnen und Verlag...

... Sabine Hofmeister und Tanja Mölders, 2021, Verlag Barbara Budrich

Dr. Julia Gabler...

… ist Vertretungsprofessorin im Master Management des Sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. Als Direktorin des TRAWOS Instituts beschäftigt sie sich unter anderem mit den Verbleibchancen qualifizierter Frauen in Ostsachsen sowie dem Strukturwandel in der Lausitz

 

Der bewegende Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf

Eine Einladung von Heike Merten-Hommel

 

Als vor zehn Monaten das Programm des Lausitz-Festivals erdacht wurde, war mir noch nicht bewusst, dass sich im Jahr 2023 Brigitte Reimanns Geburts- und Todesjahr rundet. Es ist mein zweites Jahr als Dramaturgin beim Lausitz Festival und diese Art von Jubiläums- bzw. Jahrestags-Dramaturgie war und ist eigentlich nicht mein Ding. Aber als wir uns im Programm-Team des Lausitz Festivals über bedeutende Frauen der Region austauschten, über Frauenbilder im Wandel, spazierte ich am häuslichen Bücherregal entlang und zog den 1993 zum ersten Mal veröffentlichten Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf hervor. Der Griff hat sich gelohnt, umso mehr, als kein Staubkörnchen auf dem Geschriebenen zu liegen scheint. Darüber nachdenkend, was es ist, das Einen – neben der persönlichen Frauenfreundschaft – so anrührt, komme ich auf den Anspruch, den beiden Frauen als Künstlerinnen und Staatsbürgerinnen vertraten, und dem sie ihr Schreiben unterwarfen: sich unmittelbar an der Gestaltung der Lebenswirklichkeit zu beteiligen, im Großen und Ganzen.
Ganz und gar. Ihre Sehnsucht nach einem unentfremdeten, prallen und sinnerfüllten Dasein schloss die Beschäftigung mit den politischen Bewegungen einer Epoche ein, mit Folgen für das eigene Tun und Handeln. So gesehen waren ihrer beider Leben spannungsvolle Selbstversuche, bei vollem Risiko.

 »Sei gegrüßt und lebe«- eine Frauenfreundschaft

Über zehn Jahre lang, zwischen 1963 und 1973, befanden sich die Schriftstellerinnen Christa Wolf und Brigitte Reimann in einem intensiven Austausch, der im Laufe der Zeit an Unmittelbarkeit, Offenheit und gegenseitiger Wertschätzung gewann. Brigitte Reimann hatte trotz eigener Veröffentlichungen mit Unterlegenheitsgefühlen der gebildeten, literarisch versierten und deshalb so sehr verehrten Schriftstellerkollegin Wolf gegenüber zu kämpfen und verstieg sich noch im Jahr 1963 in die Fehlannahme, »die Wolf«, ihre »beste Feindin«, hätte ihr einen Preis vermasselt. Später fand sie in »Christa« eine Freundin fürs Leben, die ihr – über manche Krisen hinweg – bis zu ihrem frühen Tod die Treue hielt.
 
»Ich hab oft gesagt, dass es über unsere Zeit leider später mal keine Briefliteratur geben wird, weil kein Mensch mehr Briefe schreibt, aus mehreren Gründen. Auch ich nicht, oder nur selten. Mitteilungen, Anfragen, Proteste – das ja. Aber einen richtigen Brief? Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen? Und jetzt hast Du mir einfach einen geschrieben, und das hat mir sehr wohlgetan.«
 
Mit diesen Worten reagierte Christa Wolf in neuer Qualität auf die sporadischen, kindlich werbenden Briefofferten ihrer jüngeren Kollegin; sie entschied sich gleichsam dafür, Vertrauen gegen Vertrauen zu setzen, trotz der angedeuteten Möglichkeit des Missbrauchs (auch »von außen«…). Als Mitglieder einer Schriftstellerdelegation auf einer Moskau-Reise 1963 waren die Frauen näher miteinander bekannt geworden. Ihre im gleichen Jahr veröffentlichten Geteiltes-Deutschland-Erzählungen, Wolfs »Der geteilte Himmel« und Reimanns »Geschwister«, hatten sie sich bereits als Schwestern im Geiste ausgewiesen, die sich an den gleichen drängenden gesellschaftlichen Fragen abarbeiteten und ihren Traum von einem gerechteren Staat, einem Alternativmodell zu allen bisherigen Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens, nicht aufgeben wollten. Und geradezu paradoxerweise gerieten sie, die diesem Versuch nahezu ihr ganzes Leben und Schreiben widmeten, zunehmend in Widerspruch zu denen, die das Land regierten. Spätestens nach dem berüchtigten 11. (»Kahlschlag«-) Plenum des ZK der SED im Jahre 1965, mit Folgen für die kulturelle Landschaft der DDR, erfuhren auch sie ganz unmittelbar, dass die Durchsetzung des Anspruchs auf Freiheit im Denken und Freiheit in der Kunst entweder durch Zensur oder Nichtveröffentlichung auf direkte oder aber auf subtile Weise von den Kulturpolitikern der DDR und der Regierung blockiert oder gar geahndet wurde.

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Brigitte Reimann und Christa Wolf - ©bpk-Bildagentur | ©Akademie der Künste, Berlin

Schließlich begruben die sowjetischen Panzer in der ČSSR auch Christas und Brigittes letzte Hoffnung, auf diesem Weg zum Ziel zu kommen. Das Ziel selbst jedoch verloren sie nicht aus den Augen. Der Briefwechsel offenbart, mit welcher Kraft und Ausdauer sie trotz erheblicher Schikanen- und Behinderungen von offizieller Seite gegen das Gefühl der Resignation und Ohnmacht in der bleiernen Zeit ankämpften. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen, am Prozess der Gestaltung der jungen Demokratie mitzuwirken, und weigerten sich, das Heft aus der Hand zu geben und das Land Diktatoren und fragwürdigen Politik-Strategen zu überlassen.

»Wann, zum Teufel, ist der richtige Zeitpunkt, auf einen offenen Brunnen hinzuweisen?«
fragte Brigitte Reimann im Januar 1969 mit verzweifeltem Sarkasmus ihre Freundin Christa Wolf, angeödet von dem Verweis der Kulturpolitiker, die Menschen wären noch nicht so weit und man könne es sich »noch« nicht leisten, diesen oder jenen Missstand öffentlich zu benennen.

Während ihrer zehnjährigen Freundschaft debattierten die reflektierte Christa Wolf und die exzentrische und spontane Brigitte Reimann in Briefen und Tagebüchern über Arbeit und Leben, über Kunst und Alltag in der DDR. Sie vertrauten einander ihre höchst unterschiedlichen Auffassungen von Liebe und Partnerschaft an. Und sie machten sich ihre eigenen Gedanken über Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit.

»Ist Dir übrigens schon aufgefallen, dass unsere Gesellschaft dabei ist, eine neue Arbeitsteilung einzuführen: Die Männer das Reale, Mathematik, Naturwissenschaft, und damit zusammenhängend eine gewisse Verachtung solcher Mystifikationen wie Kunst und Literatur, die nun wieder die Frauen, die ja ›immer Probleme haben‹, die ja immer ›ihr Herz ausschütten‹ wollen, für sich mit Beschlag belegen. In Betrieben, wo alle gleichzeitig Schichtschluss haben und die Frauen danach noch eine zusätzliche Belastung erwartet, sind sie es in der Mehrzahl, die zu ›Dichterlesungen‹ kommen. Schöne Aussichten, wenn alles, was das wirkliche, konkrete Leben betrifft, die Beziehungen zwischen den Menschen und das Interesse dafür, als unwissenschaftliche, unsachliche Gebiete von den Männern weit weggeschoben werden. Auf welche Weise sich in diesen ganzen Dingen in Zukunft echte Fortschritte erzielen lassen, wird mir immer fragwürdiger, je mehr wir durch materielle Erleichterungen (die natürlich nötig sind) oberflächlich befriedigen, ohne eine wirkliche Problematik zu sehen und öffentlich zu diskutieren. Interessiert Dich das alles überhaupt?«

In der Art nahm Christa Wolf ihre todkranke Freundin in Anspruch, während sie an ihrem Buch »Selbstversuch« arbeitete. Und traf mit dieser Frage bei Reimann, die sich mit ihrem vierten Mann in einer handfesten Ehekrise befand, in Schwarze:

»Doch, ich bin – Schmerzen hin oder her – durchaus aufgelegt, über das Verhältnis Mann – Frau nachzudenken. Vermutlich kommt am Ende so ein Satz heraus: Schade, dass keine nette schwarze Katze neben mir liegt – Katze ist besser als Mann.«

Und gesteht im Folgenden:

»Wenn ich mich heute mit der Geschlechterfrage befassen müsste, würde ich einer – wie mir scheint – wachsenden Ehe-Unlust der Frauen nachspüren. Freilich bedürfte es dazu exakter Analysen.«

Diese anzustellen blieb Brigitte Reimann keine Zeit mehr. Die lebensgierige Frau starb im Februar 1973, noch nicht vierzigjährig. Christa Wolf hatte Brigitte bis zu deren Ende voller Liebe aufopfernd begleitet. Dies tat sie auch für andere Menschen, die sich krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen in Schwierigkeiten befanden; denn – das sei hier angemerkt – auch im Hinblick auf Menschlichkeit und soziale Kompetenz war Christa Wolf außergewöhnlich…
In den vier Lebensjahrzehnten, die ihr verblieben, konnte Christa Wolf ein umfangreiches literarisches Œuvre schaffen, engagierte sich als Künstlerin und Mensch für die Belange der Gesellschaft, egal, ob sie dabei Publikum hatte oder nicht. Sie blieb auch nach dem Fall der Mauer eine wesentliche, nicht zu korrumpierende kritische Stimme, die weit über die ostdeutschen Länder hinausreichte.

Der Briefwechsel, neu herausgegeben 2016 vom Aufbau Verlag, ist ein unschätzbar wertvolles Zeitdokument und zugleich das kostbare und berührende Zeugnis einer außergewöhnlichen Frauenfreundschaft.

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Fanny Staffa und Christine Hoppe als Christa Wolf und Brigitte Reimann - © Merten-Hommel

Dass viele darin aufgeworfene Fragen bis heute nichts an Relevanz eingebüßt haben, macht die für das Lausitz Festival erarbeitete Lesung deutlich. Christine Hoppe (Christa Wolf) und Fanny Staffa (Brigitte Reimann), zwei Protagonistinnen des Staatsschauspiels Dresden, haben sich unter der Leitung von Festivaldramaturgin Heike Merten-Hommel mit den Briefen befasst. 

 

Remembering the Divas: Noch mehr Weibhaftiges beim Lausitz Festival

Im Rahmen des diesjährigen Lausitz Festivals gewinnt unser Inspirationswort »Hereinforderung“ auch durch das exemplarische Leben und Wirken weiterer bedeutender Künstlerinnen bzw. Kunstfiguren Bedeutung. Die Sichtweisen und das Wirken dieser »Role Models« in der Welt und in der Kunst werden aus verschiedenen Perspektiven und auf unterschiedlichen künstlerischen Ebenen verhandelt.

  • Die junge deutsche Regisseurin Anna Bergmann unterzieht mit ihrer Inszenierung der modernen Kammeroper »Julie« von Philippe Boesmans (2005) das Strindberg‘sche Narrativ zur unangepassten Grafentochter »Fräulein Julie“ einer kritischen Hinterfragung. Seit der Spielzeit 2018/2019 ist Anna Bergmann die erste Schauspieldirektorin in der Geschichte des Staatstheaters Karlsruhe. Überregionale und internationale Aufmerksamkeit erweckte ihre Entscheidung, zum Beginn ihrer Direktion nur Frauen auf Regiepositionen zu engagieren. Aus ihrer Absicht, auf die Unterrepräsentation der Frauen in Führungspositionen im deutschen Theaterbetrieb aufmerksam zu machen und dabei spannende weibliche Regiehandschriften zu profilieren, macht sie keinen Hehl. 6., 7. und 8.9.2023, Neues Theater Senftenberg
  • »Remembering the Divas« lautet der selbst erteilte Auftrag Kaushiki Chakrabortys, einer Ausnahmekünstlerin, die aus Indien zum Festival anreist. Die weltbekannte Sängerin würdigt mit der Rekonstruktion und dem Gesang von Werken dreier herausragender »Ahnfrauen« indischer Sangeskunst, Angelina Yeoward, Begum Akhtar und M. S. Subbulakshmi, die Leistung weiblicher Künstlerinnen in der indischen Gesellschaft. Die Europa-Premiere von 30.8.2023 „Indische Diven”, Filmtheater Weltspiegel, Cottbus
  • Die Novelle »Fräulein Else«, eine beinahe exakt 100 Jahre alte Fallstudie aus der Feder des Wiener Arztes, Gesellschaftautors und Salonlöwen Arthur Schnitzler, kann heute durchaus als Reflex auf die MeToo-Debatte gelesen werden. Schauspielerin Sonja Beißwenger verleiht der jungen Rechtsanwaltstochter, die in erpresserischer Absicht Opfer sexueller Nötigung wird, Stimme und Ausdruck, Hanjo Kesting kommentiert die Erzählung kenntnisreich.
    1.9.2023 im Schloss Branitz, Cottbus.
  • »Sauermehlsuppe« – Drei Erzählungen von der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk aus den neunziger Jahren reflektieren die Veränderung der Lebenswirklichkeiten von Bewohner:innen des Grenzgebietes Polen-Tschechien; diese läuten – unter anderem aus der Perspektive eines Zimmermädchens im »Hotel Capital« – das neue Jahrtausend ein.
    Die aus Film und Fernsehen bekannte Schauspielerin Claudia Michelsen hat diese Matinee eigens für das Lausitz Festival vorbereitet.
    27.8.2023, 11:00 Sorbisches Museum, Bautzen

 

Heike Merten-Hommel... 

... Jahrgang 1961, geboren in Berlin (Ost), war an großen Theaterbühnen als Dramaturgin und seit 1993 als Chefdramaturgin tätig, unter anderem am Staatsschauspiel Dresden, am Schauspiel Leipzig, Theater Freiburg, Schauspielhaus Graz und bis 2020 am Wiener Volkstheater. Seit 2020 lebt sie in Zittau und arbeitet als Dramaturgin beim Lausitz Festival.

L wie Lausitzerinnen-Loser-Love

Seit dem Stammtisch der SAS zu und mit Frauen in der Lausitz am 3. Mai 2023 sind nun schon viele Wochen vergangen. Die Aufregung im Vorfeld wie im Nachgang ist verflogen und dies scheint der richtige Moment, um nochmal zurückzuschauen. Ich war nicht nur auf dem Podium involviert. Vier Wochen nach dem Stammtisch habe ich Franziska Stölzel angeschrieben.

Hier lest ihr unseren Mail-Austausch. 


Julia: Wir haben uns ja im Vorfeld des Stammtisches schon ausgetauscht, wie wir die Umsetzung und Ankündigung des Revierstammtisches "Frauen in der Lausitz" bewerten. Zum Beispiel haben wir viel gerätselt, warum der Flyer das Frauensymbol mit einem L im Kreis ziert: Wer nicht nur an „L wie Lausitz“ denkt, sondern wie ich schnell "L wie LOSER" liest - die Geste des Daumen und Zeigefinger Ls vor der Stirn ist mir längst durch jugendliche Kinder in meinem Umfeld gezeigt worden – fühlt sich naja, unwohl. Mir wurde zwar gesagt, dass meine Interpretation ein bisschen "wild" sei. Hallooo! Ich bin wild! Hätten wir das nicht mitbestimmen sollen, wie der Flyer aussieht? Insbesondere, weil wir das Thema ja in die SAS getragen haben und mit den Lausitzbeauftragten bereits im Rahmen des Bündnisses Lausitzer Gleichstellungsbeauftragten zusammengekommen sind. Franzi, du warst im Vorfeld eingebunden: Wie kam es dazu?

Franzi: Ich habe mich letztes Jahr gezielt dazu entschlossen, die SAS darauf hinzuweisen, dass ihre Podien bei den Stammtischen aber auch ihre Sichtbarkeiten im Web und auf Social Media nicht divers sind. Daher habe ich nach einem Stammtisch im Herbst 2022 mit den Verantwortlichen über die fehlende Sichtbarkeit von Frauen und jungen Menschen – allgemein Diversität – gesprochen. Daraufhin waren wir in Kontakt zu einem Stammtisch in Weißwasser zum Thema „Frauen in der Lausitz“.

Julia: Was hast du befürchtet oder erwartet im Vorfeld?

Franzi: Ich habe mit der SAS bereits im Januar begonnen den Stammtisch zu planen. Während ich das komplette Format in Frage stellte und die Podiumsgäste nach dem Themenschwerpunkt junge Frauen aus der Lausitz ausrichtete, konnte die SAS sich damit wenig anfreunden. Ich war sicher, für junge Frauen brauchen wir etwas anderes: informativ, interaktiv, Augenhöhe. Das sehe ich nicht, wenn es nur ein Podium gibt. Einen wirklichen Nenner haben wir leider nicht gefunden, daher habe ich im Vorfeld die größten Bauchschmerzen gehabt. In der Ankündigung hieß es „Wie kann man den Wirtschaftsfaktor Frau optimieren“. Das war genau das Gegenteil von dem, was ich mir vorgestellt habe. Ich will nicht optimiert werden. Ich will so sein dürfen, wie ich bin, ernst genommen werden und sichtbar sein, Verantwortung übernehmen dürfen.

Julia: Oje, wie hast du dann das Podium wahrgenommen?

Franzi: Die Podiumsgäste waren Frauen in sehr hohen Positionen – davon nur zwei aus der Lausitz. Eine Lausitzer Lebenswirklichkeit von jungen engagierten Frauen mit durchschnittlichem Arbeitsalltag, Einkommen und dazugehörigen Lebensbedingungen war nicht gegeben.

Julia: Darf ich dich fragen, wie du zählst :)?

Neben Dorit Baumeister aus Hoyerswerda und Bauamtsleiterin in Weißwasser, Ines Briesowsky-Graf, Vizepräsidentin der Handwerkskammer und Unternehmerin aus Löbau, war ich ja auch aus der Lausitz da. Auch wenn ich nicht gebürtig von hier bin. Das stört mich schon lange, dass man qua Geburtssiegel zur Lausitzerin wird. Oder wie meinst du das? Dass die Staatssekretärin Barbara Meyer und die Chefin der Sächsischen Aufbaubank, Karin Leonhardt, gekommen sind, fand ich eher beeindruckend. Mich hatte anfangs irritiert, dass diese beiden Nicht-Lausitzerinnen auf der öffentlichen Ankündigung standen. Das wurde dann aber korrigiert, als die anderen Gästinnen feststanden. Zu spät für meinen Geschmack. Sehr ungünstig kommuniziert. Huch, jetzt habe ich glatt Jörg Mühlberg, Geschäftsführer der SAS, vergessen, den einzigen Mann in der Runde! Spricht auch Bände, oder?

Franzi: Ein pinkes Werbebild für den „Frauenstammtisch“ hat bereits im Vorfeld Klischees bedient und Schubladen gefüllt. Männer haben sich daher von dem Format nicht angesprochen gefühlt. „Es ist ein Frauenstammtisch“ habe ich oft gehört, weil die Werbung suggeriert hat: Ihr Männer seid nicht eigeladen. Das war fatal – gerade Männer brauchen wir für Gendergerechtigkeit, denn sie sind die, die Gremien besetzen und Entscheidungen fällen. Außerdem möchten wir den Männern zeigen, dass wir gemeinsam arbeiten und nicht ihnen etwas wegnehmen wollen.

SAS Stammtisch

© Sächsische Agentur für Strukturentwicklung GmbH

 

Julia: Und wie empfandest du die Stimmung in der TELUX?

Franzi: Angekommen in der TELUX habe ich mich gefreut, dass so viele Frauen aus unserem Netzwerk FwieKraft von weit hergekommen sind, um mit mir zu argumentieren, zu kämpfen und vor allem zu widersprechen. Das hat mich wirklich supportet.

Julia: Du hast auch das Podium inhaltlich mitgestaltet?

Franzi: Das Podiumsgespräch war nicht ansatzweise von den Fragen geleitet, die ich vorbereitet hatte. Es ging hauptsächlich um die weiblichen Podiumsgäste in hohen Positionen, wie sie diese erreicht und sich erkämpft haben. Es wurde langweilig für die Frauen im Saal, denn sie kannten die Floskeln. Der O-Ton: Junge Frauen müssen sich eben durchbeißen, den Respekt als Frau muss man sich verdienen, Männer(-Bünde) sind nicht zu stark - Frauen müssen sich nur stärker einbringen. Für viele im Saal klang das nach unter- und einordnen. Das hat uns alle wütend gemacht und so kippte die Stimmung und spaltete die Gruppen. In die der aktiven und jungen Engagierten und in die der Frauen mit Erfahrung im Business und dem dazugehörigen Biss.

Julia: Mit welchem Gefühl bist du rausgegangen?

Franzi: Auf der einen Seite war ich enttäuscht von der geringen Flexibilität der Veranstaltung. Sowohl von Seiten der Veranstaltenden als auch von den Gästen auf dem Podium und auch im Publikum. Einige Frauen haben so hart gekämpft, sich sichtbar gemacht, auf die Probleme aufmerksam gemacht und sich zu Wort gemeldet. Viele wurden kleingeredet und nicht ernst genommen. Das ist problematisch.
Andererseits haben wir zusammen gekämpft, wir waren eine Gemeinschaft – „die FwieKraft Netzwerker:innen“. Das hat mich dankbar, zufrieden und positiv gestimmt.
Die Diskussion hat gezeigt, dass wir innerhalb der Geschlechter auch enorme Generationsunterschiede überwinden müssen. Hier war ich sehr froh, dass der Raum geschaffen wurde, miteinander zu kommunizieren und dass jede*r offen sagen konnte, was eine*n bewegt.

Julia: Was wäre dir wichtig fürs nächste Mal?

Franzi: Es war die erste Veranstaltung außerhalb unserer „Aktivist:innen und Akademiker:innen Blase“. Das Thema auf den Tisch von Akteur:innen zu bekommen war schonmal ein erster Schritt.
Ich wünsche mir, dass nicht nur Frauen auf die Podien dürfen, die ihr Lebenswerk bereits erreicht haben und verteidigen können. Ich wollte für die jungen Frauen Raum frei machen, damit sie ihre Bedürfnisse schildern können. Junge Frauen und Mädchen, die unsere Zukunft sein werden, die, die noch nicht mal 20 Jahre jung sind.
Ich wünsche mir Akzeptanz für andere Lebenswirklichkeiten und Toleranz im Strukturwandel, diese als ebenso wertvoll und nützlich anzuerkennen. Mit nützlich meine ich vor allem, dass die Zukunftsvisionen junger Menschen sich verändert haben und Verdienst durch Leistung in den Hintergrund rückt. Wir sind nicht mehr bereit, alles für den Job hintenanzustellen. Ebenso: Überstunden, Care Arbeit und Engagement sind keine Selbstverständlichkeit, das ist Zusatz! Diese Themen anzuerkennen ist ein erster Schritt für nachhaltigen Wandel und Transformation.

Julia: Danke Franziska! Danke, dass du da bist und den Mut hast, dich öffentlich einzubringen und ein sooo wichtiges Vorbild für viele Mädchen zu sein!

Die nächste Gelegenheit Franziska zu hören ist in der Diskussion mit Franziska Schubert und Joachim Ragnitz am 21. September beim Muskauer Salon Talk: Frauen und Männer im Osten: Wer macht die Arbeit, wer kriegt die Anerkennung?Frauen und Männer im Osten: Wer macht die Arbeit, wer kriegt die Anerkennung? 

 

JULIA GABLER...

... lehrt als Vertretungsprofessorin im Master-Studiengang Management Sozialen Wandels und forscht am TRAWOS-Institut der HSZG zur ländlichen Gesellschaft. Sie lebt in Görlitz und forscht u. a. zu den Verbleibchancen qualifizierter Frauen in Ostsachsen sowie zum Strukturwandel in der Lausitz. Als Mitbegründerin der Plattform F wie Kraft versucht sie, hier auf der Website, in Gremien und Wissenschaft die Sichtbarkeit von und Verantwortungsräume für Frauen und Geschlechtergerechtigkeit in der Lausitz zu stärken.

FRANZISKA STÖLZEL...

... ist Wissenschaftlerin für Wandel- und Transformationsprozesse. Obwohl es sie nach ihrem Studium zunächst nach Südamerika gezogen hat, war für sie immer klar, dass sie zurück in die Lausitz möchte. Aktuell lebt sie in Weißwasser. Sie ist in verschiedenen Projekten aktiv, wie bspw. dem Soziokulturellen Zentrum Telux. Nicht zu vergessen war sie maßgeblich daran beteiligt, den Lausitzerinnen Frauenstammtisch zu initiieren.

 

 

Jetzt ist die Zeit, mitzumachen!

Tief in Brandenburg tut sich etwas. Immer mehr Frauen aus der Region finden zusammen. Ein neues Netzwerk entsteht. Am 24. Mai 2023 war es dann so weit: Das erste Treffen des Lausitzer Frauen Netzwerks fand mit über 60 Teilnehmerinnen aus der gesamten Lausitz statt.

 

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Mit diesem Treffen nimmt das Netzwerk nun offiziell seine Arbeit auf. Dabei möchte das Lausitzer Frauen Netzwerk Frauen in der Lausitz zusammenzubringen, um sie und ihre beruflichen Perspektiven zu stärken. Um das zu ermöglichen, brauchen sie vor allem Unterstützung, die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung und die Kraft, die für sie wichtigen Themen in den Fokus zu rücken – und genau das sollen Frauen im Netzwerk finden.

Bei der Auftaktveranstaltung war die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Cottbus, Aline Erdmann, als Rednerin geladen. In ihrem Vortrag sprach sie unter anderem über die Bedeutung von Netzwerken für Frauen in der Arbeitswelt und wie Frauen von solchen Netzwerken profitieren können. Anschließend hatten die anwesenden Frauen die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu kommen, sich kennen zu lernen und sich über ihre verschiedenen Arbeitspositionen zu auszutauschen. Dabei wurde auch über Erwartungen, Erfahrungen und Kenntnisse gesprochen. Schnell wurden neue Kontakte geknüpft und erste Ideen für Kooperationen entstanden. Auch Romy Hoppe, die Gründerin des Netzwerks war beeindruckt von der Stimmung und dem Potenzial, das spürbar war: "Wir sind überzeugt, dass wir gemeinsam eine starke Gemeinschaft aufbauen können, die den Wandel in der Region positiv mitgestaltet."

 

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Um genau das zu erreichen, werden regelmäßig verschiedene Veranstaltungen stattfinden. Dazu sind alle Frauen aus der Lausitz herzlich eingeladen, die Lust haben, sich zu vernetzten, auszutauschen und im Netzwerk zu engagieren. Informationen zum Netzwerk und zu Veranstaltungen sind auf der Website www.lausitz-frauen.de zu finden. 

"Gemeinsam können wir im Lausitzer Frauen Netzwerk wachsen und einen positiven Wandel in der Region vorantreiben. Jetzt ist die Zeit, mitzumachen!" betont Romy Hoppe. 

Wir freuen uns, dass ein neues Netzwerk entstanden ist, dass Frauen in der Lausitz noch mehr Vernetzungsmöglichkeiten und Unterstützung bietet. Also lasst uns zusammenkommen und, wie Romy Hoppe sagt, den Wandel vorantreiben!

Frauen, traut euch!

Ich, Lotte, durfte im April 2023 einem vom LÖBAULEBT e.V. organisierten Netzwerkabend für Rückkehrerinnen beiwohnen. Ich möchte Euch von meinen Eindrücken berichten und habe auch die Intitiatorin Claudia Lang gefragt, was sie antreibt. Viel Spaß beim Lesen!

Zwei Tage ist es her, dass meine Eltern aus Löbau weggezogen sind. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so schnell wieder auf den Weg dorthin machen würde. 

Gemeinsam mit Julia Gabler bin ich beim LÖBAULEBT e.V. eingeladen. An diesem Abend wollen wir mit Frauen (und einem mutigen Mann!) aus Löbau, dem Landkreis, der Lausitz zusammenkommen und darüber sprechen, was Frauen, aber auch junge Menschen brauchen, um in der Lausitz zu bleiben beziehungsweise hierher zurückzukommen. 

Die Frage nach dem Verbleib in der Lausitz stellt sich auch mir immer wieder. Meine Eltern sind vor einigen Jahren bewusst in die Lausitz gezogen. Ich bin später eher durch Zufall hier gelandet – wegen des Studiums. Von Lausitz hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Aber warum sind die anderen Frauen hier? 

Wir sitzen in einem gemütlich eingerichteten großen Raum im Kreis. In der Mitte stehen auf kleinen Tischen Getränke und Snacks. Die Atmosphäre lädt dazu ein, ins Gespräch zu kommen. Die Anwesenden beginnen, von sich zu erzählen. 

„Ich komme von hier.“ „Meine Familie lebt hier.“ „Meine Eltern haben einen Hof, den ich irgendwann übernehmen werde.“

Von hier kommen, die eigenen Wurzeln hier haben, geliebte Menschen, die hier wohnen, die Region als Teil der eigenen Geschichte. Die Erzählungen ähneln sich. Fast alle der Anwesenden sind hier aufgewachsen und haben somit einen starken Bezug zu der Region.

 
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Gesprächsabend. Foto: Claudia Lang

 Ich frage mich, ob das ausreicht, um hier zu bleiben. Was hält diese Menschen hier? Ich empfinde die Region manchmal als herausfordernd. Es gibt Schwierigkeiten – von denen berichten auch andere. Viele mach(t)en die Erfahrung, dass andere weggingen und sie zurückblieben. Immer wieder müssen Geschäfte schließen. Veränderungen werden teils nur schwer hingenommen, sei es im Hinblick auf Digitalisierung, Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrungen oder auch Frauen in Führungspositionen. „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist mancherorts ein alltägliches Credo.

Obwohl, oder gerade, weil diese Erfahrungen in der Lausitz gemacht wurden und werden, erwecken sie eine Kraft in den Menschen hier. Die anwesenden Frauen sprühen förmlich vor Tatendrang, Visionen und Aktionismus – meist mit einem trotzigen Unterton. 

„Ich will mir nicht immer sagen lassen, dass das nicht geht. Ich will selbst die Erfahrung machen.“ „Wir müssen an uns selbst glauben und die Dinge in die Hand nehmen.“ „Und wenn ich fünf Mal gegen eine Wand renne. Irgendwann komme ich durch. Oder drüber.“

Die Frauen und ihre Erzählungen beeindrucken mich sehr. Für mich übernehmen die Frauen bewusst Vorbildfunktionen – für ihre Kinder, ihre Familien, die Menschen um sie herum. Sie wissen, welche bestehenden Rahmenbedingungen und Strukturen sich ändern müssen, um hier einen Ort zu schaffen, an den Menschen gerne (zurück)kommen. Sie haben gelernt, dass sie Dinge verändern können, sowohl in der Stadt als auch in den Köpfen der Menschen. Hier gibt es noch nicht alles – und das bietet großes Potenzial. 

Am Ende des Abends fühle ich mich überwältigt von den Gesprächen. Es rührt mich, diese Frauen sprechen zu hören und erfahren zu dürfen, wie sie ihren Alltag, die Stadt, die Region gestalten. Uns allen ist bewusst, dass es viele Herausforderungen gibt. Es braucht Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen und in den Köpfen der Menschen. Und diese Frauen, die an diesem Abend zusammengekommen sind, treten jeden Tag dafür ein. Sie packen an. Sie werden laut, wenn sie etwas stört. Sie trauen sich, eigene Erfahrungen zu machen. Sie sind Vorbilder. Sie probieren Dinge aus. Und am allerwichtigsten: Sie sind hier!

Der Abend hat mir gezeigt, dass diese Menschen da sind, und sie haben mir Hoffnung gegeben – für die Frauen, die Menschen, die Lausitz. 

Claudia Lang vom LÖBAULEBT e.V. hat den Abend initiiert. Mich interessiert, wie sie diesen Abend erlebt hat und vor allem, was sie daraus mitnimmt. Lassen wir sie selbst zu Wort kommen.

Haben wir die Kraft, die Dinge zu verändern?

Mit dieser Frage starteten wir in den Gesprächsabend mit Dr. Julia Gabler, Soziologin an der Fakultät Sozialwissenschaften, Studiengang Management Sozialen Wandels. Julia habe ich an einem sehr heißen Sommerabend im Dachgeschoss des Frauenzentrums in Bautzen kennengelernt. Ich habe an einem Mentoringprogramm für Frauen teilgenommen. Der Abend mit Julia hat mich sehr beeindruckt. Und weil ich mir die Mädchen und Frauen für unser Orte-der-Demokratie Projekt zum Themenschwerpunkt gesetzt habe, wusste ich sofort: einen solchen Abend, zum Reflektieren der eigenen Rolle im Sozialen Wandel, der Rolle im Strukturwandel, den Verbleibchancen und Perspektiven von Mädchen und jungen (qualifizierten) Frauen im Landkreis Görlitz, in der Oberlausitz, braucht es auch in Löbau. Also gab es diesen, zum Ende unseres Programms der „Bewegten Wochen“ bei LÖBAULEBT e.V..

Dass uns diese Themen als Gesamtgesellschaft beschäftigen sollten, konnte an diesem Abend leider nicht widergespiegelt werden. Großer Dank geht daher an den einzigen männlichen aktiven und aufmerksamen Zuhörer und Mitdiskutierenden, der sich der Thematik unserer – sich verändernden – Gesellschaftsstrukturen, insbesondere in unserem Landkreis, angenommen hat und sich nach dem Abend motiviert sieht, sich zu beteiligen. Denn die Entwicklung unserer Region geht uns alle etwas an und darf keinesfalls als „Frauenproblem“ deklariert werden, worin sich viele Menschen aus der Verantwortung, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen, herausstehlen.

Wir erleben einen überwiegend durch Männer gemachten Strukturwandel und stehen damit immensen Herausforderungen gegenüber. Wo sind die Frauen, die auch diese Herausforderungen vor Augen haben und sich bewusst sind, dass auch sie selbst von diesen tiefgreifenden Veränderungen betroffen sind? Zum Revierstammtisch „Frauen in der Lausitz“ haben die anwesenden Frauen dieses Bild des aktuellen Wandels bestätigt: Er ist zum größten Teil männergemacht. Und sie bekommen das Gefühl vermittelt, dass sie nicht Teil der Menschen seien, die ebenfalls mit den Konsequenzen des Strukturwandels, des sozialen Wandels und der Digitalisierung zu kämpfen hätten. Nun ja, was bleibt? 

Claudia Land Löbau lebt klein länglich

Claudia Lang. Foto: privat

Der Eindruck eines Generationenkonfliktes. Und der fehlenden Kenntnis der Lebensrealitäten der Menschen und Frauen vor Ort. Wie können diese auch erkannt und wahrgenommen werden? – Liegen doch oft Jahrzehnte zwischen Frauen, die in den entsprechenden Gremien Entscheidungen treffen und denen, die ihren Alltag mit den hier vorherrschenden Rahmenbedingungen bewältigen (müssen). Und deshalb braucht es dringend vielseitige Perspektiven auf die höchst unterschiedlichen Bedürfnisse in diesem gesellschaftlichen Wandel. An welcher Stelle werden also die artikulierten Bedarfe und Forderungen, die Frauen in der Region halten würden, berücksichtigt? Maßnahmen zu deren Umsetzung ergriffen? Oder wo finden die in Julias Studie herausgearbeiteten Instrumente, diesen so mannigfaltigen, tiefgreifenden, strukturellen, sozial und gesellschaftlich gravierend verändernden Konsequenzen zu begegnen, Berücksichtigung? 

Wir haben an diesem Abend angeregt diskutiert, uns viele persönliche Geschichten, Beweggründe für Abwanderungs- und Wiederkommens-Entscheidungen erzählt und hinter die Bedürfnisse dieser Entscheidungen geschaut. Ich persönlich empfand unsere Gesprächsrunde als inspirierend, motivierend, stärkend. Und vor allem mit dem Gefühl im Herzen: weitermachen! Zweifel, die mir in der Arbeit zu diesem herausfordernden Thema begegnen, abzulegen und im Rahmen meiner, mir durch den Verein gegebenen Möglichkeiten, optimistisch nach vorn zu schauen, mein Engagement breitflächig zu nutzen und vor allem auch weiterhin jene Akteure und Akteurinnen zu unterstützen, an deren Strang wir alle ziehen. Vielen Dank an Julia für ihre Prozessbegleitung in der Findung der Frage: Was brauchen wir? Was für eine antreibende, transformative Kraft insbesondere Frauen in sich tragen! Genau dieses starke Gefühl bleibt! 

Doch was können wir tun? 

Mit dieser Frage schließt sich auch der Kreis und die Intention unserer „Bewegten Wochen“. Denn zum Ins-Tun-kommen, Mitreden, Mitgestalten, Beteiligen haben die Programmwochen eingeladen. Hemmschwellen und Hürden abzubauen, in Gemeinschaft und ein Miteinander zu kommen. Kommunikation und Austausch zu befördern, Leben in den Ort zu bringen und nachzumachen, mitzumachen. Frauen, traut euch. Werdet aktiv, organisiert euch. Wir sind da! Besetzt die Gremien in denen „Entscheidungen gemacht werden“, denn ohne ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis wird es immer und immer wieder unberücksichtigt bleiben, was wir und die Region hier brauchen, um gut leben zu können; um uns nicht die Frage stellen zu müssen: Was hält mich hier eigentlich? Und bei der Frage packe ich mir selbst auch ständig an die Nase und reflektiere unentwegt: Bin ich dazu in der Lage, für die Belange vor Ort und der Region zu streiten, Kritik an den vorhandenen destruktiven Strukturen auf entsprechenden Ebenen zu artikulieren oder schaffen es unsere patriarchalen Prägungen weiterhin mich in meinem Potenzial zu hemmen? Fragt euch das! Woher kommt das Gefühl, das wir uns dazu nicht in der Lage sehen? Stichwort Empowerment. Steht in unserer Arbeit weiterhin ganz oben auf der To-Do-Liste!

Dabei blicke ich mit Wohlwollen auf unsere Region, die so einzigartig schön, vielfältig, familiär ist. Und was sie noch ausmacht: Die Oberlausitz produziert immer wieder interessante Felder und Möglichkeiten sich einzubringen. Es gibt so viele wunderbare Initiativen und Organisationen, die sich für eine vielfältige, lebens- und liebenswerte Oberlausitz stark machen. 

Unterstützt diese, schließt euch an und zusammen und b e w e g t was!

 

Danke Claudia! Diesen bewegenden und anregenden Worten habe ich nichts mehr hinzuzufügen.

 

Claudia Lang…

ist Diplom-Sozialarbeiterin/-pädagogin und Löbauerin. Nach 12 Jahren in der Landkreisverwaltung hat sie vergangenes Jahr angefangen, beim LÖBAULEBT e.V. zu arbeiten. Ihre Intention: einen Ort schaffen, den sie als Jugendliche selbst hätte gut gebrauchen können, Präventionsarbeit auf unterschiedlichen Ebenen leisten und niedrigschwellig möglichst für alle erreichbar zu machen. 

Charlotte Pech…

… ist 2019 zum Studium nach Görlitz gekommen. Nach dem Bachelor in Kommunikationspsychologie studiert sie aktuell den Master Management des Sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. 

Wir haben gar keine andere Chance, als Allianzen zu bauen

Ein Samstag auf dem Land, ein Gespräch über die treibende Kraft für die Transformation des ländlichen ostdeutschen Raums, die Frauen. Das LAND.-Magazin hat eine lange Tafel reserviert – und Menschen eingeladen, die den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben: Politiker*innen und Wissenschaftler*innen, Ostdeutsche und Zugezogene, Engagierte und Innovationsfreudige. Das Protokoll eines intensiven Austauschs bei Soljanka und französischem Apfelkuchen.

 

IMG_9300_2_Kopie.jpgTeilnehmende des LAND.-Gespräches
 Foto: Jörg Gläscher 

 

Wurzen im Januar. Auf Dächern, Straßen und Bürgersteigen liegt eine dünne Schneedecke. Der zwei Kilometer lange Weg vom Bahnhof bis zum Landgasthaus Dehnitz führt vorbei an Einfamilienhäusern, später am Kleingartenverein Muldenaue. Dann schieben sich links das Naturschutzgebiet Wachtelberg-Mühlbachtal und der Bismarckturm ins Bild. Am Rand des Grüns steht seit 1848 ein Gasthaus, heute gehört es Kathrin Lehne. Sie hat es saniert, zum Speiselokal mit Saalbetrieb ausgebaut. Auf der Speisekarte finden sich Hirschbraten und Würzfleisch im Blätterteigtörtchen. Hier, dreißig Kilometer von Leipzig und neunzig von Dresden entfernt, findet das „LAND-Gespräch“ zum Thema „Frauen und der gesellschaftliche Wandel“ statt.

Das Format lehnt sich an das „Stadtgespräch“ des Magazins der Süddeutschen Zeitung an. Die Regeln sind schnell erklärt: Die Gastgeber und ihre Gäste setzen sich gemeinsam an einen langen Tisch, um 13 Uhr geht es los, das Ende ist offen. Es bleibt den Gästen überlassen, wann sie kommen – und wann sie wieder gehen. So wechseln die Konstellationen, treffen immer wieder neue Ansichten, Erfahrungen und Perspektiven aufeinander. Verbindungen entstehen. 

Kathrin Lehne hat den Tisch für das LAND-Gespräch im Jagdzimmer gedeckt. An den Wänden hängen Geweihe und eine Schrotflinte, in einer Ecke hängt kopfüber ein ausgestopfter Fuchs über einem weißen Marder. Auf dem Buffet stehen Soljanka, der ostdeutsche Klassiker, vegane Rote Bete-Suppe und französischer Apfelkuchen. 

Die Rolle von Frauen im ländlichen Raum, Engagement, soziale Innovation – Lehne interessiert das Thema sehr. Ihr fallen auf Anhieb zwei Frauen aus dem Ort ein, eine arbeitet mit Jugendlichen, die andere ist in die Lokalpolitik gegangen. „Die hättet ihr einladen können“, sagt sie. Dass wir sie mit an den Tisch bitten, scheint sie zunächst zu verunsichern. Dann aber nimmt sie am Kopfende Platz, neben ihr sitzt bereits Marika Vetter, die pünktlich um 13 Uhr den Gasthof betreten hat. Vetter ist Gemeinderätin und Initiatorin des Projekts „Frauen bauen – Frauen als Bauarbeiter- und Handwerkerinnen“. Sie hat gerade knapp 200 Kilometer Fahrt hinter sich und klappt den Laptop auf, um sich Notizen zu machen.

Frau Lehne, dürfen wir Ihnen einen Kaffee bringen?

Kathrin Lehne (lacht): Na, das ist aber ungewohnt … Aber ne, danke, wenn ich jetzt einen Kaffee trinke, kann ich heute Nacht nicht schlafen.

Marika Vetter schaut auf ihren Bildschirm, scheint etwas zu suchen.

Marika Vetter: Hier. Es gibt Statistiken, die zeigen, dass soziales Engagement auf dem Land von Frauen ausgeht. Das hat vor allem mit den tradierten
Rollenverteilungen zu tun. Sich für das „Soziale“ einzusetzen, wurde Frauen anerzogen. 

 

IMG_9613_2_Kopie.jpgMarika Vetter
Foto: Jörg Gläscher
 
 
Kathrin Lehne: Mein Mann hatte immer seinen Fulltime-Job, ich eine 30-Stunden-Stelle – und hab` mich um all das gekümmert, was zu Hause zu tun war. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich das so gemacht habe.

Vetter und Lehne werden von der Ankunft von Margret Feger unterbrochen. Feger ist 62 Jahre alt, gelernte Bio-Laborantin und Initiatorin eines Projekts, das in ihrem Wohnort Belleben in Sachsen-Anhalt das leerstehende Gemeindehaus als offenen Bürgertreff wiederbelebt (Ihre Arbeit stellen wir ausführlicher auf Seite 73 vor). Gleich nach ihr erscheint Tobias Burdukat, 39, Sozialarbeiter und Geschäftsführer eines solidarischen Unternehmens in Grimma. „Ah, da kommt Pudding“, sagt jemand am Tisch. Man kennt sich. Burdukat, Spitzname Pudding, hat Soziale Arbeit inklusive Master studiert und bezeichnet sich selbst als Antifaschist und Anarchist. Er setzt sich mit einer Apfelschorle neben Marika Vetter und hört erst einmal nur zu.  

Margret Feger legt stattdessen gleich los. Sie habe eigentlich einen Dorfladen eröffnen wollen, erzählt sie. Daran sei im Prinzip ihr Mann schuld: „Er ist Rentner und muss ab und zu mal an die Luft.“ Und das täte er öfter, gäbe es im Ort einen Laden. Gelächter. Man solle sie bremsen, wenn sie zu viel rede, sagt Feger, und fährt fort. 

Margret Feger: Ich habe mich am Anfang bei der Agrarsozialen Gesellschaft in Göttingen über Konzepte für den ländlichen Raum informiert. Viele Ostdeutsche bilden sich ja ein, es ginge ihnen besonders schlecht. Aber das ist Quatsch, das Problem der Schlafdörfer gibt es im Westen genauso. 

Glauben Sie, dass Frauen Gemeinschaft stärker brauchen und sie sich deshalb auch mehr für sie einsetzen?

Margret Feger: Meine Theorie ist: Frauen sind nicht genügend gefordert in den Jobs, die ihnen angeboten werden. Es gibt viel zu wenig weibliche Führungskräfte. Ich habe eine gute Ausbildung, aber 30 Jahre lang in Aushilfsjobs gearbeitet. Erst jetzt, beim Recherchieren, Planen und Umsetzen des Projekts läuft mein Hirn auf Hochtouren. Die Wirtschaft nutzt das Potential von Frauen nicht. Deshalb mache ich jetzt mein eigenes Ding.

Kathrin Lehne: Das ist auch mein Weg. Mit dem Gasthof verwirkliche ih meine eigenen Ziele.

Gibt es bestimmte Eigenschaften, die Menschen – Männer oder Frauen – brauchen, um gesellschaftlich aktiv zu werden?

Tobias Burdukat: Frauen sind über Jahrhunderte hinweg vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen worden. Aber sie haben früh begonnen, sich selbst zu organisieren. Daraus ist im Prinzip der gesamte Fürsorgebereich entstanden, den sie sich abseits der Welt der Männer angeeignet haben. Ich würde sagen, in Frauen steckt eine größere Fähigkeit zur Selbstorganisation als in Männern. Das merke ich auch in meiner Arbeit mit jungen Menschen. Es sind vor allem die Mädchen, die aktiv werden wollen. 

Ist es also besonders wichtig, Mädchen entsprechend zu fördern?

Tobias Burdukat: Ja, weil es auf dem Land kaum Angebote für sie gibt. Es sei denn, sie interessieren sich für Fußball oder wollen zur Freiwilligen Feuerwehr. Viele Mädchen gehen weg, wenn sie volljährig sind. In ländlichen Regionen bleiben in der Altersspanne zwischen 18 und 30 Jahren vor allem die jungen Männer. Sie fühlen sich familiär in der Pflicht, zum Beispiel den Hof zu übernehmen.

Margret Feger: Aber liegt das nicht auch daran, dass Frauen heute besser gebildet sind und wegen eines guten Jobs in die Stadt gehen?

Tobias Burdukat: Ein höherer Abschluss macht es ihnen, teils sicher unbewusst, leichter, dem Land den Rücken zu kehren, das stimmt.

Hat jemand von Ihnen ernsthaft darüber nachgedacht, in die Stadt zu ziehen?

Margret Feger: Ich bin in der DDR aufgewachsen, in einem ganz kleinen Dorf in Mecklenburg. Damals konnte man nicht einfach umziehen, sonst wären viel mehr junge Leute aus ihren Dörfern abgehauen. Meine Eltern haben überhaupt nicht verstanden, warum ich ­als lediges Mädchen wegziehen wollte.

Tobias Burdukat: In der DDR sollte die Frau eine starke sozialistische Arbeiterfrau sein, die es hinbekommt, am Fließband zu arbeiten und gleichzeitig die Kinder großzuziehen. Sie hat alles übernommen und das wurde heroisiert. Diese Rolle galt als erstrebenswert, ja, als Auszeichnung. 

 

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Kathrin Lehne
Foto: Jörg Gläscher 

 

Kathrin Lehne: Die typische Hausfrau, die gab es praktisch nicht. Als meine Kinder klein waren, konnten die Männer nicht zuhause bleiben. Heute ist das zum Glück alles offen. Dafür sollte man jeden Tag dankbar sein. 

Aber auch die jüngeren Generationen sind noch von den alten Rollenbildern geprägt.

Marika Vetter: Die Dinge ändern sich nur, wenn die Gesellschaft – und das ist jede*r von uns – aktiv mitarbeitet. Wir müssen, um ein Beispiel zu nennen, die sozialen Berufe für alle attraktiver machen, nicht nur für Frauen. Nicht jede Frau will einen sozialen Beruf ergreifen! In Dresden gibt es für Nachwuchswissenschaftlerinnen einen Physikerinnen-Stammtisch, um sie gezielt zu vernetzen und zu fördern. Im ländlichen Raum fehlt so etwas.

Margret Feger: Das Problem ist: Die Kommunalpolitik fördert nur Städte. Belleben, mein Dorf, ist wie so viele andere Ortschaften eingemeindet worden. Bis in die Stadt sind es 15 Kilometer – was nützt es mir also, wenn dort Geld in Kultur oder andere Projekte fließt?

Tobias Burdukat: Die Eingemeindung ist ein Problem für die Dörfer. Vergangenes Jahr habe ich mir den Spaß gemacht, durch alle 64 Ortsteile zu laufen, das waren 166 Kilometer. Manche Ortsteile liegen fast 30 Kilometer von Grimma entfernt. In diesen Dörfern kommt nichts an. Die Busverbindungen sind schlecht und es gibt keine ordentlichen Radwege. Ich stimme Margret zu: Alles Geld fließt in die Stadt.

Corinna Köbele betritt den Raum und nimmt auf einem freien Stuhl neben Margret Feger Platz. Die 60-Jährige kommt aus Kalbe an der Milde, einer Stadt mit 7000 Einwohnenden in der Altmark. Köbele hat vor zehn Jahren das Projekt „Künstlerstadt Kalbe“ gegründet: Sie beschloss, den Leerstand einfach umzudeuten, als Luxus der Leere, als Raum und Ort der Muße für die Kunst. Künstler*innen aller Kunstrichtungen kommen seitdem für einen Sommer- oder Wintercampus nach Kalbe, um dort zu arbeiten und ihre Werke auszustellen. 

 

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Tobias Burdukat
Foto: Jörg Gläscher

 

Frau Köbele, warum sind Sie ­
aus dem Rhein-Main-Gebiet 
aufs Land nach Sachsen-Anhalt gezogen?

Corinna Köbele: Ich hatte ein interessantes Jobangebot. Ich bin Psychologin und in Kalbe wurde eine Klinik eröffnet, die mich unbedingt haben wollte. Ich musste erst mal auf der Karte suchen, wo Kalbe ist.

Wie sind Sie dort warm geworden?

Corinna Köbele: Ich male, also bin ich in einen Künstler*innen-Kreis eingetreten. Und in den Kirchenchor. Viele Kolleg*innen aus der Klinik verschwanden aber nach einem Jahr wieder. Die haben nicht angedockt. Ich hatte schnell den Wunsch, etwas anzuschieben. Mich hat die Trägheit der Verwaltung eher motiviert. Es gab dort so gar keine Ideen, was man mit dem ganzen Leerstand machen könnte. Ich hatte schon welche. Des Öfteren denke ich, wäre ich ein Mann, wäre die Entwicklung der Künstlerstadt um einiges leichter vonstatten gegangen.

Warum?

Corinna Köbele: Ich muss mich ständig legitimieren, weil ich das klassische Rollenbild in Frage stelle. Ich bekomme Dampf von Männern, aber auch den Frauen, weil ich offensichtlich deren Lebenskonzept in Frage stelle. Ich bin ledig, habe keine Kinder, aber durch meinen Beruf einen gewissen Status, eine eigene Praxis, fahre ein Auto, das man als Frau normalerweise nicht fährt …

Maike Steuer (grinsend): Fährst Du einen dicken SUV, oder was?

Die Journalistin aus Thüringen hat vor fünf Minuten am Kopfende des Tisches Platz genommen; dort, wo die wieder an die Arbeit gegangene Landhaus-Wirtin Kathrin Lehne saß. Steuer, 40, stammt aus Brilon im Sauerland, sie kam 1992 mit ihren Eltern nach Ostdeutschland, ins Altenburger Land. Nach Stationen in Leipzig und Indien lebt sie seit ein paar Jahren in Kriebitzsch – und hat dort den alten Konsum gekauft. Ihr Ziel: das Erdgeschoss mit Kreativangeboten zu bespielen und zum Dorf-Treffpunkt zu machen.

Corinna Köbele: Nein, nein! Aber ich besitze auch noch ein Haus. 

Maike Steuer: Du machst aber auch Sachen! 

Margret Feger: Du hast deinen Stand, Corinna, und musst dich trotzdem ständig legitimieren. Da kannst du dir ja vorstellen, wie ich als     Einzelhandelsverkäuferin um meine Ideen kämpfen muss. Ich bin tatsächlich gefragt worden, ob ich mir das Ganze in meinem Alter – ich bin Anfang 60 - noch antun wolle. Einen Mann hätte das niemand gefragt. 

Maike Steuer: Bei mir heißt es immer: „Und was ist mit den Kindern?“ Ich antworte dann: „Na, die existieren weiter!“ Ich kann mich doch engagieren, ohne dass meine Kinder gleich leiden.

Margret Feger: Meine Kinder sind schon erwachsen. Bei mir heißt es dann: Was sagt eigentlich dein Mann dazu?

Gibt es auch andere Frauen, die Sie spüren lassen, dass Ihre Aktivitäten unerwünscht sind?

Corinna Köbele: Scheinbar bin ich für viele das personifizierte schlechte Gewissen, weil ich etwas in die Hand nehme und sie selbst nicht. Vielleicht deshalb, weil sie sich nicht trauen. 

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Maike Streuer
Foto: Jörg Gläscher

 

Maike Steuer: Ich spüre diese Haltung manchmal auch: „Jetzt kommt da diese Externe und verbreitet Unruhe …“ Die Leute haben es sich in dem Nichts um sie herum gemütlich gemacht.

Corinna Köbele: Uns wurde vorgeworfen, wir brächten zu viele Menschen nach Kalbe.

Tobias Burdukat: Das ist in Grimma auch so. Kultur und Leben in der Stadt? Da könnten sich ja Menschen wohlfühlen! Sich bei uns irgendwo zu versammeln, provoziert sofort eine Polizeiverordnung und eine Alkoholverbotszone. Unser Bürgermeister wünscht sich keine Demokratieprojekte, sondern einen starken Staat. 

Sie sprechen alle von Bürgermeistern – gibt es auch Frauen im Amt?

Corinna Köbele: Frauen sind in der Lokalpolitik völlig unterrepräsentiert – sie sitzen einer großen Mehrheit älterer, weißer Männer gegenüber.

Tobias Burdukat: Der ländliche Raum ist ihr letztes Schutzgebiet, dort verteidigen sie ihre altbackene, konservative Männer-Rolle. Der Anteil engagierter Frauen ist auf dem Land geringer,^man kann sie leichter mundtot machen. 

Corinna Köbele: Bei uns kaufen sich Rechte massiv in Höfe ein …

Moment mal, sprechen wir hier von rechter Unterwanderung oder urkonservativen Männern, eren Rolle vom Aussterben bedroht ist?

Tobias Burdukat: Das muss man trennen! Zum einen gibt es auf dem Land eine extreme Siedlerbewegung – zum Beispiel zwischen Grimma und Leisnig. Leute aus Neonazi-Strukturen und deren Sympathisanten kaufen dort ganze Dörfer auf. Was ich mit den Rückzugsräumen meinte, ist eher eine konservativ-reaktionäre Melange von Leuten, meistens Männern, die unter anderem tradierte Geschlechterrollen bewahren wollen. Aber die Grenzen sind fließend, auch Feuerwehr oder Fußballverein sind Treffpunkte und es gibt leider niemanden dort, der mal auf den Tisch haut und sagt: Erzählt doch nicht so einen Unsinn über Geflüchtete! Die Gegenrede fehlt – das ist ein ostdeutsches Phänomen. 

Gibt es Treffpunkte für Frauen, abseits von Fußball und Feuerwehr?

Maike Steuer: Bei mir in Kriebitzsch, einem Dorf mit etwa 1000 Einwohnenden treffe ich die Frauen meiner Altersgruppe morgens in der Kita, sonst nicht. Mit meinem Konsum will ich einen Raum zum Austausch schaffen. Der Stricktreff der Gemeinde ist zwar nett, aber eben eher für Damen ab 65. Es ist aber schwer, mich mit meinen Ideen zu etablieren. Wir hatten 2022 zum ersten Mal seit Pandemieausbruch wieder einen Weihnachtsmarkt, da habe ich auch den Konsum geöffnet. Unsere Waffeln kamen sehr gut an, aber die eher alternativen Produkte so lala.

Glauben Sie, als Mann hätten Sie es einfacher gehabt?

Maike Steuer: Hundertprozentig. Ich hätte das mit dem Bürgermeister bei einem Bier und einer Roster besprochen, es wäre ein Kumpelding gewesen. Aber ich trinke keinen Alkohol, bin Vegetarierin – und eben eine Frau. 

Arni Thorlakur Gudnason und Johanna Ludwig stoßen zu der Runde. Arni Gudnason ist Lehrer, lebt und arbeitet in Wartenburg. In einer leerstehenden alten Schule versucht er ein Kulturprojekt für Kinder hochzuziehen (Mehr darüber auf Seite 8). Er ist eigentlich auf dem Weg nach Hamburg, macht aber für eine halbe Stunde den Umweg nach Wurzen. Johanna Ludwig nimmt am anderen Ende der Tafel Platz. Sie arbeitet in Halle als Quartiersmanagerin. Vor kurzem ist sie aufs Land gezogen, wo sie mit Freunden einen alten Vierseithof gekauft hat. Den Kontakt zu den Dorfbewohner*innen ebnet ihnen die Mutter der früheren Besitzer, die weiter auf dem Hof wohnt. Sie empfiehlt dann schon mal: „Das neue Feuerwehrauto kommt heute, da müsst ihr hingehen!“

Arni Gudnason, was haben Sie gedacht, als Sie die Einladung zu einem Gespräch über das Thema „Frauen & Transformation“ bekommen haben?

Arni Thorlakur Gudnason: Ich war interessiert. Feminismus verbessert für mich die Lebensqualität einer Gesellschaft. Ich komme aus Island, da wird man ohnehin feministischer sozialisiert. Meine Frau und ich haben ein paar Jahre in der Schweiz gewohnt. Dort herrschten uns zu starre Geschlechterrollen, das wollen wir für unsere Kinder nicht. Deshalb sind wir in die Heimat meiner Frau gezogen, aufs ostdeutsche Land. Da sind Frauen wesentlich aktiver als Männer. Ich glaube, Frauen sehen soziale Lücken schneller und versuchen, sie zu füllen. 

Wie lassen sich klischeehafte Aufgabenverteilungen verändern?

 

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Arni Thorlakur Gudnason
Foto: Jörg Gläscher

 

Arni Thorlakur Gudnason: In Island haben wir Lehrkräfte darauf geachtet, die Kinder im Unterricht gleichberechtigt dranzunehmen. Wenn ich trotzdem mehr Mädchen aufrief, beschwerten sich die Jungs. Sie sind empfindlicher, wenn sie sich nicht gesehen fühlen. In meinem Kulturprojekt achte ich auch auf eine ausgewogene Verteilung von Frauen und Männern. Ich will keinen Wurstsalat. 

Marika Vetter: Wurstsalat? Was meinst du damit? 

Arni Thorlakur Gudnason: Wenn nur Männer am Tisch sitzen und alles entscheiden. (Lautes Lachen am Tisch) Ich habe das aus dem Isländischen übersetzt. Ich finde, mit Humor erzielt man manchmal eine bessere Wirkung, als mit einem langen Vortrag über Feminismus. Ich muss aber auch sagen: Wenn es um die finanziellen Fragen geht, höre ich oft von Frauen: „Ich frage lieber mal meinen Mann …“

Corinna Köbele: Studien zeigen, dass Mädchen Verantwortung gerne abgeben, wenn ein Junge die Aufgabe übernehmen will.

Arni Thorlakur Gudnason: Frauen sind erfolgreich. Das ist eine Tatsache, die man beiden Geschlechtern bewusst machen muss, um Frauen zu stärken. Achtsamkeit bei der Besetzung aller Gremien, Jobs und Aufgaben ist für mich der Schlüssel zu einem höheren Frauenanteil. 

Arni schiebt seinen Stuhl zurück und entschuldigt sich, dass er schon wieder los muss. Es ist inzwischen Nachmittag, draußen hat es in dünnen Flocken zu schneien begonnen. Die Frauen und der Mann, die noch am Tisch sitzen, sind alle im ländlichen Raum engagiert. Zeit, sie danach zu fragen, warum sie das tun.

Was treibt Sie an sich zu engagieren, warum sind Sie aktiv geworden?

Corinna Köbele: Um andere Frauenbilder zu propagieren. Und weil in meiner Umgebung von der Männerwelt, die dort entscheidet, wenig Ideen und Impulse kommen. Wir haben in den 37 Gemeinden der Region drei oder vier Bürgermeisterinnen und ich muss sagen: Bei den Frauen läuft wesentlich mehr. Außerdem ist der ländliche Raum ein guter Ort, um sich zu engagieren. Hier herrscht der Luxus der Leere – damit meine ich, dass Gestaltungsspielräume offen sind.

Maike Steuer: Mich motiviert, dass das eigene Handeln auf dem Land mehr Wirkung entfaltet. Ich hatte ein paar Jahre lang ein Café in Leipzig. Aber dort gibt es Tausende Cafés, es war schwer, irgendwie herauszustechen. Auf dem Dorf habe ich mehr Aufmerksamkeit. Ich kann etwas verändern, im positiven Sinne ein Störfaktor sein. 

Corinna Köbele: Um wirksamer zu werden, braucht es auf dem Land Frauen-Netzwerke. Die engagierten Frauen sind Einzelkämpferinnen. Sie verfolgen ihre Ideen, aber ihnen fehlen die Bündnisse. 

Marika Vetter: Bei uns gibt es den „Lausitzerinnen-Stammtisch“. Alle sechs Wochen treffen sich dort rund 30 Frauen aus der Lausitz. Das sorgt nicht nur für Austausch, sondern auch für Sichtbarkeit. Hinter der Idee steht die Plattform „F wie Kraft“ – wir werden ja später noch mit ihrer Initiatorin, der Wissenschaftlerin Julia Gabler, sprechen. Sie hat völlig recht, wenn sie sagt: Gerade im ländlichen Raum ist eine gelingende Entwicklung davon abhängig, ob die Ideen von Frauen angemessen Platz bekommen.

Margret Feger: Bei mir gibt es in der Nähe niemanden, der Engagierte berät. Ich muss auf alles selbst kommen. Inzwischen beziehe ich 30 Newsletter von allen möglichen Organisationen. Ich würde mir mehr professionelle Unterstützung auf lokaler Ebene wünschen, Informationen sowie Fördermittel.

Tobias Burdukat: Emanzipationsprozesse und gesellschaftlicher Wandel passieren nicht von oben nach unten. Wenn der Staat Angebote unterstützt, hat er auch ein Mitspracherecht – und das steht vielleicht im Widerspruch zu den Wünschen der Engagierten.

 

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Johanna Ludwig
Foto: Jörg Gläscher

 

Johanna Ludwig: Aber auch wenn sie finanziell gefördert werden, bleiben Projekte ja bottom-up-Initiativen. Und der Staat könnte die Bedürfnisse von Transformator*innen ja auch erfragen.

Zeit für einen neuen Impuls. Seit den 90er Jahren sind viele Frauen aus den ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns abgewandert. Die Rostocker Sozialforscherin Melanie Rühmling hat in ihrer Dissertation untersucht, warum Frauen im ländlichen Raum bleiben. Sie ist an diesem Samstag verhindert, hat aber eine kurze Videonachricht für die Gesprächsrunde aufgenommen. Darin stellt sie das Kernstück ihrer Dissertation vor, eine Typologie der Frauen, die ihre Heimat Mecklenburg-Vorpommern nicht verlassen haben, als sie volljährig wurden. Mal sehen, ob sich unsere Gäste darin wiederfinden.

Melanie Rühmling: Hallo und herzliche Grüße! Ich bin Melanie Rühmling vom Rostocker Institut für Sozialforschung und möchte Ihnen einige Aspekte aus meiner Doktorarbeit vorstellen. Auf das Gehen oder Bleiben von Frauen im ländlichen Raum haben viele Faktoren Einfluss: unter anderem die Verantwortung, die sie für ihre Eltern oder Familie empfinden, die sozialen Netzwerke vor Ort, die Frage nach materiellem Besitz. Wichtig ist auch, ob sie das Land schon einmal verlassen haben und welche Erfahrungen sie dabei gemacht haben. 

Ich habe drei Typen von Bleiberinnen ausgemacht. Fangen wir an mit den kritisch-positiven Bleiberinnen, die den ländlichen Raum und ihr Bleiben dort vehement vertreten, ja geradezu verteidigen. Sie sind im Landleben häufig sehr präsent, zum Beispiel als Vorständin in Vereinen oder bei öffentlichen Veranstaltungen sichtbar. 

Dann gibt es die kritisch-negativen Bleiberinnen. Auch sie gehen sehr reflektiert mit der Frage von Gehen oder Bleiben um. Viele von ihnen würden tatsächlich gerne gehen – aber können das wegen eines sozialen Konflikts nicht. Ein Beispiel: Ihr Mann führt den Hof seiner Eltern weiter. Schließlich gibt es den Typus der selbstverständlichen Bleiberinnen. Für sie ist das Bleiben so selbstverständlich, dass sie gar nicht groß darüber sprechen. 

Melanie Rühmling winkt in die Kamera, wünscht noch eine gute Diskussion und verabschiedet sich. 

Können Sie sich in den Bleiberinnen-Typen wiederentdecken?

Corinna Köbele: Ich sehe mich als kritisch-positiv. Aber mir fehlt die Kategorie „Hinzugekommene“, die wie ich bewusst aufs Land gezogen sind. Was macht deren besonderer Blickwinkel aus? Und wie weit gelingt es ihnen, an die bestehenden Strukturen anzudocken und etwas zu verändern?

Margret Feger: Ich bezeichne mich auch immer noch als Zugezogene, obwohl ich in der DDR aufgewachsen bin, nun schon 20 Jahre in Belleben wohne – und gut integriert bin. Ich würde mich als kritisch-positiv bezeichnen, sonst wäre ich nicht mehr da. Aber es ist nicht so, dass ich schon immer unbedingt auf dem Land bleiben wollte. Ein Haus war in der Stadt einfach nicht zu bezahlen.

Würden Sie heute noch gerne in der Stadt wohnen?

Margret Feger: Nein, jetzt will ich nicht mehr wegziehen, auch nicht, wenn ich alt bin. Aber das ist das nächste Problem: Es gibt keine altengerechten Wohnungen und Pflegeeinrichtungen. Wer nicht zu Hause gepflegt wird, muss wegziehen. 

Corinna Köbele: Ja, das ist ein Riesen-Thema. Auch wir als Künstlerstadt wollen uns einbringen. Ich führe erste Gespräche mit einer Landtagsabgeordneten über neue Wohnkonzepte auf dem Land.

Pünktlich um 17 Uhr ruft Julia Gabler per Videokonferenz an. Gabler ist Sozialwissenschaftlerin, forscht unter anderem zu den Themen Soziale Innovationen und empirische Geschlechterforschung. Auch sie hat sich mit den Bleibeperspektiven von Frauen auseinandergesetzt und mit „F wie Kraft – Frauen als Wirtschaftsfaktor“ in der Lausitz ein Netzwerk für Frauen gegründet. Sie konnte ebenfalls nicht kommen, wollte aber unbedingt mitdiskutieren. Nun sitzt sie in ihrem Arbeitszimmer in Görlitz, blickt in die Runde im Jagdzimmer und entdeckt ein bekanntes Gesicht. „Marika, hallo!“, sagt sie. Doch die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Görlitz ist gerade auf dem Sprung. „Ich muss leider los“, sagt Marika Vetter. „Ich wusste nicht, dass Du so spät dazu kommst.“ Julia Gabler antwortet abgehackt, die WLAN-Verbindung stockt. Wir platzieren den Laptop auf einem Barhocker in der Nähe der Tür, dort ist das Netz am stabilsten. Margret Feger, Corinna Köbele und Johanna Ludwig setzen sich in einen Stuhlkreis um den Hocker.

Wir haben Sie jetzt auf einem Barhocker platziert.

Julia Gabler: Ok, ich nehme einen Gin Tonic, bitte.

Gelächter. Die Stimmung ist gelöst.

Wir sitzen hier schon ein paar Stunden und diskutieren über Ihr Forschungsthema, Frau Gabler: Frauen & Transformation im ländlichen Raum. Wir haben über Bleibeperspektiven gesprochen und über die Bedingungen für Frauen auf dem Land. Und wir haben ein paar interessante Thesen gehört. Zum Beispiel die, dass der ländliche Raum das letzte Schutzgebiet für – ich sage es einmal vorsichtig – ältere Männer mit stark traditionell geprägten Ansichten ist.

Julia Gabler: Diese These würde ich gerne ergänzen: Der ländliche Raum eignet sich besonders gut für weibliches Engagement – wobei ich Engagement mit Erfindungsgeist und Innovationsfähigkeit beschreiben würde. Innovationsfähigkeit bedeutet ja auch immer, Probleme identifizieren und unkonventionelle Lösungsangebote entwickeln zu können. Eine große Hürde dabei ist, dass Frauen sich im ländlichen Raum gegen den Widerstand von Landräten, Bürgermeistern oder Wirtschaftsnetzwerken durchsetzen müssen. Aber: Viele Frauen empfinden das nicht nur als anstrengend, es spornt sie auch an. So wie der ländliche Raum vielleicht ein letzter Rückzugsraum für konservative Männer ist, ist er auch ein Spielplatz für innovationsfreudige Frauen. 

Widerstand als Ansporn, das ist interessant.

Julia Gabler: Frauen lassen sich zwar von dem konservativ-männlichen Gegenwind beeinflussen – aber ich beobachte, dass der Zeitraum, in dem sie beeindruckt sind, immer kürzer wird. Außerdem stellen wir fest, dass die Investitionslogiken, nach denen sich Strukturentwicklung traditionell vollzieht, immer weniger Bedeutung bekommen. Stattdessen wird Strukturwandel eher als Einladung gesehen, andere Wege zu gehen und eigene Lösungsangebote zu machen.

Wenn Frauen den Wandel vorantreiben, muss man sie dann nicht gezielter unterstützen? 

Julia Gabler: Viele sind der Meinung, man müsste Gelder umlenken, um gezielter innovative Projekte zu unterstützen. So einfach ist es aber nicht. Auch wenn es tatsächlich sehr aufwändig ist, Fördermittel zu beantragen, glaube ich nicht, dass ein leichterer Zugang die Lösung ist. Effektiver wäre, die Förderinstrumente anzupassen – ein Beispiel wäre die Auflage, dass die Antragsteller im ersten halben Jahr drei Partner*innen finden und von ihrer Idee überzeugen müssen, um den vollen Fördersatz zu bekommen. Aber es gibt für Frauen im ländlichen Raum eine weitere Hürde: Sie ziehen ihre Ideen im Zweifel auch ohne Förderung durch. Dadurch prekarisieren sie sich teilweise selbst. Das ist eine progressive, beeindruckende Haltung, kann aber natürlich gravierende Folgen für die Frauen und ihre Projekte haben. 

Ich frage mal in die Runde: Stimmen Sie zu, dass ein einfacherer Zugang zu Fördermitteln eventuell gar nicht so förderlich ist?

Margret Feger: Ich fände es schon toll, wenn man einfacher an Fördermittel käme. Ich will gar nicht wissen, wie viele Projektideen gestorben sind, weil die Leute keinen so hohen Aufwand für die Anträge betreiben können. Aber mir ist noch wichtig: Beim Thema Förderung geht es nicht nur ums Geld, sondern auch um andere Ressourcen. Die sind oft ebenso entscheidend.

Johanna Ludwig: Genau, oft geht es um Begleitung. Leute haben Bock, etwas zu machen, scheitern aber am fehlenden Wissen und daran, dass sie keine Reflektionspartner*innen haben. Oft hakt es auch bei der Verwaltung, die ihre Anforderungen sehr hoch hängt. Da würde ich mir einen Abbau wünschen.

Zustimmendes Bejahen und Kopfnicken.

Corinna Köbele: Ich möchte noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob Widerstand auch produktiv sein kann. Ich werde tatsächlich manchmal trotzig und denke: Ihr könnt mich alle mal, wir machen da jetzt weiter! Es gibt produktive Widerstände und Konkurrenz, ja. Ich frage mich aber auch, wann endlich der Punkt erreicht ist, an dem nach dem Gesetz der kritischen Masse der Prozess kippt – und die Widerständler*innen gar nicht anders können, als mitzumachen. 

 

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Corinna Köbele
Foto: Jörg Gläscher

 

Die Verbindung zu Julia Gabler bricht nun vollständig ab. Margret Feger und Corinna Köbele beginnen, sich über ihre Erfahrungen mit dem nichtkommerziellen Netzanbieter Freifunk auszutauschen, Julia Gabler möchte das Videokonferenz-Tool wechseln und schickt einen neuen Link. Eine Kellnerin schiebt den Kopf durch den Türspalt und fragt, ob sie noch etwas bringen darf. „Im Moment nur eine WLAN-Verbindung“, sagt Margret Feger. Schließlich ruft Julia Gabler vom Festnetz aus an, und wir stellen sie laut.

Frau Gabler, Sie haben vorhin in einem Nebensatz erwähnt, dass Frauen eher bereit sind, ihre Ideen unter prekären Bedingungen umzusetzen. Können Sie das erläutern?

Julia Gabler: Ich möchte unterstreichen, was Johanna gerade gesagt hat. Unterstützung kann auch in Form von Begleitung sehr hilfreich sein. Denn gerade Frauen sehen die ökonomische Belastbarkeit ihrer Vorhaben häufig als sekundär – an erster Stelle kommt für sie der Inhalt. Ich glaube, dass es ein eher weibliches Phänomen ist, erst einmal einen kreativ-aktionistischen Prozess zu starten und später andere Komponenten miteinzubeziehen. Also Fragen zu klären wie: Wann mache ich eigentlich Pausen? Gibt es Rückzugsräume, Erholung, Regeneration? Das stellen Frauen oft hintenan.

Corinna Köbele: Stimmt, Pausen gibt es nicht mehr, wenn man eine bestimmte Größe erreicht hat und eine entsprechende Projektförderung bekommt. Wir hatten vergangenes Jahr fünf Stellen – dann fiel die EU-Förderung weg. Jetzt bleibt alles an mir hängen. Es gibt viele Projekte, die letztlich an solcher Überlastung scheitern.

Julia Gabler: Ich gebe dir recht, das ist schwierig. Aber ich habe auch schon Organisationen erlebt, die förderfreie Phasen nutzen konnten, um grundsätzliche Entscheidungen für ihre Organisation zu treffen. Derzeit müssen wir leider akzeptieren, dass es im ostdeutschen ländlichen Raum an Stiftungen, privatem Kapital und ähnlichen Formen der Unterstützung fehlt. Das kann die Verwaltung nicht übernehmen und kompensieren. Deshalb halte ich es für richtig, die zivilgesellschaftliche Übernahme von Verantwortung zu unterstützen. Ich glaube, wir haben gar keine andere Chance, als Allianzen zu bauen und uns zu vernetzen.

Melanie Rühmling hat vorhin in ihrem Videobeitrag die Frage aufgeworfen, wie man solche Allianzen oder Kooperationen anlegt. Glauben Sie, Frauen tun sich darin leichter?

Corinna Köbele: Die Kommunikation läuft geschmeidiger, ja. Es geht nicht darum, dass irgendwer „sein Ding“ durchziehen will, sondern eben mehr um Kooperation.

Margret Feger: Ich mache andere Erfahrungen. Meine aktuelle Netzwerkstruktur sieht so aus: Frauen um die sechzig, Männer ab dreißig. Funktioniert fantastisch. Die jungen Männer haben Respekt vor uns und vor dem, was wir machen. Sie kommen auf uns zu und wollen unterstützen, ohne Ansprüche. Das machen die älteren Männer nicht.

Johanna Ludwig: Ich finde den Gedanken schön, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, die sich mit Lust um dieselbe Sache kümmern. Das Geschlecht ist dabei erst einmal egal. Reine Frauen- wie Männergruppen sind aus meiner Erfahrung aber schwierig. Außerdem sollten beide Geschlechter schauen, dass sie nicht ständig die klassischen Rollenbilder bedienen. Frauen neigen dazu, die Verwaltung zu machen. Sie übernehmen Verantwortung, sind aber nach außen nicht sichtbar. 

Ein Ergebnis der Forschungsarbeit von Julia Gabler ist, dass Frauen sich ungesehen fühlen. Teilen Sie das?

Johanna Ludwig: Nein, ich fühle mich nicht ungesehen. Mir ist es tatsächlich eher unangenehm, ich wäre manchmal gerne weniger sichtbar. 

Corinna Köbele: Ich erlebe oft, dass meine Arbeit von Männern nicht wahrgenommen wird. Aber wenn ich nach vorne gehen will, tue ich das auch. Ich stelle allerdings immer wieder fest, dass manche mich einfach ignorieren. Zum Glück hat unser Projekt mittlerweile eine Größe und einen Status, der es schwer macht, diese Ignoranz durchzuhalten.

Julia Gabler: Frauen treten gerne aus dem Rampenlicht mit dem Wunsch, vor allem die kollektive Anstrengung sichtbar zu machen. Sie wollen, dass sich alle gesehen und wertgeschätzt fühlen – meiner Meinung nach ein eher weiblicher Gedanke. Sehr häufig stelle ich fest, dass Frauen, selbst die Gleichstellungsbeauftragten, sich fragen, wie sie die Männer mitnehmen können. Wäre es nicht erst einmal wichtig zu formulieren, was man selbst will? Letzten Endes geht es aber vielleicht gar nicht um die Geschlechterfrage, sondern darum, wie Gestaltung in ländlichen Räumen funktioniert. Eine schablonenhafte Einteilung in „Wir sind die Veränderer“ und die anderen sind unsere „Widersacher“ bringt uns nicht weiter. Auch diejenigen, die scheinbar Widersacher sind, entwickeln Strukturen – und das endet dann in Konfrontation. Ich habe schon einige Verantwortungsträger sagen hören, ihnen werde angst und bange vor all den Gestalter*innen, die ihnen den Job streitig machten. Aber niemand will jemandem etwas wegnehmen! Eventuell hat das mit den negativen ostdeutschen Erfahrungen zu tun? Manchmal dachte ich schon, dass wir Soziolog*innen da weniger gebraucht werden als vielmehr Psychotherapeut*innen …

Johanna Ludwig: Da bin ich absolut bei dir.  

Julia Gabler: Wenn man also Räume schafft, um miteinander zu sprechen und sich gegenseitig weniger als Konkurrenz sieht, wäre schon viel geholfen. 

Damit verabschiedet sich Julia Gabler – und mit dem Wunsch für ausreichend Räume zur Regeneration. Kurze Pause, Fenster auf. Draußen schneit es immer stärker. Es ist Viertel vor sieben. Ob noch jemand kommt? Plötzlich stehen Franziska und Marc Mascheck in der Tür zum Jagdzimmer. Der Schnee, tut uns leid, sagen sie. Franziska Mascheck, Bundestagsabgeordnete für den Landkreis Leipzig, ist leicht angeschlagen, bestellt einen heißen Kräutertee. Bei den anderen werden Kaffee und Tee durch Limonade und Bier ersetzt. Für ein paar Minuten herrscht eine andere Atmosphäre im Raum, förmlicher. Bundestagsabgeordnetenautorität. Wir starten eine kurze Vorstellungsrunde. Alle sagen ein paar Worte über sich, dann sind Franziska und Marc Mascheck selbst an der Reihe. 

Franziska Maschek: Ich bin Franziska. In meinem ersten Beruf war ich Bühnentänzerin, habe in Berlin ein Kinder- und Jugendtanztheater gegründet. Irgendwie haben wir dann vier Kinder bekommen und leben inzwischen auf einem alten Vierseithof, eine Stunde von hier. Zwischendurch habe ich ein Studium der Sozialen Arbeit angefangen, das hat mich politisiert – danach drängte es mich in den Stadtrat, um die Entscheidungen für unsere Region beeinflussen zu können. Die politische Arbeit und mein Masterstudium haben mich vor der letzten Bundestagswahl ermutigt, zu sagen: Ja, jetzt zeige ich Gesicht. Und schwupps, jetzt sitze ich für die SPD im Bundestag. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich auf dem Land nur wenig Menschen politisch engagieren. Ich musste mich also nicht in einer Partei hochkämpfen. 

Gelächter, die Abgeordnete ist ja total nett – und kommt sofort ins Erzählen.

Franziska Mascheck: Ich bin Mitglied des Ausschusses für Wohnen, Bauen, Stadtentwicklung und Kommunales. Eigentlich gehöre ich fachlich eher ins Ressort Familie, Soziales und Jugend – oder vielleicht in den Kulturausschuss –, aber da kann ich für den ländlichen Raum nicht viel bewegen. Ich habe jetzt ein gutes Jahr Berlin hinter mir und zu ungefähr einem Drittel bis vielleicht zur Hälfte verstanden, wie der Laden läuft.  

 

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Franziska Mascheck
Foto: Jörg Gläscher

 

Wieder Gelächter. Franziska Mascheck scheint sich wohlzufühlen. Ihr Mann Marc macht seine Vorstellung kurz. Von ihrer Berliner Zeit über die gemeinsamen Kinder bis hin zur Sanierung des alten Hofes sei Vieles ja deckungsgleich, scherzt er. Marc Mascheck ist studierter Pantomime und Schauspieler, Theaterpädagoge und Bildungswissenschaftler.

Wir sitzen hier nun schon den ganzen Tag und sprechen über das Thema „Frauen & Transformation“. Wir würden gerne Ihren Blick darauf kennenlernen. 

Franziska Mascheck: Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich so Vieles am Geschlecht hängt. Die Sozialisation hat wahrscheinlich ein größeres Gewicht. Zum Glück bin ich nicht irgendwo im katholischen Hunsrück geboren geworden. 

Margret Feger: Gibt es zwischen Ost und West nach wie vor so große Unterschiede?

Franziska Mascheck: Ich treffe häufig im Westen sozialisierte Frauen meines Alters, die ein ganz anderes Selbstwertgefühl, ein anderes Verständnis vom Wert ihrer Arbeit und ihrem Einsatz für Gesellschaft und Familie haben. Im Osten war es für Frauen selbstverständlicher, an der eigenen beruflichen Entwicklung zu arbeiten. An der Stelle freue ich mich immer, Ossi zu sein.

Wir haben heute des Öfteren gehört, dass Frauen sich vielfach unterschätzt fühlten – und denken, sie könnten ihre Projekte schneller voran bringen, wenn sie ein Mann wären. Haben Sie auch solche Erfahrungen gemacht?

Marc und Franziska Mascheck schauen sich an und überlegen, die Gelegenheit nutzt Corinna Köbele. 

Corinna Köbele: Ich habe das Gefühl, dass wir zu gewichtig sind, dass wir zu viele Ideen haben. Der Stadtrat stöhnt jedes Mal, wenn ich eine Idee einbringe: boah, schon wieder die Köbele. Wir sind zu schnell, zu kreativ und wir wollen zu viel. Bei 80 Prozent Männern, die meisten über sechzig, die im Stadtrat sitzen, erleben die mich als Bedrohung. 

Franziska Mascheck: Wir hatten im Dorf einen Bürgermeister, der überhaupt nicht verstanden hat, was wir mit unserem Projekt und dem Hof vorhaben. Aber ob das nicht eher an seinem Unwillen lag, sich damit auseinanderzusetzen? Wäre die Verständigung besser gelaufen, wenn ich ein Mann wäre und mit ihm ein Bier trinken gegangen wäre …?

Marc Mascheck: Es hätte bestimmt funktioniert, wenn ich das Bier mit ihm getrunken und ihm alles nochmal genau erklärt hätte. Aber jetzt haben wir sowieso einen neuen Bürgermeister.

Margret Feger: Ich setze große Hoffnung auf die jüngeren Kommunalpolitiker, die langsam nachrücken. In meinem Jahrgang mit den Männern über Politik zu sprechen – das ist, als spräche ich eine andere Sprache. Die verstehen mich nicht.

Ist das auch eine Form von Ignoranz?

Franziska Mascheck: Vielleicht ist es auch eine gewisse Hilflosigkeit, weil Bildung fehlt, auch demokratische Bildung.

Margret Feger: Ja, Bildung ist wichtig. Viele schauen nicht über die Dorfgrenzen hinaus.

Franziska Mascheck: Das ist ein schwieriges Thema. Viele Menschen, von denen ich glaube, dass sie ein seltsames Verständnis von Gesellschaft haben, besitzen einen ganz guten formalen Bildungsabschluss. Ihnen fehlt aber der Anschluss an das, was heutige Gesellschaften ausmacht. 

Ist das ein spezifisches Problem auf dem Land?

Corinna Köbele: Ja!

Franziska Mascheck (schüttelt den Kopf): Vielleicht zeigt es sich hier deutlicher, weil hier mehr Menschen weggehen, sich die aktuelle Bildung aneignen und nicht wieder zurückkommen. Ich glaube aber, dass es diese Menschen in der Stadt genauso gibt.

Johanna Ludwig: Nee, das ist kein Land-Phänomen. Wenn mir das Gefühl der Selbstwirksamkeit fehlt, setzt sich eine Negativspirale in Gang – und damit geht Bildungsverlust einher. Das gilt gleichermaßen auf dem Land wie in der Stadt.

Die letzte Runde Kaffee wird angeboten. „Ich nehme noch einen, um gut nach Hause fahren zu können“, sagt Corinna Köbele. Sie hat noch zweieinhalb Stunden im Schneetreiben vor sich. Auch Franziska Maschek blickt nach draußen und sagt zu ihrem Mann: „Wir sollten nicht zu spät losfahren …“ Also Endspurt. 

Aus Ihrer Sicht als Politikerin: Kleben die Bürgermeister in den Dörfern an der Macht und wollen weiter ihr konservatives Rollenverständnis ausleben?

Franziska Mascheck: Ja und Nein. Es gibt dort noch eine Generation, die das so lebt. Aber wir stehen auch vor der Herausforderung, dass es fast niemanden mehr gibt, der sich für diese Aufgaben zur Verfügung stellt. 2024 finden im gesamten ostdeutschen Raum Kommunal- und Landtagswahlen statt und wir müssen echt schauen, wer sich da überhaupt aufstellen lässt. Zumindest in meiner Welt sind es tendenziell mehr Frauen, die sagen: Stadtrat? Ja, kann ich mir vorstellen. 

Ein neues Selbstbewusstsein?

Margret Feger: Ich glaube, es liegt daran, dass die Kommunen keine Macht haben. Vor allem nicht übers Geld – die Kommunalaufsicht entscheidet, wie der Haushalt auszusehen hat. Und da sagen die Männer sich: Nee, wenn wir keine Macht haben, übernehmen wir auch die Posten nicht mehr.

Franziska Mascheck: Das würde ich so nicht sagen. Die Bürgermeister – bei uns im Kreis gibt es auch Bürgermeisterinnen – haben sehr viel Gestaltungsmacht und nutzen sie auch sehr aktiv. Allerdings wird ab und an auch mal jemand aus Versehen Bürgermeister – dahinter steckt die Problematik des Nachobenbeförderns. Da sind wir wieder bei den Netzwerken – und ja, das sind Männernetzwerke. Und ja, da geht es um Status, Anerkennung und ums Pöstchenverteilen. Aber inhaltlich passiert wenig. 

Wie bekommt man das Thema Wandel im ländlichen ostdeutschen Raum in die Köpfe von Stadträt*innen, Bürgermeister*innen und Bundestagsabgeordneten?

Franziska Mascheck: Ich fange mal beim Bundestag an: Das Problem ist uns bewusst. Aber die Möglichkeiten des Bundes sind in diesem Bereich begrenzt. Trotzdem gibt es eine erste Idee: Wenn Bundesinstitutionen neu entstehen oder verlagert werden können, sollen sie in den Osten – und zwar nicht in Zentren wie Leipzig oder Dresden, sondern in die mittelgroßen Städte. Ein Beispiel ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle – das hat nun eine Außenstelle im sächsischen Borna. Das ist groß, denn da entstehen über hundert hoch bezahlte Arbeitsplätze. In Neustrelitz sitzt die Bundesstiftung für Engagement und Ehrenamt. Das war eine ähnliche Entscheidung. Darüber hinaus – und das ist schön zu sehen – gibt es insbesondere in der jüngeren Generation Politiker*innen, die sehen, wie sich der ländliche Raum verändert. Sie haben ein Gespür dafür, was eine Gesellschaft zusammenhält, nämlich zivilgesellschaftliche Initiativen. Das muss die Grundlage sein: Verstehen, das die Lebensqualität der Menschen vor Ort nicht von einer frisch geteerten Straße abhängt. 

Marc Mascheck: Meine Antwort darauf ist kurz: Wenn es gute Bürgermeister*innen gibt, halte ich es für richtig, ihnen mehr Spielraum zu geben – damit sie mit Geldern freier und weniger bürokratisch umgehen können. 

Franziska Mascheck schaut ihren Mann etwas erstaunt an. 

 

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Marc Mascheck
Foto: Jörg Gläscher
 
Franziska Mascheck: Die Forderung nach mehr finanziellem Freiraum wird insbesondere auch von reaktionären Bürgermeistern vorgebracht.

Marc Mascheck: Okay, das kann auch nach hinten losgehen. 

Franziska Mascheck: Die Zivilgesellschaft fordert oft, dass wir Förderprogramme verstetigen sollen. Jetzt ist das Demokratiefördergesetz beschlossen worden – da steht drin, dass Förderungen langfristiger laufen sollen, um bessere Planbarkeit zu ermöglichen. Aber das Wichtigste ist die Umkehrung des Brain Drains. Junge, gut ausgebildete Frauen ziehen vom Land weg. Wir müssen sie zum Wiederkommen bewegen, indem wir ihnen gut bezahlte Arbeitsplätze bieten.

Corinna Köbele: Ein neu geschaffener Arbeitsplatz zieht fünf andere nach sich – darin steckt großes Potenzial fürs Land. Ich denke, dass von politischer Seite bessere Bedingungen geschaffen werden müssen.

Franziska Mascheck: Aber man braucht für jede Neuerung Mehrheiten. Und wo konservative bis reaktionäre Kräfte bestimmend sind, wird das schwierig. Um gesellschaftlichen Wandel voranzubringen, brauchen wir zivilgesellschaftliche Gruppen mit guten Netzwerken in die Politik, die weiter Bambule machen und alle Kanäle anzapfen, die trommeln, uns die Türen eintreten und nerven. Wer sich bemerkbar macht, der wird gehört und gesehen. Dafür braucht man Kraft, das weiß ich – aber am Ende wird es sich lohnen.

Weiter Bambule machen – eine klare Aufforderung. Nach diesem Satz drücken wir die Stopp-Tasten der Aufnahmegeräte. Knappe sieben Stunden Gespräch sind auf den Bändern. Franziska und Marc Mascheck und Corinna Köbele machen sich auf den Heimweg, Margret Feger, die am längsten am Tisch saß, und Johanna Ludwig bestellen sich noch ein letztes Getränk, essen einen Teller Suppe. Feger wird in Wurzen übernachten und am nächsten Tag heimfahren, Johanna Ludwig fährt gleich nach Halle. Kathrin Lehne kommt lächelnd herein – auch für sie war es ein ungewöhnlicher und langer Tag. „Lasst bitte alles so stehen“, sagt sie. „Wir machen das schon.“ Draußen ist es mittlerweile dunkel, klar und kalt. Landluft. Schön. 

Das Gespräch leiteten Bastian Henrichs und Christiane Langrock-Kögel
. Der Artikel erschien im LAND-Magazin #6, Februar 2023.

Die Interviewten waren...

  • Kathrin Lehne

Die Inhaberin des Landgasthofs Dehnitz haben wir spontan mit an den Tisch gebeten. Sie ist in Wurzen geboren und verbrachte dort ihr ganzes bisheriges Leben. Gemeinsam mit ihrem Mann hat die heute 55-Jährige 1996 den Gasthof gekauft, abgerissen, alles neu aufgebaut und 2003 wiedereröffnet. Bis 2005 arbeitete die gelernte Maschinenbauerin zudem als Konstrukteurin in Wurzen.

  • Marika Vetter

Eigentlich wollte die heute 41-Jährige Tischlerin werden, bekam aber in dieser Männer-Branche keinen Ausbildungsplatz. Inzwischen engagiert sich Vetter auch politisch, möchte mehr für das Gemeinwesen und ein wertschätzendes Miteinan- der tun. Sie genießt das Dorfleben in Melaune, ihre Bauprojekte – und die Tatsache, dass Berlin, Dresden und Prag gleich um die Ecke liegen.

  • Margret Feger

Vor 25 Jahren zog die gebürtige Mecklenbur- gerin mit Mann und zwei Kindern von der Kreisstadt Bernburg nach Belleben, um endlich wieder einen richtigen Garten zu haben. Ihr Verein „Mühlen-Ritter“ verbindet die Menschen im Dorf – das für die 63-Jährige und ihre Familie längst zur Heimat geworden ist.

  • Tobias Burdukat

Der Sozialarbeiter und Lehrbeauftragte ist bewusst ihn seiner Heimat Grimma geblieben. Der 40-Jährige engagiert sich für die Jugend- arbeit auf dem Land. So will er jungen Menschen Perspektiven jenseits von Fußball, Feuerwehr und Heimatverein erönen – und die Macht rechtsradikaler Netzwerke schwächen.

  • Corinna Köbele

Geboren in Frankfurt am Main, ist die heute 60-Jährige wegen des Jobangebotes einer Klinik nach Kalbe in Sachsen-Anhalt gezogen. Zuvor hatte sie zunächst Gemeindepädagogik, dann Psychologie studiert. Neben ihrem Projekt Künstlerstadt Kalbe, für das Köbele stellvertretend mit der Ehrennadel des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet wurde, hat sie einen Praxissitz in Bismark

  • Maike Steuer

Die 41-Jährige Redakteurin und Sozialunternehmerin lebt im Thüringischen Kriebitzsch, wo sie derzeit den alten Dorfkonsum renoviert. Ihr Ziel: Der "Kreativkonsum" soll eine Mischung aus Laden, Café und Raum für Workshops, Kurse und Veranstaltungen werden. In ihren Worten: "Nahversorgung für Kopf, Herz und Bauch".

  • Arni Thorlakur Gudnason

Der 42-jährige Geographielehrer gründete in seiner Wahlheimat Wartenburg in Sachsen-Anhalt die "Fabelhafte Wartenburg - Kulturbastion 1813": Eine lange verlassene Schulturnhalle, der er als Ort für Kultur, Kunst und Begegnungen neues Leben einhaucht - mit tatkräftiger Unterstützung der Dorfgemeinschaft.

  • Melanie Rühmling

Sie ist Promotionsstipendiation am Institut für Soziologie und Demographie an der Universität Rostock. Ihre Dissertation "Bleiben in ländlichen Räumen" ist im Januar 2023 erschienen.

  • Julia Gabler

Sie hat Sozialwissenschaften in Köln, Berlin und Brüssel studiert. Seit 2009 arbeitet sie in unterschiedliochen Forschungszusammenhängen mit Blick auf Sozialen Wandel insbesondere in Ostdeutschland und forschte zu Verbleibchancen qualifizierter Frauen im ländlichen Raum. Seit 2020 ist sie Professorin am Institut für Sozialwissenschaften der Hochschule Zittau/Görlitz.

  • Johanna Ludwig

Als junge Frau wollte sie eigentlich in ihrer Heimat Berlin bleiben, landete dann aber wegen der Studienplatzwahl in Halle. Dort ist die 40-Jährige heute als Quatiersmanagerin tätig. Als neuen Lebensmittelpunkt hat sie sich gemeinsam mit Freund*innen einen alten Vierseitenhof gekauft, den sie gemeinsam renovieren.

  • Franziska Mascheck

Die gebürtige Dresdnerin wuchs in der Uckermark auf, stuiderte Ballett an der Palucca-Schule in Dresden und arbeitete lange als Tanzpädagogin in Berlin. Nach dem Umzug aufs Land engagierte sie sich zunächst als Standt- und Ortschaftsrätin und zog mit dem Slogan "Zuhören, Verstehen, Anpacken" 2021 in den Bundestag ein.

  • Marc Mascheck

Der freischaende Künstler hat eine Reihe von Ausbildungen hinter sich: Er studierte Mime/ Schauspieler, dann Theaterpädagogik und später an der Fernuniversität Hagen Bildungswissenschaften. Zwischendurch arbeitete er an der Deutschen Oper Berlin, jetzt führt er all seine Kompetenzen in der Arbeit mit Jugendlichen und Kindern zusammen.

 

Das Magazin für Leute vom Land...

 

Das LAND.Magazin berichtet über zukunftsgebendes Engagement im ländlichen Raum. Hier gibt es Reportagen über Dorfentwicklung, Vor-Ort-Besuchen bei Landaktivist*innen und Anregungen, wie man selbst zupacken kann. Für Leute vom Land oder solche, die vom Land lernen wollen. Schaut gern auf der Website vorbei und holt euch ein Abonnement!

 

F.E.S.T. - feministisch. ehrlich. selbstgemacht. tanzbar.

Im März 2023 fand das erste F.E.S.T. in Bautzen statt. Was wollten die Organisatorinnen erreichen, wie lief es ab und ist es gelungen? Wir haben es für euch zusammengefasst und möchten euch mit ein paar Fotos einen Eindruck davon vermitteln, wie toll es war!

„Letztens war ich auf einem Festival und dort waren schon wieder ausschließlich Männer auf der Bühne…“ – wenn man mit Bautzenerinnen und Bautzenern ins Gespräch kommt, wird sich als Reaktion auf diese Aussage kein Widerspruch zeigen. Die überdurchschnittlich hohe männliche Besetzung und geringe Diversität in subkulturellen Themenbereichen wie Musik, Graffiti, Rollsport etc. findet sich natürlich nicht ausschließlich in Bautzen, aber als dort Kulturschaffende fällt es uns stark ins Auge. Während sich in größeren Städten bereits Frauen*-Empowerment-Communities etablieren, die Safe Spaces für Menschen schaffen, die sich unterrepräsentiert fühlen, stehen wir in unserer kleinen Stadt noch ganz am Anfang. Dies wollten wir zum Anlass nehmen, ein Projekt ins Leben zu rufen, bei dem Frauen* und Empowerment-Themen im Fokus stehen. Wir wollten Frauen* als Gestalterinnen und Macherinnen zusammenbringen, um ihre künstlerischen und sozialen Entwicklungspotenziale in der Stadtgesellschaft und der Region zu entfalten und ihnen Mut zu machen, ihre Perspektiven und Bedürfnisse einzubringen. Ziel war es ebenso, weibliche* Vorbilder in der Stadt zu schaffen bzw. sichtbar zu machen.

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Spacebunny Ninja

Das F.E.S.T. fand am Samstag, den 11.03.2023 nachmittags bis abends statt. Es begann mit zwei Workshops in den Räumlichkeiten der St. Petri Gemeinde: Der Lettering-Art-Workshop unter der Leitung der Bautzener Künstlerin Brim/Borium wurde sehr gut angenommen.Die sehr diverse Gruppe im Alter von 14 bis 40 arbeitete gemeinsam an empowernden Fokussätzen. Die Teilnehmerinnen konnten sich im Anschluss ihre Kunstwerke mit nach Hause nehmen. Direkt im Anschluss fand ein Screaming-Workshop unter der Leitungs des/der Berliner Musiker*in Andrzej statt. Auch dieser war sehr gut besucht. Hier war die Gruppe etwas homogener - die meisten Teilnehmerinnen waren selbst schon vorher musikalisch aktiv. Das Feedback der Teilnehmerinnen war bei beiden Workshops hervorragend - der Empowerment-Gedanke konnte sehr gut transportiert werden und neue Bekanntschaften und Netzwerke sind entstanden.

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Adrats

Direkt im Anschluss wurde das Abendprogramm eröffnet und allen Förder*innen gedankt. Dann traten unsere drei Acts im Saal des Treff im Keller auf: Die junge Berliner Rapperin Spacebunny Ninja beeindruckte mit starken, empowernden Texten. Die Dresdner Riot-Grrrl-Punkband Adrats brachte das Publikum mit ihrer unkonventionellen Rollerskate-Attitude , ihren rumpelig-tanzbaren Beats und ihren feministischen Texten in Bewegung. Der Abend wurde vollendet mit dem fesselnden Auftritt des Dresdner Duos Olicía, deren atmosphärischer electronic loop-jazz das Publikum zum Träumen brachte.

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Olicía

Wir sind mit dem ersten F.E.S.T. sehr zufrieden. Während der Konzerte waren im Laufe des Abends circa 60 Gäste anwesend. Das Konzept, vorrangig Frauen* anzusprechen, ging auf: Die überwältigende Mehrzahl der Anwesenden war weiblich* und trotzdem schauten auch viele männliche* Besucher vorbei. Der intendierte Versuch, Kommunikation über Geschlechterverhältnisse in der Bautzener Kulturszene anzustoßen, ging damit einher. Es ist uns gelungen, zu zeigen, dass man ein komplettes Festival-Lineup sehr wohl mit weiblichen Acts füllen kann.

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F.E.S.T. - Team

Bereits im Vorfeld sahen wir uns oft mit der Frage konfrontiert, warum wir das F.E.S.T. nur für Frauen organisieren und ob Männer denn auch kommen dürfen. Genau dies wollten wir provozieren und wir stellten uns der Diskussion gern. Schließlich zeigte sich, dass durch die gezielte Ansprache ganz andere Gäste kommen, als zu einem "normalen" Konzert in Bautzen und somit auch ganz andere Kontakte und Schnittstellen entstanden. Das F.E.S.T. wurde schließlich auch überregional wahrgenommen und es kamen zahlreiche Besucher*innen aus Görlitz, Weißwasser, Boxberg, Hoyerswerda und Dresden. Wir interpretieren dies so, dass die Kombination aus einem künstlerisch hochwertigen und diversen Angebot mit der ideellen Gleichberechtigungskomponente gut ankommt. Wir hoffen, dass daraus nun einige neue Netzwerke und Projekte entstehen werden und freuen uns darauf, weitere geschlechtssensible Kulturangebote mitzugestalten.

Hier könnt Ihr noch ein paar Eindrücke vom F.E.S.T. sehen. Ganz vielen Dank an Patricia Kern fürs fleißige Fotografieren!

 

Wir danken unseren Förder*innen:

  • Kulturstiftung des Freistaates Sachsen
  • Kulturamt der Stadt Bautzen
  • Jeanne d'Art Kulturstiftung
  • Soroptimist Club Bautzen
  • Andrea Kubank
  • Fraueninitiative Bautzen e.V.

... und den zahlreichen Helfer*innen und Unterstützer*innen!

Das F.E.S.T. - Orga-Team

Franzi, Lisa und Marie

 

  • Die Fotos sind von Patricia Kern. Vielen Dank für deine Begleitung!
  • Falls ihr Fragen zum F.E.S.T. habt oder mit dem Orga-Team in Kontakt treten wollt, schreibt eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Damit wir gut miteinander reden…

Michaela Heidig stellt sich vor                               

Mein Name ist Michaela Heidig. Ich betreibe ein Spracheninstitut, in dem ich individuelle Kurse, z.B. für Englisch, Polnisch, Deutsch als Fremdsprache und viele andere Sprachen sowie Übersetzungsleistungen anbiete.

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Foto: Michaela Heidig

 

 

Aus zweierlei Gründen möchte ich, dass mein Unternehmen in der Region sichtbarer wird: zum einen liegt mir das Thema Sprache sehr am Herzen, damit wir gut miteinander reden, auch in einer fremden Sprache, und damit offener und toleranter gegenüber Neuem werden. Damit wird auch unsere eigene kleine Welt ein Stück größer, bunter und es eröffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten.

Zum anderen möchte ich als Unternehmerin sichtbarer werden, um anderen Frauen Mut zu machen und zu zeigen, dass eine Vereinbarkeit von Familie und Karriere durchaus möglich ist und man in relativ kurzer Zeit viel erreichen kann. Seit knapp zwei Jahren bauen mein Partner und ich ein altes Bauernhaus auf dem Dorf aus, in dem später auch das Spracheninstitut verortet sein soll. Wir haben beide ein Kind und auch zwei gemeinsame Hunde. Zeitgleich konnte ich den Umsatz meines Unternehmens um jeweils knapp 70% pro Jahr steigern und zahlreiche neue regionale Firmen und Universitäten aus ganz Deutschland als Auftraggeber gewinnen. 

Ich bin übrigens immer auf der Suche nach tollen Sprachtrainerinnen und Übersetzerinnen. In diesem Jahr möchte ich mein 5-köpfiges Team gern vergrößern, weil wir unsere Kapazitätsgrenzen erreicht haben.

Michaela Heidig…

… ist beeidigte Dipl.-Übersetzerin für Englisch sowie Trainerin für Englisch und Polnisch. Sie betreibt das Spracheninstitut Kommunikeet in Markersdorf.

Frauen gestalten Ostdeutschland. Frauen gestalten Transformation. 

Impuls von Dr. Julia Gabler am 6. März 2023 im Bundeskanzleramt

 Sehr geehrte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, sehr geehrter Staatsminister Carsten Schneider, sehr geehrte Gäste und Gästinnen!

Das Wort Gästin gibt es im Übrigen seit dem 19. Jahrhundert im Duden der Gebrüder Grimm. Als der online-Duden es 2021 aufgenommen hat, wurde ein Sturm der Entrüstung ausgelöst.

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Foto: Henning Schacht

Auch weil im Vorgespräch darauf hingewiesen wurde, nicht zu sehr über die Vergangenheit zu sprechen, möchte ich gleich zu Beginn den mir wichtigen Punkt hervorheben: Wir versperren uns einen Weg in die Zukunft, wenn wir die Vergangenheit ausschließen. Oder wie die Schriftstellerin Judith Schalansky schreibt: dass entgegen der landläufigen Annahme nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit den wahren Möglichkeitsraum darstellt[1].

Soll heißen: im Vergangen können wir erkennen, was sich von all den kühnen Behauptungen, was in der Zukunft getan werden müsse, tatsächlich praktisch vollzog. Und vergangene Praktiken können verändert werden.

Wir brauchen also Praktiken, das gelebte Tun, das gemeinsame Handeln, um so etwas wie Transformation – verstanden als Veränderung von Struktur und Ausrichtung – zu ermöglichen. Mit Hannah Arendt präziser: das Handeln in Öffentlichkeit. Also so zu handeln, dass das Einzigartige oder gerne auch Transformative unseres Tuns wahrgenommen und zur Referenz gesellschaftlicher Angelegenheiten und idealerweise von Entscheidungen werden kann. 

Wer hätte es nicht eindrücklicher erfahren können, als wir – Kinder einer untergegangenen Republik, die all den Modernisierungs- und Prosperitätsverheißungen zum Trotz erst Ostdeutsche wurden, dann zur krisengebeutelten und verlorenen sowie überflüssig gewordenen Gesellschaft ohne Arbeit gehörten, zur Avantgarde und Neuland. All diesen Diagnosen gemein ist, dass mit ihnen nicht nur gesellschaftliche Widerständigkeit behauptet, sondern auch praktiziert wurde. Wie lange diese durchgehalten und wie daraus Routinen werden können, das interessiert mich bei der Frage: Ostdeutschland/Transformation gestalten?

Im Sinne der zukünftigen Vergangenheit danke ich Ihnen sehr für Ihre mutige Einladung und die Möglichkeit hier zu sprechen. So möchte ich auch den pompösen Titel für diesen Abend „Frauen gestalten Ostdeutschland. Frauen gestalten Transformation.“ nicht mehr als Provokation verstehen, denn auch das BMBF hat unter einem ähnlich kühnen Titel anlässlich des Weltfrauentages eingeladen: 

Sag mir, wo die Frauen sind – Was tun für die Sichtbarkeit innovativer Frauen in Deutschland?

Entweder es steht gerade richtig schlecht um dieses Land, dem doch sonst nicht die Ideen ausgehen, oder der Fachkräftemangel macht es möglich … Äh nötig, dass die „stille Reserve Frau“ adressiert wird. 

Es ist wie ein Déjà-vu. Als ich vor 10 Jahren nach Görlitz zog, titelte die sächsische Zeitung: „Wo sind die jungen Frauen hin?“. Ist die Provinz hier etwa Vorreiter für eine gesellschaftliche Frage, die Sie nun auch auf Bundesebene beginnt zu interessieren?  

Heute stehe ich auch hier, weil Sie mich als akademisch qualifizierte Frau, als Sozialwissenschaftlerin, ansprechen, die auch noch in eben dieser ländlichen Gesellschaft lebt, zu der sie forscht und sich zu allem Übermut aktivistisch umtut. 

Das produziert überregional Aufmerksamkeit. An dieser Stelle befördert der ländliche Raum die Sichtbarkeit, der – statistisch gesprochen – wenigen (jüngeren) Frauen, die proaktiv Verantwortung übernehmen wollen. 

Ich möchte Ihnen kurz von der Vergangenheit berichten, in die ich bis heute involviert bin, auf der Suche nach Möglichkeiten, die Praktiken von Frauen für die Zukunft der Lausitz im Strukturwandel folgenreich zu beeinflussen:  

Es war einmal eine Gleichstellungsbeauftragte, die hieß Ines Fabisch, und die traf auf eine Soziologin in Ostsachsen – mich. Sie starteten eine Revolution durch Interpretation! 

Sie trafen sich dort, wo sie nicht mehr vermutet wurden: in ländlichen, peripheren Regionen wie die, in der sie lebten. Beide fragten: Wenn sie einander dort fanden und jede von ihnen weitere Frauen zu nennen wusste, so dass sich der Eindruck erhärtete, dass niemand die Frauen, die da waren, wahrzunehmen schien – Wo war der rote Teppich? Sie beschlossen also, jene vermisst geglaubte Spezies zu fragen: Wie geht das Bleiben in peripheren ostdeutschen Regionen? 

Frauen machen hier schon Strukturwandel, so unsere steile These, die wir empirisch rekonstruierten – allerdings gegen den Strich: 

ohne belastbare Strukturen – eher als Einzelkämpferinnen – als Marginalisierte. Die Schülerin und die Gleichstellungsbeauftragte ebenso wie die Unternehmerin oder die Ehrenamtliche. Strukturschwäche auf Ebene der Repräsentanz des eingangs beschriebenen öffentlichen Handelns. Gleichzeitig stellte ich in meinem Forschungstagebuch fest: Wie erstaunt bin ich, dass ich ständig auf jene vermisst geglaubten Wesen traf und immer noch treffe: Sie sprühen vor Ideen, welche Potenziale es in der Region zu heben gilt, nehmen prekäre Beschäftigung in Kauf, versorgen Kinder und Tiere, bauen Höfe und Häuser um, und vernetzen nebenbei, wer und was auch immer sich verknüpfen lässt. All jene, die nicht voneinander wussten. Und sie halten so manchen Laden am Laufen, der ohne sie kaum das Gehen gelernt hätte.

Apropos Gehen - Frauen beeinflussen die Transformationsprozesse in Ostdeutschland eben auch, weil sie gehen beziehungsweise gegangen sind. Ihr „kollektives“ Weggehen hinterlässt Leere, verursacht Brüche, schadet dem Zusammenhalt, verhindert Bleiben, reduziert Chancen, schrumpft Bevölkerung, beklagt das Verlassensein, den Verlust der Enkelkinder, beschämt und verunsichert die Verbliebenen! 

Die Dagebliebenen – Verantwortungsträger, bis auf wenige Ausnahmen männlich, waren keine Helden geworden, sondern tragische Figuren, die reflexartig zusammenzuckten, wenn wir sie einluden, über die Chancen für Frauen in ländlichen Regionen zu sprechen. Da seien sie die Falschen. Das können sie gar nicht beurteilen. Sie schicken mal die (einzige) Kollegin, die kümmert sich um Frauenthemen. 

Aber wir wollen über Regionalentwicklung, Bildung und Bleibebedingungen sprechen, insistiere ich. 

Hallo? 

Schon aufgelegt. 

Natürlich waren nicht alle so zurückhaltend, es gab auch jene, die damit beschäftigt waren, zu behaupten, es gäbe doch gar kein Problem. Überhaupt scheint es einen Zusammenhang zu geben zwischen der Behauptung, hier könne man(n) alles starten, wenn man(n) nur wolle. Chancengleichheit hätte man seit DDR-Zeiten doch längst erreicht. Man(n) könne doch nichts dafür, wenn die Frauen nicht wollen oder eben mit den Kindern nicht können. Man(n) kenne keine Frau, die hier unglücklich sei.

Und der häufig kritischeren Erfahrung vieler Frauen. Sie wollen nicht dazu beitragen, ja dafür herhalten, wirtschaftspotente Luftschlösser zu befördern oder den für sie bereiteten Erwerbsperspektiven im MINT-Bereich folgen. Dieser Widerspruch zwischen den meist männlichen Steuerungsideen: Wir bereiten Euch doch das Feld, wieso betretet Ihr es nicht? und der Entrüstung der Frauen: Die lassen uns gar nicht tun, was wir einbringen können und wollen – dies führt zu entkoppelten Praktiken. Die einen gingen. Die andern blieben, mit dem Gefühl, sie hätten alles getan, und waren sich keiner Mitverantwortung bewusst. Diejenigen Frauen, die es versuchten mit der Verantwortung in etablierten Führungspositionen, migrierten – teils ernüchtert – zurück in die Metropolen oder in deren Nähe, oder sie suchten den Rückzug, wenn Haus oder Hof es zuließen.

Um darüber angemessen reden zu können und ins Handeln zu kommen, gründeten wir mit zahlreichen Frauen eine Plattform: F wie Kraft. Wir wollten auf einen zwingenden Zusammenhang aufmerksam machen: das M (die männliche Masse) muss beschleunigt werden, damit Kraft entstehen kann: F wie Kraft ist also kein Karriereportal, keine politische NGO, sondern speist sich aus den Themen und Handlungen aus den Lebenswelten der Frauen aus all den Lebensbereichen, die sie in einer ländlichen Gesellschaft einnehmen – ihr Tun und ihre Praktiken zu zeigen war der erste Schritt. 

Der zweite, darin das Moment der Selbstorganisationsfähigkeit zu entdecken. Also von der Programmatik zum Handeln zu kommen. Sich gegenseitig zu unterstützen, zu Repräsentantinnen ihrer und unserer „Bleibenslebensweisen“ wie es meine Kollegin Melanie Rühmling in ihrer Dissertation beschreibt, zu werden. 

 

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Foto: Henning Schacht

 Was ich gelernt habe: Es geht nur lokal und in konkreten Beziehungen, die wir eingehen und aufbauen und indem wir versuchen, Routinen zu schaffen. Das ist ein aufwendiges Unterfangen. Wir haben weder erwartet, wie lange es dauern würde, noch wie aufreibend dieser Prozess für die eigenen Kraftressourcen ist. Aber es geht nicht anders und es macht so viel Spaß!

Immerhin: Heute haben wir ein Bündnis kommunaler Gleichstellungsbeauftragter in der Lausitz, die sich organisieren, um herauszufinden, wie sie im Strukturwandel agieren können und was das eigentlich mit Chancengleichheit zu tun hat. Sie organisieren sich, wenn das neue Gleichstellungsgesetz die Bedingungen zum Handeln in der ländlichen Gesellschaft unterschätzt. Und wir haben eine sichtbare Plattform geschaffen, über die wir eine wichtige Stärkung der Strukturen – ja eine gesellschaftspolitische Stimme geworden sind, von der Sie weiterhin hören werden. Ich bitte um Verständnis, wenn wir mal nicht erreichbar sind – das Land ist auch unser Rückzugs- und Erholungsraum, um nicht nach Berlin oder Leipzig ziehen zu müssen!

Vielen Dank, ich freue mich auf unser Gespräch!

 

Dr. Julia Gabler

… ist Vertretungsprofessorin im Master Management des Sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. Als Direktorin des TRAWOS Instituts beschäftigt sie sich unter anderem mit den Verbleibchancen qualifizierter Frauen in Ostsachsen sowie dem Strukturwandel in der Lausitz.

 

[1] Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp, S. 19.

"Was fehlt, ist der Blick auf die soziale Infrastruktur"

Interview mit der Gleichstellungsbeauftragten Manuela Dörnenburg über feministische Perspektiven im Brandenburgischen Strukturwandel

Manuela Dörnenburg, Gleichstellungsbeauftragte für das Land Brandenburg, war im Gespräch mit Marius Koepchen von der Universität Flensburg zum Thema Gleichberechtigung im Strukturwandel. Klar wurde: ein alleiniger Fokus auf wirtschaftliche Entwicklungen in der Lausitz wird nicht genug sein, um in der Region den nötigen Wandel anzustoßen – Entscheidungsprozesse brauchen eine soziale Perspektive.

Welche genderpolitischen Fragen sehen Sie im Strukturwandel in der Lausitz? Was sind Ihre Aufgaben als Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg?

Meine Aufgaben sind verschieden. Da ist zum einen der Kontakt zu den kommunalen und behördlichen Gleichstellungsbeauftragten, deren Ansprechpartnerin ich bin. Dabei geht es vor allem um den fachlichen Austausch, aber auch um Probleme, die die Kolleginnen in ihren jeweiligen Behördenstrukturen haben. Zum anderen informiere ich die Öffentlichkeit zum Thema Gleichstellung. Das ist ein weites Feld und bietet viel Raum, weil die Gleichstellung von Frauen und Männern eine klassische Querschnittsaufgabe ist, sodass kein politischer oder sozialer Bereich davon unberührt ist.

An den Aufgaben der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten kann man die Weite des Aufgabenfelds Gleichstellung besonders gut illustrieren. Die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten sind die Hüterinnen in ihren Verwaltungen, dass die Themen Vereinbarkeit von Familien und Beruf, gendergerechte Sprache, aber auch die möglichst paritätische Besetzung der Führungsebenen präsent sind. Andererseits tragen sie das Thema durch Veranstaltungen, Presse- und Vernetzungsarbeit in die örtliche Bevölkerung und arbeiten dafür mit sehr unterschiedlichen Menschen und Institutionen zusammen, zum Beispiel mit Seniorinnen oder Kindergartenkindern. Die Frage ist: Wie kriegen wir eine Gender-Perspektive in die Erziehungs- und Sozialstrukturen hinein? In dieser Vielfalt der Bevölkerungsgruppe, Mädchen und Frauen von 0 bis 100 Jahren, finden wir alles!

Die genderpolitische Frage im Lausitzwandel beginnt genau dort, wo die Menschen in der Lausitz leben und von dem Strukturwandel betroffen sind. Wir wissen, dass Lebensumstände von Frauen und Männern grundsätzlich unterschiedlich sind und die Frage ist, inwieweit das bei den Programmen und Fördermitteln in der Lausitz Beachtung findet.  

Das Bündnis der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten der Lausitz kritisiert genau diesen Punkt. Frauen werden, so deren Erfahrung, in ihren besonderen Belangen nicht berücksichtigt und auch nicht beteiligt. Deshalb, so die Kritik, laufen die Prozesse des Strukturwandels an den Bedürfnissen der Hälfte der Bevölkerung vorbei mit der Konsequenz, dass vor allem junge und gut ausgebildete Frauen die Lausitz verlassen.

Diese Prozesse sehe ich auch und unterstütze daher das Bündnis der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten der Lausitz.

Welche Bedarfe sehen Sie in der Lausitz und wie können die Strukturwandelgelder dabei helfen? Wie kann Ihrer Vorstellung von dem guten Leben in der Lausitz nähergekommen werden?

Es geht nicht um meine Vorstellungen von einem guten Leben oder dass ich Bedarfe definiere. Wichtig ist, dass im Strukturwandelprozess die betroffenen Menschen ihre Bedarfe äußern können, und dass diese Sichtweisen auch ernst genommen werden.

Die Strukturwandelgelder werden in Brandenburg zum Teil im Rahmen eines Werkstattprozesses vergeben. In den Werkstätten, die nach Themengruppen geteilt sind, sitzen Menschen aus der Wirtschaft, Vereinen, Institutionen, Kommunen aber auch Ministerien. Sie alle sind Fachleute und bringen ihre Expertise bei der Beurteilung der Projektanträge ein. Die Anträge werden von Unternehmen, Vereinen oder anderen Akteur*innen gestellt und erhalten von der Wirtschaftsregion Lausitz GmbH Unterstützung. Das ist erstmal ein guter und transparenter Prozess.

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Manuela Dörnenburg. Foto: https://msgiv.brandenburg.de/msgiv/de/beauftragte/landesgleichstellungsbeauftragte/

 

Die Fragen, die sich mir in dem Zusammenhang stellen, sind die nach den Kriterien, wonach ein Antrag auf Geschlechtergerechtigkeit überprüft oder eben auch nicht überprüft wird. Wer von der Bevölkerung ist wie von dem jeweiligen Projekt beeinflusst und hat etwas davon? Jeder Antrag müsste auf diese Frage geprüft werden und dazu braucht es wiederum Fachleute, die das bewerten können. Die gibt es meines Erachtens nicht. Das ist ein schwieriger Sachverhalt, weil wir damit dem gesetzlichen Auftrag nach Artikel 3 Grundgesetz, nämlich die Gleichheit zwischen Frauen und Männern herzustellen, nicht nachkommen.

Wenn wir also den Bedarf nach mehr Geschlechtergerechtigkeit im Prozess des Strukturwandels ausmachen, dann kann ich im Moment nicht sagen, wie in diesem Punkt die Gelder derzeit helfen. Es müssten oben beschriebene Kriterien zur Beurteilung von Projekten definiert und angewendet werden, es könnten aber auch entsprechende Genderprojekte entwickeln und bewilligt werden. Dazu bräuchte es wiederum Projektträger.

Eine Entwicklung hin zu dem Beschriebenen finde ich sehr wichtig. Gleichzeit ist das aber eher eine Metaebene. Das, was die Bevölkerung an Bedarfen sieht, ist dadurch nicht gehoben. Durch den Wegfall der Braunkohle wird sich die Wirtschaft in der Lausitz massiv verändern. Darauf wird ein starker Fokus gelegt. Aber was ist mit all den Menschen, und das sind vor allem Frauen, die nicht in der Braunkohle oder den Zulieferbetrieben arbeiten. Was ist im Rahmen des Strukturwandels mit all denen die im Dienstleistungs-, gesundheitlichen oder Bildungsbereich arbeiten? Welche Perspektiven zeigen wir auf, damit gerade die jungen Frauen die Lausitz nicht weiter verlassen, wie es in den letzten Jahren erfolgt ist?

Die Frage nach einem guten Leben kann in Bürgerbeteiligungsprozessen gut erarbeitet werden. Aber Bürgerbeteiligung ist nicht einfach so gemacht. Wer wird wie beteiligt? Wer kann sich wie äußern? Haben die meist weniger laut artikulierenden Frauen die gleiche Chance sich einzubringen, wie Männer? Wie erreiche ich die Menschen überhaupt?

Diese Überlegungen müssen der Bürgerbeteiligung vorweggestellt werden. Als ehemalige kommunale Gleichstellungsbeauftragte habe ich mit einem Kollegen zusammen ein Bürgerbeteiligungskonzept aufgebaut mit dem Ansatz des Losverfahrens, um sehr unterschiedliche Menschen in den Prozess einzubinden. Diese Prozesse brauchen aber viele Ressourcen, viel Zeit und ein politisches Umfeld, das bereit ist, die Ergebnisse dann auch anzunehmen.

An der Frauentagsveranstaltung in Altdöbern haben wir gesehen, wie dankbar die Frauen waren, dass sie gefragt wurden, wie sie ihre Umwelt gestaltet haben wollen. Vor allem die Älteren unter ihnen haben gesagt: Toll! Das habe ich jetzt mal sagen können und sehe auch, dass jüngere Frauen meine Meinung ernst nehmen. Genau das braucht es.

Wo sehen Sie die Ursachen für die Abwanderung gerade von jungen Frauen oder auch von Frauen allgemein aus der Region?

Während einige Studien aussagen, dass die Abwanderung von Frauen aus der Region aufgrund fehlender Perspektiven passiert, ist uns, beim genaueren angucken, klargeworden, dass wir eigentlich keine spezifischen Daten haben. Deshalb ist es wichtig, dass man bei diesem Thema zwischen ganz normalen Prozessen in der Entwicklung von Menschen und lausitzspezifischen Problemen unterscheidet.

Es ist durchaus üblich, dass junge Menschen die Region, in der sie aufgewachsen sind, verlassen, um etwas Neues kennenzulernen, zu studieren oder um eine Ausbildung zu machen. Es ist ebenso normal, dass einige von ihnen dann nicht mehr zurückkommen, weil sie jemanden kennenlernen und woanders ihre Familie aufbauen. Interessant ist aber doch, dass das bei den Frauen in der Lausitz häufiger vorkommt als bei den Männern.  Es kommen auch weniger zurück und da sollte schon gefragt werden, warum das so ist.

Bieten wir innerhalb der Lausitz und dieser Altersentwicklung genügend Signale, dass Menschen zurückkommen oder neu herziehen wollen? Da müssen wir ehrlich sagen, dass die Strahlkraft der Lausitz auch überschattet ist von dem Problem der nationalistischen Strukturen vor Ort, das Leute aus Metropolregionen abschreckt. Mit der Arbeit der Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg“, der RAA oder den Projekten, welche im Rahmen des Bundesprogrammes „Demokratie leben!“ gefördert werden, wird schon viel getan. Dennoch scheint das ein nicht unerheblicher Faktor zu sein, der Menschen davon abhält in die Lausitz zu ziehen, weil sie sich entweder daran erinnern, wie es in ihrer Jugend war, bevor sie weggezogen sind, oder es von woanders mitbekommen.

Darüber hinaus suchen junge Menschen in ihrem Zuhause ein umfangreiches kulturelles Angebot, dass sie häufiger in Städten finden können, da es dort mehr Theater und Museen gibt. Das bringt uns wieder zur Thematik der sozialen Infrastruktur aus der vorherigen Frage. Ein reiner Fokus auf einen wirtschaftlichen Strukturwandel der Lausitz vernachlässigt nicht nur den Aufbau einer sozialen Infrastruktur, sondern auch den einer kulturellen Infrastruktur. Um Menschen also neu oder wieder in die Region zu locken, benötigt es eine Kombination von Maßnahmen, die Frauen mehr Perspektiven auf ein modernes und kulturelles Leben in der Region geben, zum Beispiel über Fördergelder für lokale Bühnen. 

In Bezug auf die von Ihnen angesprochenen Veränderung, die es ihrer Meinung nach in der Lausitz bräuchte: Welche Utopien oder Zukunftsvorstellungen sehen Sie im Diskurs um den Strukturwandel in der Lausitz? Und welche Bereiche des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens profitieren gerade von den Fördergeldern?

Die Debatte um den Strukturwandel in der Lausitz dreht sich am meisten um die Frage, wie man die existierenden Industriestrukturen in eine neue Industrie überführen kann. Und das ist an sich auch nicht schlecht. Wenn wir aber diesen Ansatz aus einer Gender-Perspektive beleuchten, fällt auf, dass Veränderung oft beim Straßenbau aufhört. Ein Verständnis für die Relevanz von Erziehungs- Bildungs- und Care-Systemen fehlt. Die Annahme, dass Arbeiter einfach nur zum Betrieb kommen müssen, weil sie einen Partner oder eine Partnerin zuhause haben, die sich um die Kinder kümmert, verschleiert den Blick auf die wertvolle Care-Arbeit, die oft von Frauen neben einer 40-Stunden-Stelle geleistet werden muss. Wenn wir also richtiges Gender-Budgeting anwenden würden, könnten wir über die Frage, was Männer oder Frauen brauchen, hinwegkommen und anfangen Gelder einzuteilen, basierend auf dem, was wirtschaftlich und sozial von der Bevölkerung gebraucht wird, sodass alle davon profitieren können.

Welche Personen sind denn besonders sichtbar in diesem Diskurs? Konnten Interessengruppen von gesellschaftlich eher ungehörten Menschen wie Frauen oder queeren Menschen sich durchsetzen?

Ich glaube, dass es eine große Spannweite an Gruppen gibt, die den Eindruck haben nicht wahrgenommen zu werden. Genau da sind Bürgerbeteiligungen relevant, weil sie den Interessen des kleinen Dorfes eine Stimme gegenüber denen eines Großunternehmens geben. Welche Gruppen sich da jetzt durchsetzen kann ich nicht sagen, aber was klar ist, ist, dass der Zusammenschluss der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten und F wie Kraft schon ordentlich Kreise gezogen hat. In dem Zusammenhang war auch der Landtagsbeschluss zum Strukturwandel in Brandenburg wichtig, weil er klar den Bedarf nach Monitoring auch in Bezug auf die Geschlechterperspektive benennt. Geschlecht als strukturierende Kraft muss selbstverständlich implementiert werden. Darauf müssen wir achten und der Beschluss hilft dabei. Da kommen wir wieder zurück auf die Strukturen in den Werkstätten und wie sie verändert werden müssen, damit alle Menschen vor Ort sichtbar werden und die Projekte gewählt werden, die die Gemeinden sowohl wirtschaftlich als auch sozial voranbringen.

 

 

Manuela Dörnenburg...

... ist die äußerst engagierte Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg: https://msgiv.brandenburg.de/msgiv/de/beauftragte/landesgleichstellungsbeauftragte/

 

Paula Walk, Marius Koepchen, Johannes Probst und Josephine Semb...

 ... die Autorinnen des Interviews, sind Wissenschaftler*innen an der Europa Universität Flensburg und der TU Berlin. Sie beschäftigen sich mit der nachhaltigen Transformation des Energiesystems. Dabei legen sie in ihrer Forschung insbesondere einen Fokus darauf, wie diese Transformation einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit leisten kann.

 

Allein zurückkehren will niemand

Anfang 20 und gerade aus der Lausitz weggezogen. Kommt man jemals wieder? Unsere Autorin hat sich in ihrem Freundeskreis umgehört.

von Hanna Scheudeck

Jedes Jahr zu Weihnachten sind sie wieder versammelt. Wenn die Freundinnen und Freunde, mit denen ich meine Jugend im Kreis Bautzen verbracht habe, zu Besuch kommen, dann ist die Region wieder lebendig für mich. So geht es den anderen auch. Wir reden dann darüber, wie es wäre, wieder heimzukehren nach dem Studium. Doch wer macht den ersten Schritt? Allein will niemand in der Lausitz leben. Zu vage sind die Chancen, auf neue Menschen zu treffen, mit denen man seine Zeit verbringen möchte. Wenn ich zurückkehren will, muss ich wohl mein soziales Umfeld mitnehmen - oder einen Teil meines Soziallebens verzichten.

Bild Hanna Scheudeck

"Statt sich als 'Unbezahlbarland' oder Ähnliches anzupreisen wäre es ehrlicher zu sagen: Wir haben hier Probleme und wir brauchen Euch, um sie zu lösen."

Foto: Dim Hou     

 Wenn ich mir meine Zukunft vorstelle, würde ich mir wünschen, dass darin wieder die Lausitz vorkommt. Vielleicht habe ich auch mittlerweile eine romantisierte Vorstellung von der Gegend, weil ich zu lange weg war. Je konkreter ich es mir vorstelle, umso weiter rückt diese Zukunft in die Ferne. Umso stärker kehren die Erinnerungen zurück an das stundenlange Warten auf den Bus und das frustrierende Freizeitangebot.

 In Bautzen gibt es keinen Club in dem ich mit meinen Freundinnen und Freunden ausgehen könnte. Und die wenigen Bars in der Stadt werden kaum von Jugendlichen besucht. Dann wird mir wieder bewusst, dass soziales und kulturelles Angebot in der Region nur zustande kommt, wenn die Menschen sich selbst darum kümmern. Die schier endlosen Möglichkeiten, in der Großstadt seine Abende zu verbringen, können überfordern. Doch für mich haben sie auch ein großes Stück Freiheit bedeutet, auf das ich nicht so schnell wieder verzichten möchte.

Wenn Du studieren willst, musst Du weg

 Ich bin 2019 wegen meines Studiums nach Dresden gezogen. Das war keine bewusste Entscheidung gegen die Lausitz, eher eine logische Konsequenz: Wenn Du studieren willst, musst Du weg! Die Lausitz zu verlassen war der natürliche Verlauf der Dinge. Alle meine Freundinnen und Freunde machten es genauso. In meinem alten Wohnort kenne ich nun kaum noch Menschen in meinem Alter – sie alle sind fortgegangen. Nicht nach New York oder Paris – eher nach Leipzig oder Dresden. Ein paar wenige hat es auch nach Berlin verschlagen.

 In der Großstadt haben sie gefunden, was in unserer Region unvorstellbar war: Anonymität, ein lebendiges Sozialleben und eine Zukunftsperspektive. Sie sind weg gegangen, um tätowieren zu lernen, bei der Friseurausbildung nicht nur Haarschnitte für Frauen gehobenen Alters machen zu müssen oder in eine lebendige Musikszene eintauchen zu können. Ich bin gegangen, um Internationale Beziehungen zu studieren. Da war klar, das kriege ich in der Lausitz nicht. Und nutzen kann ich es dort auch nicht. Die Region bot mir keine Perspektive.

Jeder, der geht, hinterlässt eine Lücke

 Ich war schon früh politisch engagiert, zunächst in der Geflüchtetenhilfe, später organisierte ich Demonstrationen gegen Neonazis in Bautzen. Das wollte ich nicht aufgeben. Die Neonazis sind schließlich auch immer noch da. Anfangs kam ich häufig nach Hause, um an Treffen teilzunehmen oder Veranstaltungen zu planen. Doch mit der Zeit wurden die Leute, die ich dort kannte, weniger.

 Während die Menschen zu den fremdenfeindlichen Pegida-Demos nach Dresden strömten, brannte in Bautzen der Husarenhof. Das politisierte mich. In so einer Gesellschaft wollte ich nicht leben. Mit 14,15 Jahren hatte ich das Gefühl, wenn ich es nicht anpacke, dann macht es niemand. Das ist der Vorteil in einer Stadt wie Bautzen. Jede einzelne, die sich einbringt, kann eine Wirkung erzielen. Umgekehrt heißt das aber auch: Jeder, der geht, hinterlässt eine Lücke.

 Daraus ergibt sich eine Verantwortung, die unter meinen Freundinnen und Freunden durchaus Thema ist. Die meisten bevorzugen Engagement in der Provinz, wo die eigene Arbeit so dringend gebraucht wird. Wir fühlen uns mit der Region noch immer verbunden und wollen sie ein Stück besser machen.

Blumige Selbstdarstellung nervt

 Das geht natürlich nicht allen so. Einige aus meinem alten Freundeskreis statten der Lausitz nur einen Besuch ab, wenn es sich nicht vermeiden lässt und auch das nur mit einem mulmigen Gefühl. Wir alle haben erfahren, was es bedeutet, in einem Umfeld zu leben, das ein Nährboden für Rechtsextremismus ist. Für uns ist das nicht einfach ein Image, das der Osten Sachsens von irgemdwem aufgedrückt bekommt, sondern erlebte Realität. Wir wissen, dass Fremdenfeindlichkeit in unseren lauschigen Wohnorten immer wieder aufflammen kann und wir finden es unbegreiflich, dass das unter den Teppich gekehrt wird, statt es offen anzusprechen. Mich stört die blumige Selbstdarstellung der Lausitz, die in Imagekampagnen und Rückkehrerwerbung zum Ausdruck kommt. Statt sich als „Unbezahlbarland“ oder Ähnliches anzupreisen, wäre es ehrlicher zu sagen: Wir haben hier Probleme und wir brauchen Euch, um sie zu lösen.

 Die Lausitz wirbt bei Leuten meiner Generation, dass wir zurückkehren sollen. Ich kann damit wenig anfangen. Vielleicht wäre es schlauer den jungen Menschen eine Möglichkeit zu geben, dass sie die Lausitz gar nicht erst verlassen müssen. Dass sie in der Region bleiben können, weil ihr Studiengang auch in Görlitz oder Cottbus angeboten wird. Dass auch Bautzen eine Universität bekommt. Dass es mehr als eine Möglichkeit gibt, einen schönen Abend zu verbringen, und man danach auch noch nach Hause kommt. Dann werden die Versuche der sächsischen und brandenburgischen Dörfer und Kleinstädte, junge Menschen zur Rückkehr in die Lausitz zu bewegen vielleicht tatsächlich Erfolg haben. Dann wäre der Weg zurück kürzer und die Entscheidung leichter.

Hanna Scheudeck...

... 23, ist im Kreis Bautzen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Seit 2019 lebt sie in Dresden und studiert Internationale Beziehungen an der Technischen Universität.

Dieser Beitrag...

... erschien am 17.02.2023 in der Neue Lausitz - dem Magazin für tiefgründigem, analytischem und kritischem Journalismus mit Fokus auf die Transformationsprozesse in der Lausitz. Ihr wollt weiterlesen? Alle Infos findet ihr unter Neue Lausitz - Das Leitmedium für den Wandel

Kämpferische Gedanken zum 25.11.2022, dem internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen

Meinen Überlegungen möchte ich das Gedicht mit dem Titel „Dies ist kein Gedicht“ der argentinischen Lyrikerin und Fotografin Susana Thénon (1935-1991) voranstellen. Es stammt aus ihrem Gedichtband Habitante de la nada (deutsch Einwohner*in von Nirgendwo), der im Jahr 1959 in Buenos Aires erschienen ist. Das Gedicht, welches kein Gedicht ist bzw. sein will_sein soll, erweist sich als zutreffend für aktuelle Situationen und Gemengelagen. Die Zeilen resonieren und ragen ins Jetzt hinein, aktualisieren sich insbesondere auch vor dem Hintergrund der multiplen Krisen und Kriege auf poetische Art und Weise.

 

Das ist kein Gedicht

Die Gesichter sind dieselben,

die Körper sind dieselben,

die Wörter riechen abgestanden,

die Ideen nach altem Leichnam.

Dies ist kein Gedicht:

es ist ein Wutschrei,

Wut wegen der hohlen Augen,

wegen der unbeholfenen Wörter

die ich sage und die sie mir sagen,

wegen des Kopfsenkens

angesichts der Mäuse,

angesichts Gehirne voller Urin,

angesichts bleibender Tote

die den Garten der Luft verstopfen.

Dies ist kein Gedicht:

es ist ein universaler Fußtritt,

ein Schlag in den Magen des Himmels,

eine enorme Übelkeit

rot

so wie das Blut war bevor es Wasser wurde.

(eigene Übersetzung; S. Hettmann)

 

Der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen (trans und cis) Frauen, der jährlich am 25. November stattfindet, ist ein seit Jahrzehnten wichtiger Aktionstag im feministischen Kalender gegen patriarchale und männliche Gewalt an bzw. gegen FLINTA* (Frauen*[1], Lesben, Inter*, nicht-binäre, trans und agender Personen). Diese Dominanz- und Gewaltverhältnisse, gegen die wir ankämpfen und die wir sichtbar machen wollen, für die wir mehr Bewusstsein schaffen wollen, sind strukturell verankert und Ausdruck einer historisch gewachsenen und sich hartnäckig haltenden – sowohl latenten als auch manifesten – Geringschätzung, Verachtung und Zurückdrängung von Frauen und Queers. Weltweit erleiden nach wie vor unzählige Frauen und Queers männliche Gewalt und es ist erschütternd, wie viele diese patriarchale Gewalt nicht überleben; auch hier in der Lausitz nicht![2]

Es ist 2022 und immer noch ist jede dritte FLINTA* rein statistisch betrachtet mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen, wobei die Dunkelziffer sogar noch viel höher ist. Die Auseinandersetzung mit geschlechtsbasierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, die oftmals auf Misogynie und Transmisogynie, also auf Frauenverachtung und Frauenhass, Queerfeindlichkeit und Transphobie beruht, wird weltweit wieder breiter und mit Nachdruck geführt. Die globalen feministischen Bewegungen und Mobilisierungen haben in den letzten fünf Jahren stark an Kraft gewonnen, Millionen auf den Straßen versammelt und sie breiten sich unaufhaltsam aus.

Ein sehr eindrückliches Beispiel hierfür ist die Interventionsperformance „Un violador en tu camino/ Ein Vergewaltiger auf Deinem Weg“ vom feministischen Kollektiv Las Tesis aus Valparaíso/ Chile. Diese wurde am 20.11.2019 zum ersten Mal als Protest auf die Straßen Valparaísos getragen und hat rund um den kämpferischen 25.11.2019 für eine virale Explosion rund um die Welt gesorgt. Fortwährend wurde die Intervention, die Performance weltweit in Haupt-, Groß- und Kleinstädten, in verschiedenen Sprachen, von unterschiedlichsten Gruppen, von Frauen und Queers immer und immer wieder auf die Straßen und Plätze gebracht. So z.B. auch hier in der Lausitz, am 14. Februar 2020 in Cottbus.[3]

Das kraftvolle Ausdrucksgeschehen dieser feministischen Hymne, die unablässig durch den öffentlichen und digitalen Raum hallt, hat rund um den Globus einen Nerv getroffen: Wir haben das Patriarchat satt! Wir wollen ein Leben ohne Gewalt! Ein gutes Leben für A L L E ! Wir wollen alles verändern! Und wir sagen immer und immer wieder: Wenn sie eine anrühren, antworten wir alle!

Ich spüre, wie so oft, Dankbarkeit und tiefe Verbundenheit, Teil dieses lebendigen, bewegten und bewegenden, aktiven und aktivistischen, körperlichen und diskussionslustigen, kämpferischen und kreativen, innovativen und konfliktfähigen Feminismus besonders aus und in Argentinien, aber auch hierzulande zu sein. Ich bin dankbar, weiterhin lernen zu dürfen sowie, um es mit Suely Rolnik zu sagen, auch mein Unbewusstes fortlaufend zu de-kolonialisieren und eine anti-koloniale Haltung einzunehmen.

Für den hiesigen Kontext würde ich mir noch viel mehr Organisierung und intersektionale Kollektivität auf der Straße wünschen! Mehr Bewegung im doppelten Wortsinne, d.h. mehr Bewegung auf der Straße und auf den Plätzen. Den Körper einbringen/ „poner la cuerpa“ wie es feministisch gedacht und gewendet auf spanisch heißt bzw. in feministischen Kontexten gesagt wird: mit dem Körper präsent sein und Raum einnehmen — so wie es sehr viele Jahr um Jahr und auch am 25.11.2022 wieder taten und weiter tun werden! Und ich wünsche mir mehr Bewegung und Nachdruck hinsichtlich der dringend notwendigen – nicht zuletzt strukturellen– Veränderungen.

Gründung aus Edad sin tregua/ Pausenlose Zeiten (1958) von Susana Thénon

So wie die*der sagt: ich sehne mich

ich lebe, ich liebe

erfinden wir Worte

neue Lichter und Spiele,

neue Nächte

die sich fügen

mit den neuen Wörtern.

Schaffen wir

andere Götter,

weniger groß,

weniger fern,

knapper und wesentlicher.

Andere Geschlechter

schaffen wir

und andere dringende Notwendigkeiten

unsrige,

andere Träume

ohne Schmerz und ohne Tod.

So wie die*der sagt: ich komme auf die Welt

schlafe ich, lache ich,

erfinden wir

das Leben

neu.

(eigene Übersetzung; S. Hettmann)

Das Gedicht ist bereits aus dem Jahr 1958 und die Autorin Susana Thénon aus Argentinien, wo es seit einigen Jahren eine sehr große, ja eine massive, transversale und intersektionale Bewegung gibt, die gegen Gewalt an Frauen* und Queers auf die Straße geht und fordert, dass Staat und Gesellschaft endlich mehr gegen diese patriarchale Gewalt, vor allem gegen letale (= tödliche) Gewalt, also gegen Femizide tun. Auch hierzulande ist ein differenziertes Bewusstsein für patriarchale Gewaltverhältnisse, Dominanzbestreben und Femizide sowie mehr Schutz und Gerechtigkeit für die Betroffenen dringend nötig! Denn alle 72 Stunden wird in Deutschland ein Femizid vollendet; von den unzähligen Tötungsandrohungen und Femizidversuchen ganz zu schweigen. Und fast immer kommt der Täter aus dem sozialen Nahumfeld; ist er Partner oder Expartner gewesen.

Nach der bekannten Definition der Soziologin Diane Russell aus dem Jahr 1976 meint Femizid schlichtweg die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Femizide geschehen in einem Kontinuum an Gewaltspiralen. Verhängnisvoll ist, dass auch 2022 das eigene Zuhause der gefährlichste Ort für Frauen bleibt.

Mit künstlerischen Mitteln ermutigen Susana Thénons Gedichte nicht zuletzt zur Positionsbestimmung des eigenen Handelns und dazu, die Herrschaftsverhältnisse unserer Zeit zu ergründen sowie Einbildungskräfte, Imaginationen und utopisches Potenzial ins Feld der Fragen nach Alternativen zu führen. Das Kämpferische, Ermächtigende und Mutmachende wirken ins Jetzt, in unsere Gegenwart hinein und führen zu neuer Sinnstiftung, führen dazu Zusammenhänge neu bzw. anders sehen zu können, führen zu Anstiftungen das Leben neu zu erfinden: „Inventemos la vida nuevamente“.

Ins Jetzt ragt der Mut, Fragen aufzuwerfen und die vielversprechende Möglichkeit auf ein Leben ohne Angst, auf ein anderes Leben jenseits patriarchaler Zwänge. Es ist der Mut, für ein gutes Leben zu kämpfen, für Vielfalt und Gleichwertigkeit in der Gesellschaft einzutreten. Es sind Zeilen, die danach fragen, wie es mit der Humanität in unserer Gesellschaft bestellt ist angesichts der Gewaltverhältnisse, dem grassierendem Hass und der um sich greifenden bedrohlichen Gleichgültigkeit.

¡Ni una menos! ¡Vivas nos queremos!

Nicht eine weniger, keine weitere mehr! Wir wollen uns lebend!

 

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Bilder und Aktionsform „Proyectorazo“: S. Hettmann, Cottbus 2020

 

Dr. Sandra Hettmann...

... ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Multiplikatorin für feministische und gesellschaftskritische Themen. In Berlin, Potsdam und Buenos Aires hat sie Gender Studies und Hispanistik studiert. Sie forscht(e) zu Geschlechterverhältnissen, Bild-Text-Beziehungen und Lyrik und übersetzt gelegentlich Gedichte aus dem argentinischen Spanisch. Seit über zwei Jahrzehnten bewegt sie sich in feministisch-queeren Zusammenhängen. Gemeinsam mit Gefährt*innen hat sie Netzwerk Polylux aufgebaut. 2018 ist sie von Berlin nach Cottbus gezogen und fragt sich manchmal immer noch warum*weshalb*wieso? Sie ist passionierte Rennradfahrerin und die Lausitz ein ganz schönes Trainingsterrain für die sommerlichen Alpenüberquerungen, Pässe und Brevets.

 

 

[1] Umfasst cis, trans und inter* Frauen, vgl. z.B. https://interventionen.dissens.de/materialien/glossar

[2]  Siehe z.B.: https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/dreifache-mutter-gedenken-an-eine-in-cottbus-getoetete-frau-47367177.html

[3] Siehe: https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/protest-cottbuserinnen-setzen-provokantes-zeichen-gegen-vergewaltigungen-43512337.html und https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/feminismus-frauen-aus-cottbus-wehren-sich-gegen-gewalt-43762375.html sowie https://www.youtube.com/watch?v=iYI5y5_6Ses

Frauen sind dort, wo Neuland ist

Studien behaupten, dass zu wenig Frauen die Entwicklung im ländlichen Raum prägen. Ein Irrtum, sagt die Wissenschaftlerin Dr. Julia Gabler. Sie sind da – nur nicht gleich zu entdecken, weil sie einen anderen, ganzheitlichen Ansatz verfolgen.

Als ich 2013 nach Görlitz in Ostsachsen zog, hatten die Zeitungen gerade getitelt: „Wo sind all die Frauen hin?“ Fünf Jahre nach der Studie „Not am Mann“ des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bestätigte das Statistische Landesamt in Kamenz den Befund der Massenabwanderung
von Frauen aus den ländlichen Regionen in Sachsen erneut.

Eine Kollegin und ich kamen 2016 in  einer weiteren Studie zum selben Schluss, und auch 2021 wiederholten sich die Befunde der strukturell verhärteten Abwanderung jüngerer Frauen. Die anhaltende Aufmerksamkeit fürs Thema macht klar, warum es alle für so besonders halten, wenn in Projekten und Initiativen der Landgesellschaft Frauen aktiv sind: Wir geraten derart in Aufregungen darüber, als hätten wir eine selten gewordene Spezies entdeckt. Was für ein Irrtum. In einem Newsletter zu unseren Forschungen schrieb ich: „Wie erstaunt war ich, dass ich ständig auf jene vermisst geglaubten Wesen traf und immer noch treffe: Sie sprühen vor Ideen, welche Potenziale es in der Region zu heben gilt, nehmen prekäre Beschäftigung in Kauf, versorgen Kinder und vernetzen nebenbei, wer und was auch immer sich verknüpfen lässt, und halten so manchen Laden am Laufen, der ohne sie kaum das Gehen gelernt hätte.“

Was ist da also los? Auf der Suche nach den Frauen gerät man in einen Strudel von Daten. Zuletzt  machte der Lausitzmonitor – eine repräsentative Befragung in Südostbrandenburg und Ostsachsen – wieder deutlich: Der Wunsch nach Bildung und (Mit-)Gestaltung sind wichtige Faktoren, warum junge Frauen ihren ländlichen Herkunftsräumen den Rücken kehren. Warum einige lieber nicht gehen, ist aber auch interessant: Familie, Freundschaften und das Dorf, in dem sie leben, sind ihnen sehr wichtig. Doch nur bei wenigen überwiegt diese Bindungskraft, bei den meisten siegt das Fernweh als Flucht aus der Enge der weiten Landschaften, in denen sie ungesehen sind. Auf der Suche nach neuen gedanklichen Horizonten verlassen sie die bewegungsarmen Dörfer, weil kein Bus, kein Fahrrad und erst recht kein Auto (nachts) das Bedürfnis nach Nahverkehr befriedigt – den nahen Verkehr mit Gleichaltrigen, Gleichgesinnten und Andersgestimmten. Zu bleiben und zugleich Entwicklungschancen zu entdecken – diese Kombination ist selten, aber auch nicht ausgeschlossen.

Tine Jurtz Fotografie 2021 04 6091 klein quer

 

Was brauchen Frauen also, um bleiben zu können? Seit den 2010er Jahren ist das Thema Rückkehr aktuell. Nach den Abwanderungsprämien gibt es nun Heimatpakete und Rückkehrertelefone. Statistisch gesehen kehren mehr Männer als Frauen zurück. Das Tragische: Frauen gehen, weil sie sich bilden wollen – dann kehren sie zurück oder wandern gar zu und können mit ihrer Bildung erstmal nichts reißen. Männer finden deutlich leichter adäquate Jobs vor allem in Führungspositionen. Wie sich die Rückkehr für Frauen anfühlt, hat die Künstlerin Sabine Euler für die Plattform „F wie Kraft“ karikiert: „Hallo, bin wieder da! Ich habe frischen Mut, tolle Ideen und Top-Qualifikationen mitgebracht! Hallo? HAALLOOO!“

Erst sind sie baff, dann fühlen sich viele Frauen ignoriert und demontiert, wenn sie versuchen, in Wirtschaft, Verwaltung und öffentlicher Dienst qualifikationsadäquate Jobs zu finden. Wer sich selbstständig macht, klagt darüber, als Unternehmerin nicht ernst genommen zu werden oder über das Ideenstadium hinaus kaum Nachfrage zu bekommen. Einige werden den Verdacht nicht los, dass die Ideen dann aber trotzdem umgesetzt wurden. Leider von jemand anders. Mit viel Einsatz bauen sie sich ihre eigenen Wirkungsorte, damit sie eben nicht wieder nach Berlin oder Leipzig ziehen müssen.

Frauen sind also dort zu finden, wo Neuland entsteht. Sie besetzen leere Räume und funktionieren sie um, sie gestalten Kombinate, Kolabore und kollegiale Wirkungsorte wie Schulen und andere Häuser des Wandels. Dort sind sie meistens ganz vorne zu finden. Dabei
geht ihr Wirken häufig über die klassische Ehrenamtsarbeit hinaus. Nicht nur Kuchen backen für
das Vereinstreffen, sondern das Ganze im Blick haben: Wo kommt das Mehl oder die Milch für den Kuchen her? Wer soll was vom Kuchen abbekommen? Wo verteilen wir ihn, damit niemand so weit gehen oder fahren muss? Wie groß muss der Tisch für alle sein? Und was, wenn jemand kommt, von dem noch keiner weiß? Ach, ja: Musik wäre natürlich auch schön! Und – zack! – haben wir eine ganze Gesellschaft von Mit-Tätigen beisammen.


Und auch hier wächst eine neue Generation heran: Die noch viel jüngeren Frauen haben klarere Wirkungsansprüche als die Älteren – so macht es zumindest den Eindruck. Bei allem soll auch etwas herumkommen. Etwas, das sie zeigen können (auf Insta!). Meine Hoffnung ist, dass sie sich weniger an der Nase herumführen und mit vagen Aussichten locken lassen – denn mit losen Versprechungen passiert noch nichts. Das haben sie schon erfahren und der Blick in die Zukunft mahnt sie, lieber nicht so viel Zeit zu vertrödeln.

Das Tragische: Frauen gehen, weil sie sich bilden wollen – dann kehren sie zurück und können nichts reißen.

Female Future, Plan W, Zukunft ist weiblich – dieser seit 2012 zum Megatrend erklärten „shift“ von männerdominierter und -getragener Versorger-Politik hin zu einer alle Geschlechter und Personengruppen verbindenden vorsorgenden und fürsorgenden Haltung, ist überfällig: Haushalten und Vorsorgen mit den Ressourcen, die wir gebrauchen und verbrauchen. Fürsorge gegenüber den Menschen, mit denen wir leben. Voraussicht auf den Wegen, die wir gehen. Tätigkeiten,
Perspektiven und Blickwinkel auf das „Ganze“ – das können Frauen häufiger einfach besser. Wir brauchen also einander, um einen Zukunftspfad für alle zu bauen.

Für den Strukturwandel in der Lausitz zieht der Lausitz-Monitor eine traurige Bilanz: Frauen wollen sich in der Lausitz – für dieses „Ganze“ – nicht engagieren. Für mich kein Wunder: Ihre Themen für das Ganze fehlen, ein wirtschaftsgetriebenes, investitionsorientiertes und patriarchales Projekt lockt keine Frau hinterm Ofen vor. Es wird von oben verfügt und bleibt intransparent. Es gibt lediglich die Aussicht auf Beteiligung. Aber das ist noch längst keine wirkungsvolle Mitentscheidung. Und damit kein Gestaltungsanspruch auf eine andere Zukunft.


Dr. Julia Gabler...

... lebt in Görlitz. Sie lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz im Master Management Sozialen Wandels und forscht u.a. zum Strukturwandel und ländlichen Gesellschaften. Letzten Sommer hat sie mit ihrer Familie ein Haus in einem Dorf an der Neiße gekauft: Rufbus, kein Internet und Reichsbürgerflagge im Garten des Nachbarn. Sie kann es noch immer nicht fassen, dass sie das wirklich getan haben.

Dieser Beitrag...

... ist erschienen in der Kolumne: FREI SCHNAUZE! des ...

https://landlebtdoch.de/category/kolumne-frei-schnauze/

F wie Fliegen

Lisa sagt...

 

Als ich das erste Mal beim Lausitzerin Stammtisch war, war ich überwältigt und begeistert von dem ganzen Support den man dort bekommt. Ich habe unheimlich viele Ideen und wünsche für die Lausitz. Bei meiner Rückkehr in die Gegend habe ich mich relativ einsam gefühlt. Mein Freundeskreis lebt vor allem in Südbayern und hat mich oft gefragt, was ich denn in diesem „Loch“ will. Die Frage habe ich mir auch oft selbst gestellt. Sollte man für eine Beziehung in eine Gegend ziehen, in die man eigentlich nie zurück wollte?

Ich habe eine Weile gebraucht um mich hier wieder einzuleben und zu merken, dass ein Antrieb um hier zu bleiben auch sein kann, sich selbst einzubringen um die Gegend voran zu bringen. Ich habe überlegt, was für mich die entscheidenden Dinge sind, damit eine Region sich wie ein Zuhause anfühlt in dem man gern lebt. Meine Antwort darauf ist ganz klar: ein soziales Netzwerk, die Möglichkeit mein Hobby auszuführen und ein Job der mir Spaß macht und das notwendige finanzielle einbringt um die anderen beiden Dinge zu finanzieren.

Auf meiner Suche nach Möglichkeiten sich zu beteiligen und engagieren bin ich auf sehr vielen Umwegen auf F wie Kraft gestoßen. Als ich beim Stammtisch dann von meinen Sorgen und Wünschen erzählte bin ich auf unheimlich viel Verständnis und Unterstützung gestoßen. Schnell waren der Punkt Soziales Netzwerk und Job abgeklärt und ich erzählte von meinem Hobby, oder wohl eher meine Leidenschaft: dem Gleitschirmfliegen und dass es hier leider nur sehr wenig Piloten in der Gegend gibt. Der lokale Verein „Leichtflieger Oberlausitz“ umfasst bisher nur männliche Piloten und das finde ich sehr schade. Kurzerhand kam ich auf die Idee einen Schnupperkurs für F wie Kraft zu organisieren. Vielleicht lassen sich ja ein paar der anderen für den Sport begeistern.

Nach meinem Vorschlag dazu beim nächsten Stammtisch haben wir schnell 10 Frauen zusammenbekommen die Lust haben einmal selber abzuheben. Dank meiner Windenschleppausbildung kenne ich Gunter von Paradopia und der ist wie immer total motiviert Leuten das Fliegen beizubringen. Am 29.04. war es dann soweit und wir trafen uns am Wachtelberg bei Freital für den Schnupperkurs. Das Wetter war ideal und so konnten nach einer kurzen Einweisung zu Gleitschirm, Gurtzeug, Starttechnik und Sicherheit die ersten Versuche gestartet werden. Die Stimmung war super und alle hatten schnell Erfolgserlebnisse. Es war einfach wunderbar zu sehen, wie begeistert die anderen waren und wie jede bald ihren ersten Flug absolvieren konnte.

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Lisa in Aktion

Für mich war der Gleitschirmschnupperkurs ein voller Erfolg und ich freue mich hoffentlich bald ein paar der Teilnehmerinnen die schönen Fluggebiete in der Gegend zeigen zu können. Ich werde mich weiter für mehr Pilotinnen in der Lausitz einsetzen und gern auch weitere Schnupperkurse organisieren. Dank „F wie Kraft“ können Frauen in der Lausitz „F wie Fliegen“!

Marie sagt...

 

Als Lisa zum ersten Mal zum Lausitzerinnen-Stammtisch kam, erzählte sie uns von ihrem Hobby, dem Gleitschirmfliegen, und dass es in ihrem lokalen Verein ausschließlich Männer gibt. Und wie es beim Lausitzerinnen-Stammtisch nun einmal so ist, wird sofort beschlossen, das gemeinsam zu ändern und sich einzumischen. Nun ist das ja beim Gleitschirmfliegen aber natürlich nicht so leicht, denn das muss man ja erstmal erlernen. Als wenn das für uns Lausitzerinnen ein Problem wäre…

Lisa Ulbrich, 25 Jahre jung, Bauingenieurin aus Mittelherwigsdorf, Dreadlocks, Tattoos, viel herumgekommen, mit offenem Geist und Ambitionen, die Region mitzugestalten… organisiert ganz mir nichts, dir nichts, einen Schnupperkurs bei der Dresdener Gleitschirmschule Paradopia. Es finden sich zehn F wie Kraftlerinnen und nehmen sich am 29. April 2022 einen Tag frei, um abzuheben.

Wir treffen uns in der Nähe von Freital. Als wir ankommen und unseren Gleitschirmlehrer Gunther treffen, sehen wir zum ersten Mal den Übungshang. Sieht irgendwie flach aus… Wir können uns noch nicht so richtig vorstellen, was das werden soll.

Auf der Hälfte des Hanges angekommen, sieht natürlich alles schon wieder ganz anders aus. Da sollen wir also runterrennen?! Wir bekommen eine ausführliche Instruktion zum Anlegen der Schirme. Dann starten wir alle nacheinander. Dabei haben wir Walkie-Talkies im Rucksack, mit denen uns Gunther stets anweist, was zu tun ist. Bereits beim ersten Start heben einige der Teilnehmerinnen ab. Die Stimmung ist grandios. Alle haben Bock und sind begeistert. Nach dem zweiten Start fangen die Beine an zu zittern, teils wegen der Anstrengung beim Rennen („Lauf so schnell du kannst und gib alles!“) und teils wegen der Aufregung.

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Die F wie Flugschülerinnen und Lehrer Gunter

Auch während der Pausen entstehen neue Kontakte und erkenntnisreiche Gespräche. Nancy, 23, aus einem kleinen Dorf bei Bautzen, fühlt sich in ihrer Heimat sehr wohl und möchte am liebsten für immer dort bleiben. Das ist bei jungen Frauen selten und ich möchte gern mehr erfahren, da ich selbst oft Zweifel habe, ob die Lausitz wirklich der richtige Ort für mich ist. Doch da hebt sie schon wieder ab…

Mai, Manuela und Christine erzählen von ihrer Arbeit beim Landesverband Nachhaltiges Sachsen e.V. sowie bei der Dresdner Agenda 21. Erst zwei Tage vorher haben wir uns in einem Workshop zum Thema Öffentlichkeitsarbeit für Initiativen und Vereine über Social Media und Co. ausgetauscht. Direkt erproben wir unser neu gewonnenes Wissen und posten, was das Zeug hält. Die Instagram-Community spielt verrückt!

Cindy aus Hoyerswerda stellt recht schnell fest, dass sie wahrscheinlich in diesem Leben keine Profi-Gleitschirmfliegerin mehr wird und genießt den Rest des Tages mit den Anderen auf der Picknickdecke in der Sonne.

Mir selbst gelingt zwar der eine oder andere Start und ich hebe auch leicht ab, jedoch stürze ich bei meinem letzten Start und entscheide, eine Pause einzulegen. Ich will es aber auf jeden Fall nochmal probieren!

Franzi aus Weißwasser gelingt der Abheber des Tages. Sie fliegt über uns drüber und lässt dabei den Emotionen freien Lauf. Es geht das Gerücht um, dass man ihren Freudenschrei bis nach Freital gehört hat…

Na hui, wer fliegt denn da auf einmal ganz weit oben über uns drüber? Das ist natürlich Lisa. Sie kommt uns vor wie der mega-routinierte Vollprofi. Ist sie auch. Sie erzählt uns von ihren ganzen Ausflügen, die sie bereits mit anderen Aktiven erlebt hat, und aus dem Leben der Gleitschirmflieger*innen („immer einen Brühwürfel dabei haben!“). Ihre Erzählungen machen Lust auf mehr.

Am Ende des Tages sind alle wahnsinnig fertig und euphorisiert. Es hatte wahrscheinlich niemand von uns eine genaue Vorstellung, was uns erwartet. Wir sind überwältigt. Mindestens drei der Teilnehmerinnen interessieren sich nun ernsthaft für die Gleitschirm-Ausbildung. Go, Girls! Ihr findet ein neues Hobby und Lisa’s Verein wird ordentlich aufgemischt. Win-Win!

Gunter sagt...

 

Frauen haben schon seit Langem ihren Platz im Gleitschirmsport gefunden. Sie sind als Tandempilotinnen und Fluglehrerinnen tätig, nehmen an zahlreichen Meisterschaften teil und sind aus der Szene nicht mehr wegzudenken. Wie bei den Männern sind die meisten natürlich vorrangig zum Spaß, für das Naturerlebnis und für das immer wieder unbeschreibliche Gefühl des freien Fliegens mit dem Gleitschirm unterwegs. Nur schade, dass es immer noch zu wenige sind.
Deshalb war es für mich als Fluglehrer eine Freude, mal eine reine Frauengruppe der Initiative F wie Kraft bei einem Schnuppertag am Übungshang betreuen zu dürfen. Dank der Zielstrebigkeit und Begeisterung aller Teilnehmerinnen  wurde es ein zwar schweißtreibender, aber auch sehr erfolgreicher Tag mit ersten kleinen "Hüpfern" am Berg. Ich bin mir sicher, dass alle das Gefühl des scheinbar schwerelosen Fluges mit in den Alltag hinübernehmen konnten. Vielleicht lässt ja dieses Gefühl die eine oder andere auch nicht mehr los...

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Mehr über das Gleitschirmfliegen...

Fotos...

von Katrin Jeschke und Marie Melzer

Nächste Station Lausitz

Kohleausstieg und Strukturwandel erforscht aus einer Geschlechterperspektive    

              

Paula Walk, Marius Koepchen und Isabell Braunger

Wir haben uns mit Auswirkungen von Schrumpfungen in der Kohleindustrie auf Frauen und ihrer Rolle in Strukturwandelprozessen beschäftigt. Dabei wurde deutlich, dass insgesamt geschlechterbezogene Daten zu Kohleausstiegsprozessen kaum vorhanden sind und die Datenlage zum Kohleausstieg und Strukturwandel speziell in deutschen Kohleregionen besonders dünn ist. Um diese Forschungslücke zu bearbeiten soll nun der Strukturwandelprozess in der Lausitz aus einer Geschlechterperspektive analysiert werden. 

In der Diskussion um den Kohleausstieg und in den ihn begleitenden strukturpolitischen Maßnahmen liegt der Fokus auf den mehrheitlich männlichen Arbeitern in der Kohleindustrie. Dahingegen bleiben die Auswirkungen auf Frauen und ihre Rolle im Strukturwandelprozess oft unsichtbar. Unsere Untersuchungen zeigen indes auf, dass Frauen von historischen Strukturwandelprozessen in Kohleregionen anders betroffen waren und anders politisch aktiv wurden als Männer (Braunger und Walk 2022; Walk et al. 2021).

Die Bekämpfung der Klimakrise erfordert die Umstrukturierung des Wirtschafts- und Energiesystems. Zu dieser Umstrukturierung gehört der Ausstieg aus der Kohle als sehr wichtiger Schritt, denn es gibt günstige erneuerbare Alternativen für diese klimaschädlichste Form der Energieerzeugung. Die dadurch entstehenden Veränderungen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern stehen in Wechselwirkung mit bestehenden Machtungleichheiten. Genauer gesagt, betreffen sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen (z. B. Männer und Frauen) in unterschiedlicher Weise, weil sie über unterschiedliche Ressourcen (Anerkennung, Finanzkraft, Privilegien usw.) verfügen. Außerdem haben die verschiedenen Gruppen nicht die gleichen Möglichkeiten, sich an Strukturwandelprozessen zu beteiligen.

Titelbild Bärwalder

Bärwalder See - Symbol für den Wandel in der Lausitz (Foto: Marie Melzer)

 Häufig werden nur die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Strukturwandelprozessen (z.B. Beschäftigenzahlen) für ganze Regionen analysiert ohne dabei soziale Aspekte zu berücksichtigen (z.B. Drogenkonsum, häusliche Gewalt). Vor allem die in der Kohleindustrie beschäftigten Männer profitieren von diesem Fokus, während die negativen Auswirkungen auf Frauen in der Region ignoriert werden. Das kann zur Reproduktion bestehender Ungerechtigkeiten zwischen Frauen und Männern führen. Wenn politische Maßnahmen an die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen angepasst sind, kann die Energiewende eine Chance für die Gesellschaft sein, bestehende ungerechte Machtverhältnisse zu überwinden, anstatt diese Strukturen zu reproduzieren.

Forschungslücke: die Rolle der Frauen im Strukturwandel in der Lausitz

 Zur Rolle von Frauen im Strukturwandelprozess in deutschen Kohleregionen gibt es kaum Forschung. Bei unserer Recherche kamen wir auf lediglich 6 Publikationen für die Lausitz. In Rapportbuch: Frauen im Kraftwerk und in der Kohle 1957 bis 1996. beschäftigen sich Petra Clemens und Simone Rauhut damit, wie Frauen von stark sinkenden Beschäftigtenzahlen in der Kohleindustrie nach der Wiedervereinigung betroffen waren. Besonders die Positionen in den Kraftwerken, die in der DDR meist von Frauen ausgeübt waren (insbesondere der als Maschinistin), erfuhren eine Abwertung. Dies führte dazu, dass Frauen schneller als Männer ihren Job verloren. In Gewinnerinnen und Verlierer. Strukturbrüche auf dem Arbeitsmarkt im Transformationsprozess am Beispiel der Stadt Cottbus – eine erste Analyse. argumentieren Heike Jacobsen und Andrea Winkler, dass das auch damit zusammenhing, dass Frauen durch ihre familiären Verpflichtungen als nicht so attraktive Arbeitnehmerinnen galten. Es ist naheliegend, dass diese Benachteiligung von Frauen insbesondere mit den patriarchalen Geschlechtervorstellungen verbunden war, die in Westdeutschland noch stärker ausgeprägt waren. Darüber hinaus waren Frauen von der schnellen Abwicklung der Textilindustrie stark betroffen. Männer haben schneller wieder Jobs z.B. in der Rekultivierung der ehemaligen Kohleminen bekommen. Im Laufe der Zeit haben Frauen dann insbesondere in Behörden und im Dienstleistungssektor wieder Arbeit gefunden. Junge Frauen zeigen jedoch eine höhere Abwanderungsbereitschaft als Männer im gleichen Alter, weil sie nicht genügend attraktive Ausbildungsmöglichkeiten im Raum Cottbus vorfinden. Dieses Phänomen, dass Frauen sich weniger mit der Lausitz identifizieren und eher bereit sind aus der Lausitz weg zu ziehen bleibt bestehen, wie auch der Lausitz Monitor 2021 zeigt.

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Autorin Paula Walk

 

Frauen im Strukturwandel in Großbritannien und den USA: Was können wir daraus lernen?

Der Großteil der von uns gesichteten wissenschaftlichen Literatur bezieht sich auf die Strukturwandelprozesse in Kohleregionen in Großbritannien und in den USA (Braunger und Walk 2022, Walk et al. 2021).

Bei diesen zwei Strukturwandelprozessen gab es viele Parallelen in Bezug auf die Auswirkungen auf Frauen. Es kam in beiden Ländern zu einer Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen, insbesondere im Dienstleistungssektor. Diese Beschäftigung war meist schlecht bezahlt und prekär. Dennoch verschaffte sie den Frauen eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Trotz der Zunahme der Lohnarbeit, waren die Frauen nach wie vor auch hauptsächlich für die Sorgearbeit zuständig, was ihre Gesamtarbeitsbelastung erhöhte. In den ehemaligen Kohleregionen führte der Kohleausstieg teilweise zu einer Identitätskrise. In einigen Veröffentlichungen wurde berichtet, dass vor allem Frauen viel emotionale Arbeit leisteten, um diese Krisen zu lindern, soziale Netzwerke aufrechtzuerhalten und den Verlust sozialer Einrichtungen (wie z. B. früher von der Kohleindustrie finanzierte Jugendclubs) zu kompensieren. Der Verlust des Arbeitsplatzes und der Identität der ehemaligen Bergleute und die neue Rolle der Frauen als Hauptverdienerinnen führten auch zu Konflikten innerhalb der Familien.

Tine Jurtz Fotografie 2022 05 9259s

Autor Marius Koepchen

Was den Beitrag der Frauen im politischen Prozess rund um den Kohleausstieg angeht, so sind die beiden Fallstudienländer, Großbritannien und die USA, sehr unterschiedlich. Die Literatur über Großbritannien konzentriert sich hauptsächlich auf die Rolle der Frauen bei Bergarbeiterstreiks. Sie wollten die Kohlearbeiter in ihrem Bemühen unterstützen, so viele Kohlebergwerke wie möglich vor der Schließung zu bewahren. Weil für sie der Zugang zu wichtigen Organisationen, insbesondere zu den Gewerkschaften, weitgehend verwehrt war, gründeten sie ihre eigenen Organisationen, die landesweit vernetzt waren und viel Widerhall in den Medien fanden. Die Literatur über die USA bezieht sich vor allem auf eine Kohleregion, die Appalachen, und behandelt die Rolle der Frauen in Anti-Kohle Bewegungen. Diese gewannen an Bedeutung, als die umweltschädliche Bergbaumethode des Mountain Top Removal[1] sich verbreitete. Die Proteste wurden meist von Frauen angeführt. Sie wurden von dem Wunsch angetrieben, ihre Heimat zu schützen, während Männer eher davor zurückschreckten, in dieser Bewegung aktiv zu werden, weil sie emotional stärker mit der Kohleindustrie verbunden waren.

Handlungsempfehlungen für einen geschlechtergerechten Strukturwandel

Um Strukturwandelprozesse geschlechtergerechter zu gestalten, haben wir aus unseren Untersuchungen folgende erste Empfehlungen abgeleitet:

A) Die Arbeitsbedingungen in Sektoren, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten (Pflege, Dienstleistungssektor usw.), sollten nicht nur, aber besonders während des Kohleausstiegs verbessert werden, da die Entwicklung des Dienstleistungssektors eine wichtige wirtschaftliche Säule für ehemalige Kohleregionen sein kann.

B) Umschulungs- und Weiterbildungsangebote sollten nicht nur für Männer, die in der fossilen Industrie beschäftigt sind, zugänglich und auf sie zugeschnitten sein, sondern auch Frauen in den vom Strukturwandel betroffenen Regionen ansprechen.

C) Sorge- und emotionale Arbeit im Rahmen von Strukturwandelprozessen sollte stärker gewürdigt und die Finanzierung von sozialen und kulturellen Einrichtungen sichergestellt werden.

D) Selbsthilfegruppen oder andere Formen der psychologischen Unterstützung für ehemalige Bergleute/Männer zur Bewältigung des Verlustes des (sehr identitätsstiftenden) Arbeitsplatzes sollten gegründet und gestärkt werden.

E) Die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung mit Pflege- und Betreuungseinrichtungen sollte sichergestellt werden. Dies ist Voraussetzung für die Beteiligung von Frauen an Strukturwandelprozessen, weil sie ungerechterweise immer noch den Hauptteil der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen.

F) Die Interessen von Frauen sollten besser institutionalisiert werden, z.B. durch die Sicherstellung einer paritätischen Vertretung von Frauen in Entscheidungsprozessen (Expert*innengremien, Kommunalpolitik, etc.).

https://lausitz-monitor.de/artikel/die-sicht-der-juengeren-frauen-auf-die-lausitz/

Nächste Station Lausitz

Im Zuge des 2020 verabschiedeten Strukturstärkungsgesetzes, das mit einem 40 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm für die Kohleregionen verbunden ist, stellt sich die Frage, wie diese Mittel eingesetzt werden können, damit die Lausitz gerade für (junge) Frauen wieder eine attraktivere Region wird. Dieser Frage möchten wir in unserem nächsten Forschungsprojekt nachgehen. Zum einen möchten wir (junge) Frauen befragen, welche politischen Maßnahmen ihre Lebensqualität in der Region verbessern würde. Zum anderen untersuchen wir die politischen Prozesse in denen entschieden wird, welche Projekte mit den Strukturwandelgeldern gefördert werden. Hier ist insbesondere von Bedeutung herauszufinden, inwiefern Frauen gleichberechtigt beteiligt sind. Die Geschlechterperspektive auf den Strukturwandel geht aber über die konkreten Bedarfe und Interessen von Frauen hinaus. Eine feministische Perspektive auf den Strukturwandel bedeutet, auch kritisch zu beleuchten, welche Bereiche des Lebens als relevant für den Strukturwandel angesehen werden. Welche Bedeutung wird in offiziellen Dokumenten zum Strukturwandel (wie beispielswiese im Brandenburger Lausitzprogramm 2038) den Wirtschaftsbereichen Care, Pflege und Bildung zugesprochen? Inwiefern wird unbezahlte Sorgearbeit, emotionale und kommunale Arbeit als wichtiger Teil im Strukturwandel anerkannt? Sorgearbeit bleibt oft unsichtbar und wird für selbstverständlich genommen. Selbst die Menschen, die diese Arbeit leisten, wissen oft nicht, wie zentral sie für unsere Gesellschaft ist.

Die Sichtbarmachung von patriarchalen Strukturen im Lausitzer Strukturwandel soll einen wichtigen Beitrag auch für andere Kohleregionen leisten, die den Ausstieg erst noch vor sich haben. Sie sensibilisiert dafür und zeigt, wer im Strukturwandelprozess Entscheidungen trifft und wessen Bedürfnissen und Interessen nachgegangen wird – und welchen nicht. Wenn die Geschlechterperspektive mitgedacht wird und der Umbau des Energiessystems explizit genutzt wird, um bestehende Ungleichheiten abzubauen, kann die Transformation des Energiesystems nicht nur zu einer umweltschonenderen, sondern auch zu einer sozialeren und feministischeren Wirtschaftsweise beitragen.

Paula Walk, Marius Koepchen und Isabell Braunger...

 ... sind Wissenschaftler*innen an der Europa Universität Flensburg und der TU Berlin. Sie beschäftigen sich mit der nachhaltigen Transformation des Energiesystems. Dabei legen sie in ihrer Forschung insbesondere einen Fokus darauf, wie diese Transformation einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit leisten kann.

Die Fotos der Autorinnen...

... sind entstanden auf der F wie Kraft - Veranstaltung "Frauen.Machen.Lausitz" am 7. Mai 2022 in Altdöbern - vielen Dank an Tine Jurtz!

Literatur 

Braunger, I./ Walk, P. (2022): Power in transitions: Gendered power asymmetries in the United Kingdom and the United States coal transitions. Energy Research & Social Science 87: 102474. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2214629621005612

Clemens, P./ Rauhut, S. (1999): Rapportbuch: Frauen Im Kraftwerk Und in Der Kohle 1957 Bis 1996.

Jacobsen, H./Winkler, A. (2011): Gewinnerinnen und Verlierer. Strukturbrüche auf dem Arbeitsmarkt im Transformationsprozess am Beispiel der Stadt Cottbus – eine erste Analyse. Lehrstuhl für Wirtschafts- und Industriesoziologie, BTU Cottbus

Walk, P./ Braunger, I./ Semb, J./ Brodtmann, C./ Oei, P./Kemfert, C. (2021): Strengthening Gender Justice in a Just Transition: A Research Agenda Based on a Systematic Map of Gender in Coal Transitions. Energies 14: 5985. https://doi.org/10.3390/en14185985

 

[1] Beim der als besonders umweltschädlich eingestuften Kohleabbau Methode „Mountain Top Removal“  werden die Spitzen von Bergen abgetragen, um die Kohle freizulegen.

 

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Wir haben gar keine andere Chance, als Allianzen zu bauen

Ein Samstag auf dem Land, ein Gespräch über die treibende Kraft für die Transformation des ländlichen ostdeutschen Raums, die Frauen. Das LAND.-Magazin hat eine lange Tafel reserviert – und Menschen eingeladen, die den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben: Politiker*innen und Wissenschaftler*innen, Ostdeutsche und Zugezogene, Engagierte und Innovationsfreudige. Das Protokoll eines intensiven Austauschs bei Soljanka und französischem Apfelkuchen.

 

IMG_9300_2_Kopie.jpgTeilnehmende des LAND.-Gespräches
 Foto: Jörg Gläscher 

 

Wurzen im Januar. Auf Dächern, Straßen und Bürgersteigen liegt eine dünne Schneedecke. Der zwei Kilometer lange Weg vom Bahnhof bis zum Landgasthaus Dehnitz führt vorbei an Einfamilienhäusern, später am Kleingartenverein Muldenaue. Dann schieben sich links das Naturschutzgebiet Wachtelberg-Mühlbachtal und der Bismarckturm ins Bild. Am Rand des Grüns steht seit 1848 ein Gasthaus, heute gehört es Kathrin Lehne. Sie hat es saniert, zum Speiselokal mit Saalbetrieb ausgebaut. Auf der Speisekarte finden sich Hirschbraten und Würzfleisch im Blätterteigtörtchen. Hier, dreißig Kilometer von Leipzig und neunzig von Dresden entfernt, findet das „LAND-Gespräch“ zum Thema „Frauen und der gesellschaftliche Wandel“ statt.

Das Format lehnt sich an das „Stadtgespräch“ des Magazins der Süddeutschen Zeitung an. Die Regeln sind schnell erklärt: Die Gastgeber und ihre Gäste setzen sich gemeinsam an einen langen Tisch, um 13 Uhr geht es los, das Ende ist offen. Es bleibt den Gästen überlassen, wann sie kommen – und wann sie wieder gehen. So wechseln die Konstellationen, treffen immer wieder neue Ansichten, Erfahrungen und Perspektiven aufeinander. Verbindungen entstehen. 

Kathrin Lehne hat den Tisch für das LAND-Gespräch im Jagdzimmer gedeckt. An den Wänden hängen Geweihe und eine Schrotflinte, in einer Ecke hängt kopfüber ein ausgestopfter Fuchs über einem weißen Marder. Auf dem Buffet stehen Soljanka, der ostdeutsche Klassiker, vegane Rote Bete-Suppe und französischer Apfelkuchen. 

Die Rolle von Frauen im ländlichen Raum, Engagement, soziale Innovation – Lehne interessiert das Thema sehr. Ihr fallen auf Anhieb zwei Frauen aus dem Ort ein, eine arbeitet mit Jugendlichen, die andere ist in die Lokalpolitik gegangen. „Die hättet ihr einladen können“, sagt sie. Dass wir sie mit an den Tisch bitten, scheint sie zunächst zu verunsichern. Dann aber nimmt sie am Kopfende Platz, neben ihr sitzt bereits Marika Vetter, die pünktlich um 13 Uhr den Gasthof betreten hat. Vetter ist Gemeinderätin und Initiatorin des Projekts „Frauen bauen – Frauen als Bauarbeiter- und Handwerkerinnen“. Sie hat gerade knapp 200 Kilometer Fahrt hinter sich und klappt den Laptop auf, um sich Notizen zu machen.

Frau Lehne, dürfen wir Ihnen einen Kaffee bringen?

Kathrin Lehne (lacht): Na, das ist aber ungewohnt … Aber ne, danke, wenn ich jetzt einen Kaffee trinke, kann ich heute Nacht nicht schlafen.

Marika Vetter schaut auf ihren Bildschirm, scheint etwas zu suchen.

Marika Vetter: Hier. Es gibt Statistiken, die zeigen, dass soziales Engagement auf dem Land von Frauen ausgeht. Das hat vor allem mit den tradierten
Rollenverteilungen zu tun. Sich für das „Soziale“ einzusetzen, wurde Frauen anerzogen. 

 

IMG_9613_2_Kopie.jpgMarika Vetter
Foto: Jörg Gläscher
 
 
Kathrin Lehne: Mein Mann hatte immer seinen Fulltime-Job, ich eine 30-Stunden-Stelle – und hab` mich um all das gekümmert, was zu Hause zu tun war. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich das so gemacht habe.

Vetter und Lehne werden von der Ankunft von Margret Feger unterbrochen. Feger ist 62 Jahre alt, gelernte Bio-Laborantin und Initiatorin eines Projekts, das in ihrem Wohnort Belleben in Sachsen-Anhalt das leerstehende Gemeindehaus als offenen Bürgertreff wiederbelebt (Ihre Arbeit stellen wir ausführlicher auf Seite 73 vor). Gleich nach ihr erscheint Tobias Burdukat, 39, Sozialarbeiter und Geschäftsführer eines solidarischen Unternehmens in Grimma. „Ah, da kommt Pudding“, sagt jemand am Tisch. Man kennt sich. Burdukat, Spitzname Pudding, hat Soziale Arbeit inklusive Master studiert und bezeichnet sich selbst als Antifaschist und Anarchist. Er setzt sich mit einer Apfelschorle neben Marika Vetter und hört erst einmal nur zu.  

Margret Feger legt stattdessen gleich los. Sie habe eigentlich einen Dorfladen eröffnen wollen, erzählt sie. Daran sei im Prinzip ihr Mann schuld: „Er ist Rentner und muss ab und zu mal an die Luft.“ Und das täte er öfter, gäbe es im Ort einen Laden. Gelächter. Man solle sie bremsen, wenn sie zu viel rede, sagt Feger, und fährt fort. 

Margret Feger: Ich habe mich am Anfang bei der Agrarsozialen Gesellschaft in Göttingen über Konzepte für den ländlichen Raum informiert. Viele Ostdeutsche bilden sich ja ein, es ginge ihnen besonders schlecht. Aber das ist Quatsch, das Problem der Schlafdörfer gibt es im Westen genauso. 

Glauben Sie, dass Frauen Gemeinschaft stärker brauchen und sie sich deshalb auch mehr für sie einsetzen?

Margret Feger: Meine Theorie ist: Frauen sind nicht genügend gefordert in den Jobs, die ihnen angeboten werden. Es gibt viel zu wenig weibliche Führungskräfte. Ich habe eine gute Ausbildung, aber 30 Jahre lang in Aushilfsjobs gearbeitet. Erst jetzt, beim Recherchieren, Planen und Umsetzen des Projekts läuft mein Hirn auf Hochtouren. Die Wirtschaft nutzt das Potential von Frauen nicht. Deshalb mache ich jetzt mein eigenes Ding.

Kathrin Lehne: Das ist auch mein Weg. Mit dem Gasthof verwirkliche ih meine eigenen Ziele.

Gibt es bestimmte Eigenschaften, die Menschen – Männer oder Frauen – brauchen, um gesellschaftlich aktiv zu werden?

Tobias Burdukat: Frauen sind über Jahrhunderte hinweg vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen worden. Aber sie haben früh begonnen, sich selbst zu organisieren. Daraus ist im Prinzip der gesamte Fürsorgebereich entstanden, den sie sich abseits der Welt der Männer angeeignet haben. Ich würde sagen, in Frauen steckt eine größere Fähigkeit zur Selbstorganisation als in Männern. Das merke ich auch in meiner Arbeit mit jungen Menschen. Es sind vor allem die Mädchen, die aktiv werden wollen. 

Ist es also besonders wichtig, Mädchen entsprechend zu fördern?

Tobias Burdukat: Ja, weil es auf dem Land kaum Angebote für sie gibt. Es sei denn, sie interessieren sich für Fußball oder wollen zur Freiwilligen Feuerwehr. Viele Mädchen gehen weg, wenn sie volljährig sind. In ländlichen Regionen bleiben in der Altersspanne zwischen 18 und 30 Jahren vor allem die jungen Männer. Sie fühlen sich familiär in der Pflicht, zum Beispiel den Hof zu übernehmen.

Margret Feger: Aber liegt das nicht auch daran, dass Frauen heute besser gebildet sind und wegen eines guten Jobs in die Stadt gehen?

Tobias Burdukat: Ein höherer Abschluss macht es ihnen, teils sicher unbewusst, leichter, dem Land den Rücken zu kehren, das stimmt.

Hat jemand von Ihnen ernsthaft darüber nachgedacht, in die Stadt zu ziehen?

Margret Feger: Ich bin in der DDR aufgewachsen, in einem ganz kleinen Dorf in Mecklenburg. Damals konnte man nicht einfach umziehen, sonst wären viel mehr junge Leute aus ihren Dörfern abgehauen. Meine Eltern haben überhaupt nicht verstanden, warum ich ­als lediges Mädchen wegziehen wollte.

Tobias Burdukat: In der DDR sollte die Frau eine starke sozialistische Arbeiterfrau sein, die es hinbekommt, am Fließband zu arbeiten und gleichzeitig die Kinder großzuziehen. Sie hat alles übernommen und das wurde heroisiert. Diese Rolle galt als erstrebenswert, ja, als Auszeichnung. 

 

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Kathrin Lehne
Foto: Jörg Gläscher 

 

Kathrin Lehne: Die typische Hausfrau, die gab es praktisch nicht. Als meine Kinder klein waren, konnten die Männer nicht zuhause bleiben. Heute ist das zum Glück alles offen. Dafür sollte man jeden Tag dankbar sein. 

Aber auch die jüngeren Generationen sind noch von den alten Rollenbildern geprägt.

Marika Vetter: Die Dinge ändern sich nur, wenn die Gesellschaft – und das ist jede*r von uns – aktiv mitarbeitet. Wir müssen, um ein Beispiel zu nennen, die sozialen Berufe für alle attraktiver machen, nicht nur für Frauen. Nicht jede Frau will einen sozialen Beruf ergreifen! In Dresden gibt es für Nachwuchswissenschaftlerinnen einen Physikerinnen-Stammtisch, um sie gezielt zu vernetzen und zu fördern. Im ländlichen Raum fehlt so etwas.

Margret Feger: Das Problem ist: Die Kommunalpolitik fördert nur Städte. Belleben, mein Dorf, ist wie so viele andere Ortschaften eingemeindet worden. Bis in die Stadt sind es 15 Kilometer – was nützt es mir also, wenn dort Geld in Kultur oder andere Projekte fließt?

Tobias Burdukat: Die Eingemeindung ist ein Problem für die Dörfer. Vergangenes Jahr habe ich mir den Spaß gemacht, durch alle 64 Ortsteile zu laufen, das waren 166 Kilometer. Manche Ortsteile liegen fast 30 Kilometer von Grimma entfernt. In diesen Dörfern kommt nichts an. Die Busverbindungen sind schlecht und es gibt keine ordentlichen Radwege. Ich stimme Margret zu: Alles Geld fließt in die Stadt.

Corinna Köbele betritt den Raum und nimmt auf einem freien Stuhl neben Margret Feger Platz. Die 60-Jährige kommt aus Kalbe an der Milde, einer Stadt mit 7000 Einwohnenden in der Altmark. Köbele hat vor zehn Jahren das Projekt „Künstlerstadt Kalbe“ gegründet: Sie beschloss, den Leerstand einfach umzudeuten, als Luxus der Leere, als Raum und Ort der Muße für die Kunst. Künstler*innen aller Kunstrichtungen kommen seitdem für einen Sommer- oder Wintercampus nach Kalbe, um dort zu arbeiten und ihre Werke auszustellen. 

 

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Tobias Burdukat
Foto: Jörg Gläscher

 

Frau Köbele, warum sind Sie ­
aus dem Rhein-Main-Gebiet 
aufs Land nach Sachsen-Anhalt gezogen?

Corinna Köbele: Ich hatte ein interessantes Jobangebot. Ich bin Psychologin und in Kalbe wurde eine Klinik eröffnet, die mich unbedingt haben wollte. Ich musste erst mal auf der Karte suchen, wo Kalbe ist.

Wie sind Sie dort warm geworden?

Corinna Köbele: Ich male, also bin ich in einen Künstler*innen-Kreis eingetreten. Und in den Kirchenchor. Viele Kolleg*innen aus der Klinik verschwanden aber nach einem Jahr wieder. Die haben nicht angedockt. Ich hatte schnell den Wunsch, etwas anzuschieben. Mich hat die Trägheit der Verwaltung eher motiviert. Es gab dort so gar keine Ideen, was man mit dem ganzen Leerstand machen könnte. Ich hatte schon welche. Des Öfteren denke ich, wäre ich ein Mann, wäre die Entwicklung der Künstlerstadt um einiges leichter vonstatten gegangen.

Warum?

Corinna Köbele: Ich muss mich ständig legitimieren, weil ich das klassische Rollenbild in Frage stelle. Ich bekomme Dampf von Männern, aber auch den Frauen, weil ich offensichtlich deren Lebenskonzept in Frage stelle. Ich bin ledig, habe keine Kinder, aber durch meinen Beruf einen gewissen Status, eine eigene Praxis, fahre ein Auto, das man als Frau normalerweise nicht fährt …

Maike Steuer (grinsend): Fährst Du einen dicken SUV, oder was?

Die Journalistin aus Thüringen hat vor fünf Minuten am Kopfende des Tisches Platz genommen; dort, wo die wieder an die Arbeit gegangene Landhaus-Wirtin Kathrin Lehne saß. Steuer, 40, stammt aus Brilon im Sauerland, sie kam 1992 mit ihren Eltern nach Ostdeutschland, ins Altenburger Land. Nach Stationen in Leipzig und Indien lebt sie seit ein paar Jahren in Kriebitzsch – und hat dort den alten Konsum gekauft. Ihr Ziel: das Erdgeschoss mit Kreativangeboten zu bespielen und zum Dorf-Treffpunkt zu machen.

Corinna Köbele: Nein, nein! Aber ich besitze auch noch ein Haus. 

Maike Steuer: Du machst aber auch Sachen! 

Margret Feger: Du hast deinen Stand, Corinna, und musst dich trotzdem ständig legitimieren. Da kannst du dir ja vorstellen, wie ich als     Einzelhandelsverkäuferin um meine Ideen kämpfen muss. Ich bin tatsächlich gefragt worden, ob ich mir das Ganze in meinem Alter – ich bin Anfang 60 - noch antun wolle. Einen Mann hätte das niemand gefragt. 

Maike Steuer: Bei mir heißt es immer: „Und was ist mit den Kindern?“ Ich antworte dann: „Na, die existieren weiter!“ Ich kann mich doch engagieren, ohne dass meine Kinder gleich leiden.

Margret Feger: Meine Kinder sind schon erwachsen. Bei mir heißt es dann: Was sagt eigentlich dein Mann dazu?

Gibt es auch andere Frauen, die Sie spüren lassen, dass Ihre Aktivitäten unerwünscht sind?

Corinna Köbele: Scheinbar bin ich für viele das personifizierte schlechte Gewissen, weil ich etwas in die Hand nehme und sie selbst nicht. Vielleicht deshalb, weil sie sich nicht trauen. 

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Maike Streuer
Foto: Jörg Gläscher

 

Maike Steuer: Ich spüre diese Haltung manchmal auch: „Jetzt kommt da diese Externe und verbreitet Unruhe …“ Die Leute haben es sich in dem Nichts um sie herum gemütlich gemacht.

Corinna Köbele: Uns wurde vorgeworfen, wir brächten zu viele Menschen nach Kalbe.

Tobias Burdukat: Das ist in Grimma auch so. Kultur und Leben in der Stadt? Da könnten sich ja Menschen wohlfühlen! Sich bei uns irgendwo zu versammeln, provoziert sofort eine Polizeiverordnung und eine Alkoholverbotszone. Unser Bürgermeister wünscht sich keine Demokratieprojekte, sondern einen starken Staat. 

Sie sprechen alle von Bürgermeistern – gibt es auch Frauen im Amt?

Corinna Köbele: Frauen sind in der Lokalpolitik völlig unterrepräsentiert – sie sitzen einer großen Mehrheit älterer, weißer Männer gegenüber.

Tobias Burdukat: Der ländliche Raum ist ihr letztes Schutzgebiet, dort verteidigen sie ihre altbackene, konservative Männer-Rolle. Der Anteil engagierter Frauen ist auf dem Land geringer,^man kann sie leichter mundtot machen. 

Corinna Köbele: Bei uns kaufen sich Rechte massiv in Höfe ein …

Moment mal, sprechen wir hier von rechter Unterwanderung oder urkonservativen Männern, eren Rolle vom Aussterben bedroht ist?

Tobias Burdukat: Das muss man trennen! Zum einen gibt es auf dem Land eine extreme Siedlerbewegung – zum Beispiel zwischen Grimma und Leisnig. Leute aus Neonazi-Strukturen und deren Sympathisanten kaufen dort ganze Dörfer auf. Was ich mit den Rückzugsräumen meinte, ist eher eine konservativ-reaktionäre Melange von Leuten, meistens Männern, die unter anderem tradierte Geschlechterrollen bewahren wollen. Aber die Grenzen sind fließend, auch Feuerwehr oder Fußballverein sind Treffpunkte und es gibt leider niemanden dort, der mal auf den Tisch haut und sagt: Erzählt doch nicht so einen Unsinn über Geflüchtete! Die Gegenrede fehlt – das ist ein ostdeutsches Phänomen. 

Gibt es Treffpunkte für Frauen, abseits von Fußball und Feuerwehr?

Maike Steuer: Bei mir in Kriebitzsch, einem Dorf mit etwa 1000 Einwohnenden treffe ich die Frauen meiner Altersgruppe morgens in der Kita, sonst nicht. Mit meinem Konsum will ich einen Raum zum Austausch schaffen. Der Stricktreff der Gemeinde ist zwar nett, aber eben eher für Damen ab 65. Es ist aber schwer, mich mit meinen Ideen zu etablieren. Wir hatten 2022 zum ersten Mal seit Pandemieausbruch wieder einen Weihnachtsmarkt, da habe ich auch den Konsum geöffnet. Unsere Waffeln kamen sehr gut an, aber die eher alternativen Produkte so lala.

Glauben Sie, als Mann hätten Sie es einfacher gehabt?

Maike Steuer: Hundertprozentig. Ich hätte das mit dem Bürgermeister bei einem Bier und einer Roster besprochen, es wäre ein Kumpelding gewesen. Aber ich trinke keinen Alkohol, bin Vegetarierin – und eben eine Frau. 

Arni Thorlakur Gudnason und Johanna Ludwig stoßen zu der Runde. Arni Gudnason ist Lehrer, lebt und arbeitet in Wartenburg. In einer leerstehenden alten Schule versucht er ein Kulturprojekt für Kinder hochzuziehen (Mehr darüber auf Seite 8). Er ist eigentlich auf dem Weg nach Hamburg, macht aber für eine halbe Stunde den Umweg nach Wurzen. Johanna Ludwig nimmt am anderen Ende der Tafel Platz. Sie arbeitet in Halle als Quartiersmanagerin. Vor kurzem ist sie aufs Land gezogen, wo sie mit Freunden einen alten Vierseithof gekauft hat. Den Kontakt zu den Dorfbewohner*innen ebnet ihnen die Mutter der früheren Besitzer, die weiter auf dem Hof wohnt. Sie empfiehlt dann schon mal: „Das neue Feuerwehrauto kommt heute, da müsst ihr hingehen!“

Arni Gudnason, was haben Sie gedacht, als Sie die Einladung zu einem Gespräch über das Thema „Frauen & Transformation“ bekommen haben?

Arni Thorlakur Gudnason: Ich war interessiert. Feminismus verbessert für mich die Lebensqualität einer Gesellschaft. Ich komme aus Island, da wird man ohnehin feministischer sozialisiert. Meine Frau und ich haben ein paar Jahre in der Schweiz gewohnt. Dort herrschten uns zu starre Geschlechterrollen, das wollen wir für unsere Kinder nicht. Deshalb sind wir in die Heimat meiner Frau gezogen, aufs ostdeutsche Land. Da sind Frauen wesentlich aktiver als Männer. Ich glaube, Frauen sehen soziale Lücken schneller und versuchen, sie zu füllen. 

Wie lassen sich klischeehafte Aufgabenverteilungen verändern?

 

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Arni Thorlakur Gudnason
Foto: Jörg Gläscher

 

Arni Thorlakur Gudnason: In Island haben wir Lehrkräfte darauf geachtet, die Kinder im Unterricht gleichberechtigt dranzunehmen. Wenn ich trotzdem mehr Mädchen aufrief, beschwerten sich die Jungs. Sie sind empfindlicher, wenn sie sich nicht gesehen fühlen. In meinem Kulturprojekt achte ich auch auf eine ausgewogene Verteilung von Frauen und Männern. Ich will keinen Wurstsalat. 

Marika Vetter: Wurstsalat? Was meinst du damit? 

Arni Thorlakur Gudnason: Wenn nur Männer am Tisch sitzen und alles entscheiden. (Lautes Lachen am Tisch) Ich habe das aus dem Isländischen übersetzt. Ich finde, mit Humor erzielt man manchmal eine bessere Wirkung, als mit einem langen Vortrag über Feminismus. Ich muss aber auch sagen: Wenn es um die finanziellen Fragen geht, höre ich oft von Frauen: „Ich frage lieber mal meinen Mann …“

Corinna Köbele: Studien zeigen, dass Mädchen Verantwortung gerne abgeben, wenn ein Junge die Aufgabe übernehmen will.

Arni Thorlakur Gudnason: Frauen sind erfolgreich. Das ist eine Tatsache, die man beiden Geschlechtern bewusst machen muss, um Frauen zu stärken. Achtsamkeit bei der Besetzung aller Gremien, Jobs und Aufgaben ist für mich der Schlüssel zu einem höheren Frauenanteil. 

Arni schiebt seinen Stuhl zurück und entschuldigt sich, dass er schon wieder los muss. Es ist inzwischen Nachmittag, draußen hat es in dünnen Flocken zu schneien begonnen. Die Frauen und der Mann, die noch am Tisch sitzen, sind alle im ländlichen Raum engagiert. Zeit, sie danach zu fragen, warum sie das tun.

Was treibt Sie an sich zu engagieren, warum sind Sie aktiv geworden?

Corinna Köbele: Um andere Frauenbilder zu propagieren. Und weil in meiner Umgebung von der Männerwelt, die dort entscheidet, wenig Ideen und Impulse kommen. Wir haben in den 37 Gemeinden der Region drei oder vier Bürgermeisterinnen und ich muss sagen: Bei den Frauen läuft wesentlich mehr. Außerdem ist der ländliche Raum ein guter Ort, um sich zu engagieren. Hier herrscht der Luxus der Leere – damit meine ich, dass Gestaltungsspielräume offen sind.

Maike Steuer: Mich motiviert, dass das eigene Handeln auf dem Land mehr Wirkung entfaltet. Ich hatte ein paar Jahre lang ein Café in Leipzig. Aber dort gibt es Tausende Cafés, es war schwer, irgendwie herauszustechen. Auf dem Dorf habe ich mehr Aufmerksamkeit. Ich kann etwas verändern, im positiven Sinne ein Störfaktor sein. 

Corinna Köbele: Um wirksamer zu werden, braucht es auf dem Land Frauen-Netzwerke. Die engagierten Frauen sind Einzelkämpferinnen. Sie verfolgen ihre Ideen, aber ihnen fehlen die Bündnisse. 

Marika Vetter: Bei uns gibt es den „Lausitzerinnen-Stammtisch“. Alle sechs Wochen treffen sich dort rund 30 Frauen aus der Lausitz. Das sorgt nicht nur für Austausch, sondern auch für Sichtbarkeit. Hinter der Idee steht die Plattform „F wie Kraft“ – wir werden ja später noch mit ihrer Initiatorin, der Wissenschaftlerin Julia Gabler, sprechen. Sie hat völlig recht, wenn sie sagt: Gerade im ländlichen Raum ist eine gelingende Entwicklung davon abhängig, ob die Ideen von Frauen angemessen Platz bekommen.

Margret Feger: Bei mir gibt es in der Nähe niemanden, der Engagierte berät. Ich muss auf alles selbst kommen. Inzwischen beziehe ich 30 Newsletter von allen möglichen Organisationen. Ich würde mir mehr professionelle Unterstützung auf lokaler Ebene wünschen, Informationen sowie Fördermittel.

Tobias Burdukat: Emanzipationsprozesse und gesellschaftlicher Wandel passieren nicht von oben nach unten. Wenn der Staat Angebote unterstützt, hat er auch ein Mitspracherecht – und das steht vielleicht im Widerspruch zu den Wünschen der Engagierten.

 

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Johanna Ludwig
Foto: Jörg Gläscher

 

Johanna Ludwig: Aber auch wenn sie finanziell gefördert werden, bleiben Projekte ja bottom-up-Initiativen. Und der Staat könnte die Bedürfnisse von Transformator*innen ja auch erfragen.

Zeit für einen neuen Impuls. Seit den 90er Jahren sind viele Frauen aus den ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns abgewandert. Die Rostocker Sozialforscherin Melanie Rühmling hat in ihrer Dissertation untersucht, warum Frauen im ländlichen Raum bleiben. Sie ist an diesem Samstag verhindert, hat aber eine kurze Videonachricht für die Gesprächsrunde aufgenommen. Darin stellt sie das Kernstück ihrer Dissertation vor, eine Typologie der Frauen, die ihre Heimat Mecklenburg-Vorpommern nicht verlassen haben, als sie volljährig wurden. Mal sehen, ob sich unsere Gäste darin wiederfinden.

Melanie Rühmling: Hallo und herzliche Grüße! Ich bin Melanie Rühmling vom Rostocker Institut für Sozialforschung und möchte Ihnen einige Aspekte aus meiner Doktorarbeit vorstellen. Auf das Gehen oder Bleiben von Frauen im ländlichen Raum haben viele Faktoren Einfluss: unter anderem die Verantwortung, die sie für ihre Eltern oder Familie empfinden, die sozialen Netzwerke vor Ort, die Frage nach materiellem Besitz. Wichtig ist auch, ob sie das Land schon einmal verlassen haben und welche Erfahrungen sie dabei gemacht haben. 

Ich habe drei Typen von Bleiberinnen ausgemacht. Fangen wir an mit den kritisch-positiven Bleiberinnen, die den ländlichen Raum und ihr Bleiben dort vehement vertreten, ja geradezu verteidigen. Sie sind im Landleben häufig sehr präsent, zum Beispiel als Vorständin in Vereinen oder bei öffentlichen Veranstaltungen sichtbar. 

Dann gibt es die kritisch-negativen Bleiberinnen. Auch sie gehen sehr reflektiert mit der Frage von Gehen oder Bleiben um. Viele von ihnen würden tatsächlich gerne gehen – aber können das wegen eines sozialen Konflikts nicht. Ein Beispiel: Ihr Mann führt den Hof seiner Eltern weiter. Schließlich gibt es den Typus der selbstverständlichen Bleiberinnen. Für sie ist das Bleiben so selbstverständlich, dass sie gar nicht groß darüber sprechen. 

Melanie Rühmling winkt in die Kamera, wünscht noch eine gute Diskussion und verabschiedet sich. 

Können Sie sich in den Bleiberinnen-Typen wiederentdecken?

Corinna Köbele: Ich sehe mich als kritisch-positiv. Aber mir fehlt die Kategorie „Hinzugekommene“, die wie ich bewusst aufs Land gezogen sind. Was macht deren besonderer Blickwinkel aus? Und wie weit gelingt es ihnen, an die bestehenden Strukturen anzudocken und etwas zu verändern?

Margret Feger: Ich bezeichne mich auch immer noch als Zugezogene, obwohl ich in der DDR aufgewachsen bin, nun schon 20 Jahre in Belleben wohne – und gut integriert bin. Ich würde mich als kritisch-positiv bezeichnen, sonst wäre ich nicht mehr da. Aber es ist nicht so, dass ich schon immer unbedingt auf dem Land bleiben wollte. Ein Haus war in der Stadt einfach nicht zu bezahlen.

Würden Sie heute noch gerne in der Stadt wohnen?

Margret Feger: Nein, jetzt will ich nicht mehr wegziehen, auch nicht, wenn ich alt bin. Aber das ist das nächste Problem: Es gibt keine altengerechten Wohnungen und Pflegeeinrichtungen. Wer nicht zu Hause gepflegt wird, muss wegziehen. 

Corinna Köbele: Ja, das ist ein Riesen-Thema. Auch wir als Künstlerstadt wollen uns einbringen. Ich führe erste Gespräche mit einer Landtagsabgeordneten über neue Wohnkonzepte auf dem Land.

Pünktlich um 17 Uhr ruft Julia Gabler per Videokonferenz an. Gabler ist Sozialwissenschaftlerin, forscht unter anderem zu den Themen Soziale Innovationen und empirische Geschlechterforschung. Auch sie hat sich mit den Bleibeperspektiven von Frauen auseinandergesetzt und mit „F wie Kraft – Frauen als Wirtschaftsfaktor“ in der Lausitz ein Netzwerk für Frauen gegründet. Sie konnte ebenfalls nicht kommen, wollte aber unbedingt mitdiskutieren. Nun sitzt sie in ihrem Arbeitszimmer in Görlitz, blickt in die Runde im Jagdzimmer und entdeckt ein bekanntes Gesicht. „Marika, hallo!“, sagt sie. Doch die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Görlitz ist gerade auf dem Sprung. „Ich muss leider los“, sagt Marika Vetter. „Ich wusste nicht, dass Du so spät dazu kommst.“ Julia Gabler antwortet abgehackt, die WLAN-Verbindung stockt. Wir platzieren den Laptop auf einem Barhocker in der Nähe der Tür, dort ist das Netz am stabilsten. Margret Feger, Corinna Köbele und Johanna Ludwig setzen sich in einen Stuhlkreis um den Hocker.

Wir haben Sie jetzt auf einem Barhocker platziert.

Julia Gabler: Ok, ich nehme einen Gin Tonic, bitte.

Gelächter. Die Stimmung ist gelöst.

Wir sitzen hier schon ein paar Stunden und diskutieren über Ihr Forschungsthema, Frau Gabler: Frauen & Transformation im ländlichen Raum. Wir haben über Bleibeperspektiven gesprochen und über die Bedingungen für Frauen auf dem Land. Und wir haben ein paar interessante Thesen gehört. Zum Beispiel die, dass der ländliche Raum das letzte Schutzgebiet für – ich sage es einmal vorsichtig – ältere Männer mit stark traditionell geprägten Ansichten ist.

Julia Gabler: Diese These würde ich gerne ergänzen: Der ländliche Raum eignet sich besonders gut für weibliches Engagement – wobei ich Engagement mit Erfindungsgeist und Innovationsfähigkeit beschreiben würde. Innovationsfähigkeit bedeutet ja auch immer, Probleme identifizieren und unkonventionelle Lösungsangebote entwickeln zu können. Eine große Hürde dabei ist, dass Frauen sich im ländlichen Raum gegen den Widerstand von Landräten, Bürgermeistern oder Wirtschaftsnetzwerken durchsetzen müssen. Aber: Viele Frauen empfinden das nicht nur als anstrengend, es spornt sie auch an. So wie der ländliche Raum vielleicht ein letzter Rückzugsraum für konservative Männer ist, ist er auch ein Spielplatz für innovationsfreudige Frauen. 

Widerstand als Ansporn, das ist interessant.

Julia Gabler: Frauen lassen sich zwar von dem konservativ-männlichen Gegenwind beeinflussen – aber ich beobachte, dass der Zeitraum, in dem sie beeindruckt sind, immer kürzer wird. Außerdem stellen wir fest, dass die Investitionslogiken, nach denen sich Strukturentwicklung traditionell vollzieht, immer weniger Bedeutung bekommen. Stattdessen wird Strukturwandel eher als Einladung gesehen, andere Wege zu gehen und eigene Lösungsangebote zu machen.

Wenn Frauen den Wandel vorantreiben, muss man sie dann nicht gezielter unterstützen? 

Julia Gabler: Viele sind der Meinung, man müsste Gelder umlenken, um gezielter innovative Projekte zu unterstützen. So einfach ist es aber nicht. Auch wenn es tatsächlich sehr aufwändig ist, Fördermittel zu beantragen, glaube ich nicht, dass ein leichterer Zugang die Lösung ist. Effektiver wäre, die Förderinstrumente anzupassen – ein Beispiel wäre die Auflage, dass die Antragsteller im ersten halben Jahr drei Partner*innen finden und von ihrer Idee überzeugen müssen, um den vollen Fördersatz zu bekommen. Aber es gibt für Frauen im ländlichen Raum eine weitere Hürde: Sie ziehen ihre Ideen im Zweifel auch ohne Förderung durch. Dadurch prekarisieren sie sich teilweise selbst. Das ist eine progressive, beeindruckende Haltung, kann aber natürlich gravierende Folgen für die Frauen und ihre Projekte haben. 

Ich frage mal in die Runde: Stimmen Sie zu, dass ein einfacherer Zugang zu Fördermitteln eventuell gar nicht so förderlich ist?

Margret Feger: Ich fände es schon toll, wenn man einfacher an Fördermittel käme. Ich will gar nicht wissen, wie viele Projektideen gestorben sind, weil die Leute keinen so hohen Aufwand für die Anträge betreiben können. Aber mir ist noch wichtig: Beim Thema Förderung geht es nicht nur ums Geld, sondern auch um andere Ressourcen. Die sind oft ebenso entscheidend.

Johanna Ludwig: Genau, oft geht es um Begleitung. Leute haben Bock, etwas zu machen, scheitern aber am fehlenden Wissen und daran, dass sie keine Reflektionspartner*innen haben. Oft hakt es auch bei der Verwaltung, die ihre Anforderungen sehr hoch hängt. Da würde ich mir einen Abbau wünschen.

Zustimmendes Bejahen und Kopfnicken.

Corinna Köbele: Ich möchte noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob Widerstand auch produktiv sein kann. Ich werde tatsächlich manchmal trotzig und denke: Ihr könnt mich alle mal, wir machen da jetzt weiter! Es gibt produktive Widerstände und Konkurrenz, ja. Ich frage mich aber auch, wann endlich der Punkt erreicht ist, an dem nach dem Gesetz der kritischen Masse der Prozess kippt – und die Widerständler*innen gar nicht anders können, als mitzumachen. 

 

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Corinna Köbele
Foto: Jörg Gläscher

 

Die Verbindung zu Julia Gabler bricht nun vollständig ab. Margret Feger und Corinna Köbele beginnen, sich über ihre Erfahrungen mit dem nichtkommerziellen Netzanbieter Freifunk auszutauschen, Julia Gabler möchte das Videokonferenz-Tool wechseln und schickt einen neuen Link. Eine Kellnerin schiebt den Kopf durch den Türspalt und fragt, ob sie noch etwas bringen darf. „Im Moment nur eine WLAN-Verbindung“, sagt Margret Feger. Schließlich ruft Julia Gabler vom Festnetz aus an, und wir stellen sie laut.

Frau Gabler, Sie haben vorhin in einem Nebensatz erwähnt, dass Frauen eher bereit sind, ihre Ideen unter prekären Bedingungen umzusetzen. Können Sie das erläutern?

Julia Gabler: Ich möchte unterstreichen, was Johanna gerade gesagt hat. Unterstützung kann auch in Form von Begleitung sehr hilfreich sein. Denn gerade Frauen sehen die ökonomische Belastbarkeit ihrer Vorhaben häufig als sekundär – an erster Stelle kommt für sie der Inhalt. Ich glaube, dass es ein eher weibliches Phänomen ist, erst einmal einen kreativ-aktionistischen Prozess zu starten und später andere Komponenten miteinzubeziehen. Also Fragen zu klären wie: Wann mache ich eigentlich Pausen? Gibt es Rückzugsräume, Erholung, Regeneration? Das stellen Frauen oft hintenan.

Corinna Köbele: Stimmt, Pausen gibt es nicht mehr, wenn man eine bestimmte Größe erreicht hat und eine entsprechende Projektförderung bekommt. Wir hatten vergangenes Jahr fünf Stellen – dann fiel die EU-Förderung weg. Jetzt bleibt alles an mir hängen. Es gibt viele Projekte, die letztlich an solcher Überlastung scheitern.

Julia Gabler: Ich gebe dir recht, das ist schwierig. Aber ich habe auch schon Organisationen erlebt, die förderfreie Phasen nutzen konnten, um grundsätzliche Entscheidungen für ihre Organisation zu treffen. Derzeit müssen wir leider akzeptieren, dass es im ostdeutschen ländlichen Raum an Stiftungen, privatem Kapital und ähnlichen Formen der Unterstützung fehlt. Das kann die Verwaltung nicht übernehmen und kompensieren. Deshalb halte ich es für richtig, die zivilgesellschaftliche Übernahme von Verantwortung zu unterstützen. Ich glaube, wir haben gar keine andere Chance, als Allianzen zu bauen und uns zu vernetzen.

Melanie Rühmling hat vorhin in ihrem Videobeitrag die Frage aufgeworfen, wie man solche Allianzen oder Kooperationen anlegt. Glauben Sie, Frauen tun sich darin leichter?

Corinna Köbele: Die Kommunikation läuft geschmeidiger, ja. Es geht nicht darum, dass irgendwer „sein Ding“ durchziehen will, sondern eben mehr um Kooperation.

Margret Feger: Ich mache andere Erfahrungen. Meine aktuelle Netzwerkstruktur sieht so aus: Frauen um die sechzig, Männer ab dreißig. Funktioniert fantastisch. Die jungen Männer haben Respekt vor uns und vor dem, was wir machen. Sie kommen auf uns zu und wollen unterstützen, ohne Ansprüche. Das machen die älteren Männer nicht.

Johanna Ludwig: Ich finde den Gedanken schön, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, die sich mit Lust um dieselbe Sache kümmern. Das Geschlecht ist dabei erst einmal egal. Reine Frauen- wie Männergruppen sind aus meiner Erfahrung aber schwierig. Außerdem sollten beide Geschlechter schauen, dass sie nicht ständig die klassischen Rollenbilder bedienen. Frauen neigen dazu, die Verwaltung zu machen. Sie übernehmen Verantwortung, sind aber nach außen nicht sichtbar. 

Ein Ergebnis der Forschungsarbeit von Julia Gabler ist, dass Frauen sich ungesehen fühlen. Teilen Sie das?

Johanna Ludwig: Nein, ich fühle mich nicht ungesehen. Mir ist es tatsächlich eher unangenehm, ich wäre manchmal gerne weniger sichtbar. 

Corinna Köbele: Ich erlebe oft, dass meine Arbeit von Männern nicht wahrgenommen wird. Aber wenn ich nach vorne gehen will, tue ich das auch. Ich stelle allerdings immer wieder fest, dass manche mich einfach ignorieren. Zum Glück hat unser Projekt mittlerweile eine Größe und einen Status, der es schwer macht, diese Ignoranz durchzuhalten.

Julia Gabler: Frauen treten gerne aus dem Rampenlicht mit dem Wunsch, vor allem die kollektive Anstrengung sichtbar zu machen. Sie wollen, dass sich alle gesehen und wertgeschätzt fühlen – meiner Meinung nach ein eher weiblicher Gedanke. Sehr häufig stelle ich fest, dass Frauen, selbst die Gleichstellungsbeauftragten, sich fragen, wie sie die Männer mitnehmen können. Wäre es nicht erst einmal wichtig zu formulieren, was man selbst will? Letzten Endes geht es aber vielleicht gar nicht um die Geschlechterfrage, sondern darum, wie Gestaltung in ländlichen Räumen funktioniert. Eine schablonenhafte Einteilung in „Wir sind die Veränderer“ und die anderen sind unsere „Widersacher“ bringt uns nicht weiter. Auch diejenigen, die scheinbar Widersacher sind, entwickeln Strukturen – und das endet dann in Konfrontation. Ich habe schon einige Verantwortungsträger sagen hören, ihnen werde angst und bange vor all den Gestalter*innen, die ihnen den Job streitig machten. Aber niemand will jemandem etwas wegnehmen! Eventuell hat das mit den negativen ostdeutschen Erfahrungen zu tun? Manchmal dachte ich schon, dass wir Soziolog*innen da weniger gebraucht werden als vielmehr Psychotherapeut*innen …

Johanna Ludwig: Da bin ich absolut bei dir.  

Julia Gabler: Wenn man also Räume schafft, um miteinander zu sprechen und sich gegenseitig weniger als Konkurrenz sieht, wäre schon viel geholfen. 

Damit verabschiedet sich Julia Gabler – und mit dem Wunsch für ausreichend Räume zur Regeneration. Kurze Pause, Fenster auf. Draußen schneit es immer stärker. Es ist Viertel vor sieben. Ob noch jemand kommt? Plötzlich stehen Franziska und Marc Mascheck in der Tür zum Jagdzimmer. Der Schnee, tut uns leid, sagen sie. Franziska Mascheck, Bundestagsabgeordnete für den Landkreis Leipzig, ist leicht angeschlagen, bestellt einen heißen Kräutertee. Bei den anderen werden Kaffee und Tee durch Limonade und Bier ersetzt. Für ein paar Minuten herrscht eine andere Atmosphäre im Raum, förmlicher. Bundestagsabgeordnetenautorität. Wir starten eine kurze Vorstellungsrunde. Alle sagen ein paar Worte über sich, dann sind Franziska und Marc Mascheck selbst an der Reihe. 

Franziska Maschek: Ich bin Franziska. In meinem ersten Beruf war ich Bühnentänzerin, habe in Berlin ein Kinder- und Jugendtanztheater gegründet. Irgendwie haben wir dann vier Kinder bekommen und leben inzwischen auf einem alten Vierseithof, eine Stunde von hier. Zwischendurch habe ich ein Studium der Sozialen Arbeit angefangen, das hat mich politisiert – danach drängte es mich in den Stadtrat, um die Entscheidungen für unsere Region beeinflussen zu können. Die politische Arbeit und mein Masterstudium haben mich vor der letzten Bundestagswahl ermutigt, zu sagen: Ja, jetzt zeige ich Gesicht. Und schwupps, jetzt sitze ich für die SPD im Bundestag. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich auf dem Land nur wenig Menschen politisch engagieren. Ich musste mich also nicht in einer Partei hochkämpfen. 

Gelächter, die Abgeordnete ist ja total nett – und kommt sofort ins Erzählen.

Franziska Mascheck: Ich bin Mitglied des Ausschusses für Wohnen, Bauen, Stadtentwicklung und Kommunales. Eigentlich gehöre ich fachlich eher ins Ressort Familie, Soziales und Jugend – oder vielleicht in den Kulturausschuss –, aber da kann ich für den ländlichen Raum nicht viel bewegen. Ich habe jetzt ein gutes Jahr Berlin hinter mir und zu ungefähr einem Drittel bis vielleicht zur Hälfte verstanden, wie der Laden läuft.  

 

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Franziska Mascheck
Foto: Jörg Gläscher

 

Wieder Gelächter. Franziska Mascheck scheint sich wohlzufühlen. Ihr Mann Marc macht seine Vorstellung kurz. Von ihrer Berliner Zeit über die gemeinsamen Kinder bis hin zur Sanierung des alten Hofes sei Vieles ja deckungsgleich, scherzt er. Marc Mascheck ist studierter Pantomime und Schauspieler, Theaterpädagoge und Bildungswissenschaftler.

Wir sitzen hier nun schon den ganzen Tag und sprechen über das Thema „Frauen & Transformation“. Wir würden gerne Ihren Blick darauf kennenlernen. 

Franziska Mascheck: Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich so Vieles am Geschlecht hängt. Die Sozialisation hat wahrscheinlich ein größeres Gewicht. Zum Glück bin ich nicht irgendwo im katholischen Hunsrück geboren geworden. 

Margret Feger: Gibt es zwischen Ost und West nach wie vor so große Unterschiede?

Franziska Mascheck: Ich treffe häufig im Westen sozialisierte Frauen meines Alters, die ein ganz anderes Selbstwertgefühl, ein anderes Verständnis vom Wert ihrer Arbeit und ihrem Einsatz für Gesellschaft und Familie haben. Im Osten war es für Frauen selbstverständlicher, an der eigenen beruflichen Entwicklung zu arbeiten. An der Stelle freue ich mich immer, Ossi zu sein.

Wir haben heute des Öfteren gehört, dass Frauen sich vielfach unterschätzt fühlten – und denken, sie könnten ihre Projekte schneller voran bringen, wenn sie ein Mann wären. Haben Sie auch solche Erfahrungen gemacht?

Marc und Franziska Mascheck schauen sich an und überlegen, die Gelegenheit nutzt Corinna Köbele. 

Corinna Köbele: Ich habe das Gefühl, dass wir zu gewichtig sind, dass wir zu viele Ideen haben. Der Stadtrat stöhnt jedes Mal, wenn ich eine Idee einbringe: boah, schon wieder die Köbele. Wir sind zu schnell, zu kreativ und wir wollen zu viel. Bei 80 Prozent Männern, die meisten über sechzig, die im Stadtrat sitzen, erleben die mich als Bedrohung. 

Franziska Mascheck: Wir hatten im Dorf einen Bürgermeister, der überhaupt nicht verstanden hat, was wir mit unserem Projekt und dem Hof vorhaben. Aber ob das nicht eher an seinem Unwillen lag, sich damit auseinanderzusetzen? Wäre die Verständigung besser gelaufen, wenn ich ein Mann wäre und mit ihm ein Bier trinken gegangen wäre …?

Marc Mascheck: Es hätte bestimmt funktioniert, wenn ich das Bier mit ihm getrunken und ihm alles nochmal genau erklärt hätte. Aber jetzt haben wir sowieso einen neuen Bürgermeister.

Margret Feger: Ich setze große Hoffnung auf die jüngeren Kommunalpolitiker, die langsam nachrücken. In meinem Jahrgang mit den Männern über Politik zu sprechen – das ist, als spräche ich eine andere Sprache. Die verstehen mich nicht.

Ist das auch eine Form von Ignoranz?

Franziska Mascheck: Vielleicht ist es auch eine gewisse Hilflosigkeit, weil Bildung fehlt, auch demokratische Bildung.

Margret Feger: Ja, Bildung ist wichtig. Viele schauen nicht über die Dorfgrenzen hinaus.

Franziska Mascheck: Das ist ein schwieriges Thema. Viele Menschen, von denen ich glaube, dass sie ein seltsames Verständnis von Gesellschaft haben, besitzen einen ganz guten formalen Bildungsabschluss. Ihnen fehlt aber der Anschluss an das, was heutige Gesellschaften ausmacht. 

Ist das ein spezifisches Problem auf dem Land?

Corinna Köbele: Ja!

Franziska Mascheck (schüttelt den Kopf): Vielleicht zeigt es sich hier deutlicher, weil hier mehr Menschen weggehen, sich die aktuelle Bildung aneignen und nicht wieder zurückkommen. Ich glaube aber, dass es diese Menschen in der Stadt genauso gibt.

Johanna Ludwig: Nee, das ist kein Land-Phänomen. Wenn mir das Gefühl der Selbstwirksamkeit fehlt, setzt sich eine Negativspirale in Gang – und damit geht Bildungsverlust einher. Das gilt gleichermaßen auf dem Land wie in der Stadt.

Die letzte Runde Kaffee wird angeboten. „Ich nehme noch einen, um gut nach Hause fahren zu können“, sagt Corinna Köbele. Sie hat noch zweieinhalb Stunden im Schneetreiben vor sich. Auch Franziska Maschek blickt nach draußen und sagt zu ihrem Mann: „Wir sollten nicht zu spät losfahren …“ Also Endspurt. 

Aus Ihrer Sicht als Politikerin: Kleben die Bürgermeister in den Dörfern an der Macht und wollen weiter ihr konservatives Rollenverständnis ausleben?

Franziska Mascheck: Ja und Nein. Es gibt dort noch eine Generation, die das so lebt. Aber wir stehen auch vor der Herausforderung, dass es fast niemanden mehr gibt, der sich für diese Aufgaben zur Verfügung stellt. 2024 finden im gesamten ostdeutschen Raum Kommunal- und Landtagswahlen statt und wir müssen echt schauen, wer sich da überhaupt aufstellen lässt. Zumindest in meiner Welt sind es tendenziell mehr Frauen, die sagen: Stadtrat? Ja, kann ich mir vorstellen. 

Ein neues Selbstbewusstsein?

Margret Feger: Ich glaube, es liegt daran, dass die Kommunen keine Macht haben. Vor allem nicht übers Geld – die Kommunalaufsicht entscheidet, wie der Haushalt auszusehen hat. Und da sagen die Männer sich: Nee, wenn wir keine Macht haben, übernehmen wir auch die Posten nicht mehr.

Franziska Mascheck: Das würde ich so nicht sagen. Die Bürgermeister – bei uns im Kreis gibt es auch Bürgermeisterinnen – haben sehr viel Gestaltungsmacht und nutzen sie auch sehr aktiv. Allerdings wird ab und an auch mal jemand aus Versehen Bürgermeister – dahinter steckt die Problematik des Nachobenbeförderns. Da sind wir wieder bei den Netzwerken – und ja, das sind Männernetzwerke. Und ja, da geht es um Status, Anerkennung und ums Pöstchenverteilen. Aber inhaltlich passiert wenig. 

Wie bekommt man das Thema Wandel im ländlichen ostdeutschen Raum in die Köpfe von Stadträt*innen, Bürgermeister*innen und Bundestagsabgeordneten?

Franziska Mascheck: Ich fange mal beim Bundestag an: Das Problem ist uns bewusst. Aber die Möglichkeiten des Bundes sind in diesem Bereich begrenzt. Trotzdem gibt es eine erste Idee: Wenn Bundesinstitutionen neu entstehen oder verlagert werden können, sollen sie in den Osten – und zwar nicht in Zentren wie Leipzig oder Dresden, sondern in die mittelgroßen Städte. Ein Beispiel ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle – das hat nun eine Außenstelle im sächsischen Borna. Das ist groß, denn da entstehen über hundert hoch bezahlte Arbeitsplätze. In Neustrelitz sitzt die Bundesstiftung für Engagement und Ehrenamt. Das war eine ähnliche Entscheidung. Darüber hinaus – und das ist schön zu sehen – gibt es insbesondere in der jüngeren Generation Politiker*innen, die sehen, wie sich der ländliche Raum verändert. Sie haben ein Gespür dafür, was eine Gesellschaft zusammenhält, nämlich zivilgesellschaftliche Initiativen. Das muss die Grundlage sein: Verstehen, das die Lebensqualität der Menschen vor Ort nicht von einer frisch geteerten Straße abhängt. 

Marc Mascheck: Meine Antwort darauf ist kurz: Wenn es gute Bürgermeister*innen gibt, halte ich es für richtig, ihnen mehr Spielraum zu geben – damit sie mit Geldern freier und weniger bürokratisch umgehen können. 

Franziska Mascheck schaut ihren Mann etwas erstaunt an. 

 

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Marc Mascheck
Foto: Jörg Gläscher
 
Franziska Mascheck: Die Forderung nach mehr finanziellem Freiraum wird insbesondere auch von reaktionären Bürgermeistern vorgebracht.

Marc Mascheck: Okay, das kann auch nach hinten losgehen. 

Franziska Mascheck: Die Zivilgesellschaft fordert oft, dass wir Förderprogramme verstetigen sollen. Jetzt ist das Demokratiefördergesetz beschlossen worden – da steht drin, dass Förderungen langfristiger laufen sollen, um bessere Planbarkeit zu ermöglichen. Aber das Wichtigste ist die Umkehrung des Brain Drains. Junge, gut ausgebildete Frauen ziehen vom Land weg. Wir müssen sie zum Wiederkommen bewegen, indem wir ihnen gut bezahlte Arbeitsplätze bieten.

Corinna Köbele: Ein neu geschaffener Arbeitsplatz zieht fünf andere nach sich – darin steckt großes Potenzial fürs Land. Ich denke, dass von politischer Seite bessere Bedingungen geschaffen werden müssen.

Franziska Mascheck: Aber man braucht für jede Neuerung Mehrheiten. Und wo konservative bis reaktionäre Kräfte bestimmend sind, wird das schwierig. Um gesellschaftlichen Wandel voranzubringen, brauchen wir zivilgesellschaftliche Gruppen mit guten Netzwerken in die Politik, die weiter Bambule machen und alle Kanäle anzapfen, die trommeln, uns die Türen eintreten und nerven. Wer sich bemerkbar macht, der wird gehört und gesehen. Dafür braucht man Kraft, das weiß ich – aber am Ende wird es sich lohnen.

Weiter Bambule machen – eine klare Aufforderung. Nach diesem Satz drücken wir die Stopp-Tasten der Aufnahmegeräte. Knappe sieben Stunden Gespräch sind auf den Bändern. Franziska und Marc Mascheck und Corinna Köbele machen sich auf den Heimweg, Margret Feger, die am längsten am Tisch saß, und Johanna Ludwig bestellen sich noch ein letztes Getränk, essen einen Teller Suppe. Feger wird in Wurzen übernachten und am nächsten Tag heimfahren, Johanna Ludwig fährt gleich nach Halle. Kathrin Lehne kommt lächelnd herein – auch für sie war es ein ungewöhnlicher und langer Tag. „Lasst bitte alles so stehen“, sagt sie. „Wir machen das schon.“ Draußen ist es mittlerweile dunkel, klar und kalt. Landluft. Schön. 

Das Gespräch leiteten Bastian Henrichs und Christiane Langrock-Kögel
. Der Artikel erschien im LAND-Magazin #6, Februar 2023.

Die Interviewten waren...

  • Kathrin Lehne

Die Inhaberin des Landgasthofs Dehnitz haben wir spontan mit an den Tisch gebeten. Sie ist in Wurzen geboren und verbrachte dort ihr ganzes bisheriges Leben. Gemeinsam mit ihrem Mann hat die heute 55-Jährige 1996 den Gasthof gekauft, abgerissen, alles neu aufgebaut und 2003 wiedereröffnet. Bis 2005 arbeitete die gelernte Maschinenbauerin zudem als Konstrukteurin in Wurzen.

  • Marika Vetter

Eigentlich wollte die heute 41-Jährige Tischlerin werden, bekam aber in dieser Männer-Branche keinen Ausbildungsplatz. Inzwischen engagiert sich Vetter auch politisch, möchte mehr für das Gemeinwesen und ein wertschätzendes Miteinan- der tun. Sie genießt das Dorfleben in Melaune, ihre Bauprojekte – und die Tatsache, dass Berlin, Dresden und Prag gleich um die Ecke liegen.

  • Margret Feger

Vor 25 Jahren zog die gebürtige Mecklenbur- gerin mit Mann und zwei Kindern von der Kreisstadt Bernburg nach Belleben, um endlich wieder einen richtigen Garten zu haben. Ihr Verein „Mühlen-Ritter“ verbindet die Menschen im Dorf – das für die 63-Jährige und ihre Familie längst zur Heimat geworden ist.

  • Tobias Burdukat

Der Sozialarbeiter und Lehrbeauftragte ist bewusst ihn seiner Heimat Grimma geblieben. Der 40-Jährige engagiert sich für die Jugend- arbeit auf dem Land. So will er jungen Menschen Perspektiven jenseits von Fußball, Feuerwehr und Heimatverein erönen – und die Macht rechtsradikaler Netzwerke schwächen.

  • Corinna Köbele

Geboren in Frankfurt am Main, ist die heute 60-Jährige wegen des Jobangebotes einer Klinik nach Kalbe in Sachsen-Anhalt gezogen. Zuvor hatte sie zunächst Gemeindepädagogik, dann Psychologie studiert. Neben ihrem Projekt Künstlerstadt Kalbe, für das Köbele stellvertretend mit der Ehrennadel des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet wurde, hat sie einen Praxissitz in Bismark

  • Maike Steuer

Die 41-Jährige Redakteurin und Sozialunternehmerin lebt im Thüringischen Kriebitzsch, wo sie derzeit den alten Dorfkonsum renoviert. Ihr Ziel: Der "Kreativkonsum" soll eine Mischung aus Laden, Café und Raum für Workshops, Kurse und Veranstaltungen werden. In ihren Worten: "Nahversorgung für Kopf, Herz und Bauch".

  • Arni Thorlakur Gudnason

Der 42-jährige Geographielehrer gründete in seiner Wahlheimat Wartenburg in Sachsen-Anhalt die "Fabelhafte Wartenburg - Kulturbastion 1813": Eine lange verlassene Schulturnhalle, der er als Ort für Kultur, Kunst und Begegnungen neues Leben einhaucht - mit tatkräftiger Unterstützung der Dorfgemeinschaft.

  • Melanie Rühmling

Sie ist Promotionsstipendiation am Institut für Soziologie und Demographie an der Universität Rostock. Ihre Dissertation "Bleiben in ländlichen Räumen" ist im Januar 2023 erschienen.

  • Julia Gabler

Sie hat Sozialwissenschaften in Köln, Berlin und Brüssel studiert. Seit 2009 arbeitet sie in unterschiedliochen Forschungszusammenhängen mit Blick auf Sozialen Wandel insbesondere in Ostdeutschland und forschte zu Verbleibchancen qualifizierter Frauen im ländlichen Raum. Seit 2020 ist sie Professorin am Institut für Sozialwissenschaften der Hochschule Zittau/Görlitz.

  • Johanna Ludwig

Als junge Frau wollte sie eigentlich in ihrer Heimat Berlin bleiben, landete dann aber wegen der Studienplatzwahl in Halle. Dort ist die 40-Jährige heute als Quatiersmanagerin tätig. Als neuen Lebensmittelpunkt hat sie sich gemeinsam mit Freund*innen einen alten Vierseitenhof gekauft, den sie gemeinsam renovieren.

  • Franziska Mascheck

Die gebürtige Dresdnerin wuchs in der Uckermark auf, stuiderte Ballett an der Palucca-Schule in Dresden und arbeitete lange als Tanzpädagogin in Berlin. Nach dem Umzug aufs Land engagierte sie sich zunächst als Standt- und Ortschaftsrätin und zog mit dem Slogan "Zuhören, Verstehen, Anpacken" 2021 in den Bundestag ein.

  • Marc Mascheck

Der freischaende Künstler hat eine Reihe von Ausbildungen hinter sich: Er studierte Mime/ Schauspieler, dann Theaterpädagogik und später an der Fernuniversität Hagen Bildungswissenschaften. Zwischendurch arbeitete er an der Deutschen Oper Berlin, jetzt führt er all seine Kompetenzen in der Arbeit mit Jugendlichen und Kindern zusammen.

 

Das Magazin für Leute vom Land...

 

Das LAND.Magazin berichtet über zukunftsgebendes Engagement im ländlichen Raum. Hier gibt es Reportagen über Dorfentwicklung, Vor-Ort-Besuchen bei Landaktivist*innen und Anregungen, wie man selbst zupacken kann. Für Leute vom Land oder solche, die vom Land lernen wollen. Schaut gern auf der Website vorbei und holt euch ein Abonnement!

 

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F.E.S.T. - feministisch. ehrlich. selbstgemacht. tanzbar.

Im März 2023 fand das erste F.E.S.T. in Bautzen statt. Was wollten die Organisatorinnen erreichen, wie lief es ab und ist es gelungen? Wir haben es für euch zusammengefasst und möchten euch mit ein paar Fotos einen Eindruck davon vermitteln, wie toll es war!

„Letztens war ich auf einem Festival und dort waren schon wieder ausschließlich Männer auf der Bühne…“ – wenn man mit Bautzenerinnen und Bautzenern ins Gespräch kommt, wird sich als Reaktion auf diese Aussage kein Widerspruch zeigen. Die überdurchschnittlich hohe männliche Besetzung und geringe Diversität in subkulturellen Themenbereichen wie Musik, Graffiti, Rollsport etc. findet sich natürlich nicht ausschließlich in Bautzen, aber als dort Kulturschaffende fällt es uns stark ins Auge. Während sich in größeren Städten bereits Frauen*-Empowerment-Communities etablieren, die Safe Spaces für Menschen schaffen, die sich unterrepräsentiert fühlen, stehen wir in unserer kleinen Stadt noch ganz am Anfang. Dies wollten wir zum Anlass nehmen, ein Projekt ins Leben zu rufen, bei dem Frauen* und Empowerment-Themen im Fokus stehen. Wir wollten Frauen* als Gestalterinnen und Macherinnen zusammenbringen, um ihre künstlerischen und sozialen Entwicklungspotenziale in der Stadtgesellschaft und der Region zu entfalten und ihnen Mut zu machen, ihre Perspektiven und Bedürfnisse einzubringen. Ziel war es ebenso, weibliche* Vorbilder in der Stadt zu schaffen bzw. sichtbar zu machen.

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Spacebunny Ninja

Das F.E.S.T. fand am Samstag, den 11.03.2023 nachmittags bis abends statt. Es begann mit zwei Workshops in den Räumlichkeiten der St. Petri Gemeinde: Der Lettering-Art-Workshop unter der Leitung der Bautzener Künstlerin Brim/Borium wurde sehr gut angenommen.Die sehr diverse Gruppe im Alter von 14 bis 40 arbeitete gemeinsam an empowernden Fokussätzen. Die Teilnehmerinnen konnten sich im Anschluss ihre Kunstwerke mit nach Hause nehmen. Direkt im Anschluss fand ein Screaming-Workshop unter der Leitungs des/der Berliner Musiker*in Andrzej statt. Auch dieser war sehr gut besucht. Hier war die Gruppe etwas homogener - die meisten Teilnehmerinnen waren selbst schon vorher musikalisch aktiv. Das Feedback der Teilnehmerinnen war bei beiden Workshops hervorragend - der Empowerment-Gedanke konnte sehr gut transportiert werden und neue Bekanntschaften und Netzwerke sind entstanden.

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Adrats

Direkt im Anschluss wurde das Abendprogramm eröffnet und allen Förder*innen gedankt. Dann traten unsere drei Acts im Saal des Treff im Keller auf: Die junge Berliner Rapperin Spacebunny Ninja beeindruckte mit starken, empowernden Texten. Die Dresdner Riot-Grrrl-Punkband Adrats brachte das Publikum mit ihrer unkonventionellen Rollerskate-Attitude , ihren rumpelig-tanzbaren Beats und ihren feministischen Texten in Bewegung. Der Abend wurde vollendet mit dem fesselnden Auftritt des Dresdner Duos Olicía, deren atmosphärischer electronic loop-jazz das Publikum zum Träumen brachte.

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Olicía

Wir sind mit dem ersten F.E.S.T. sehr zufrieden. Während der Konzerte waren im Laufe des Abends circa 60 Gäste anwesend. Das Konzept, vorrangig Frauen* anzusprechen, ging auf: Die überwältigende Mehrzahl der Anwesenden war weiblich* und trotzdem schauten auch viele männliche* Besucher vorbei. Der intendierte Versuch, Kommunikation über Geschlechterverhältnisse in der Bautzener Kulturszene anzustoßen, ging damit einher. Es ist uns gelungen, zu zeigen, dass man ein komplettes Festival-Lineup sehr wohl mit weiblichen Acts füllen kann.

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F.E.S.T. - Team

Bereits im Vorfeld sahen wir uns oft mit der Frage konfrontiert, warum wir das F.E.S.T. nur für Frauen organisieren und ob Männer denn auch kommen dürfen. Genau dies wollten wir provozieren und wir stellten uns der Diskussion gern. Schließlich zeigte sich, dass durch die gezielte Ansprache ganz andere Gäste kommen, als zu einem "normalen" Konzert in Bautzen und somit auch ganz andere Kontakte und Schnittstellen entstanden. Das F.E.S.T. wurde schließlich auch überregional wahrgenommen und es kamen zahlreiche Besucher*innen aus Görlitz, Weißwasser, Boxberg, Hoyerswerda und Dresden. Wir interpretieren dies so, dass die Kombination aus einem künstlerisch hochwertigen und diversen Angebot mit der ideellen Gleichberechtigungskomponente gut ankommt. Wir hoffen, dass daraus nun einige neue Netzwerke und Projekte entstehen werden und freuen uns darauf, weitere geschlechtssensible Kulturangebote mitzugestalten.

Hier könnt Ihr noch ein paar Eindrücke vom F.E.S.T. sehen. Ganz vielen Dank an Patricia Kern fürs fleißige Fotografieren!

 

Wir danken unseren Förder*innen:

  • Kulturstiftung des Freistaates Sachsen
  • Kulturamt der Stadt Bautzen
  • Jeanne d'Art Kulturstiftung
  • Soroptimist Club Bautzen
  • Andrea Kubank
  • Fraueninitiative Bautzen e.V.

... und den zahlreichen Helfer*innen und Unterstützer*innen!

Das F.E.S.T. - Orga-Team

Franzi, Lisa und Marie

 

  • Die Fotos sind von Patricia Kern. Vielen Dank für deine Begleitung!
  • Falls ihr Fragen zum F.E.S.T. habt oder mit dem Orga-Team in Kontakt treten wollt, schreibt eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
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Damit wir gut miteinander reden…

Michaela Heidig stellt sich vor                               

Mein Name ist Michaela Heidig. Ich betreibe ein Spracheninstitut, in dem ich individuelle Kurse, z.B. für Englisch, Polnisch, Deutsch als Fremdsprache und viele andere Sprachen sowie Übersetzungsleistungen anbiete.

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Foto: Michaela Heidig

 

 

Aus zweierlei Gründen möchte ich, dass mein Unternehmen in der Region sichtbarer wird: zum einen liegt mir das Thema Sprache sehr am Herzen, damit wir gut miteinander reden, auch in einer fremden Sprache, und damit offener und toleranter gegenüber Neuem werden. Damit wird auch unsere eigene kleine Welt ein Stück größer, bunter und es eröffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten.

Zum anderen möchte ich als Unternehmerin sichtbarer werden, um anderen Frauen Mut zu machen und zu zeigen, dass eine Vereinbarkeit von Familie und Karriere durchaus möglich ist und man in relativ kurzer Zeit viel erreichen kann. Seit knapp zwei Jahren bauen mein Partner und ich ein altes Bauernhaus auf dem Dorf aus, in dem später auch das Spracheninstitut verortet sein soll. Wir haben beide ein Kind und auch zwei gemeinsame Hunde. Zeitgleich konnte ich den Umsatz meines Unternehmens um jeweils knapp 70% pro Jahr steigern und zahlreiche neue regionale Firmen und Universitäten aus ganz Deutschland als Auftraggeber gewinnen. 

Ich bin übrigens immer auf der Suche nach tollen Sprachtrainerinnen und Übersetzerinnen. In diesem Jahr möchte ich mein 5-köpfiges Team gern vergrößern, weil wir unsere Kapazitätsgrenzen erreicht haben.

Michaela Heidig…

… ist beeidigte Dipl.-Übersetzerin für Englisch sowie Trainerin für Englisch und Polnisch. Sie betreibt das Spracheninstitut Kommunikeet in Markersdorf.

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Frauen gestalten Ostdeutschland. Frauen gestalten Transformation. 

Impuls von Dr. Julia Gabler am 6. März 2023 im Bundeskanzleramt

 Sehr geehrte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, sehr geehrter Staatsminister Carsten Schneider, sehr geehrte Gäste und Gästinnen!

Das Wort Gästin gibt es im Übrigen seit dem 19. Jahrhundert im Duden der Gebrüder Grimm. Als der online-Duden es 2021 aufgenommen hat, wurde ein Sturm der Entrüstung ausgelöst.

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Foto: Henning Schacht

Auch weil im Vorgespräch darauf hingewiesen wurde, nicht zu sehr über die Vergangenheit zu sprechen, möchte ich gleich zu Beginn den mir wichtigen Punkt hervorheben: Wir versperren uns einen Weg in die Zukunft, wenn wir die Vergangenheit ausschließen. Oder wie die Schriftstellerin Judith Schalansky schreibt: dass entgegen der landläufigen Annahme nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit den wahren Möglichkeitsraum darstellt[1].

Soll heißen: im Vergangen können wir erkennen, was sich von all den kühnen Behauptungen, was in der Zukunft getan werden müsse, tatsächlich praktisch vollzog. Und vergangene Praktiken können verändert werden.

Wir brauchen also Praktiken, das gelebte Tun, das gemeinsame Handeln, um so etwas wie Transformation – verstanden als Veränderung von Struktur und Ausrichtung – zu ermöglichen. Mit Hannah Arendt präziser: das Handeln in Öffentlichkeit. Also so zu handeln, dass das Einzigartige oder gerne auch Transformative unseres Tuns wahrgenommen und zur Referenz gesellschaftlicher Angelegenheiten und idealerweise von Entscheidungen werden kann. 

Wer hätte es nicht eindrücklicher erfahren können, als wir – Kinder einer untergegangenen Republik, die all den Modernisierungs- und Prosperitätsverheißungen zum Trotz erst Ostdeutsche wurden, dann zur krisengebeutelten und verlorenen sowie überflüssig gewordenen Gesellschaft ohne Arbeit gehörten, zur Avantgarde und Neuland. All diesen Diagnosen gemein ist, dass mit ihnen nicht nur gesellschaftliche Widerständigkeit behauptet, sondern auch praktiziert wurde. Wie lange diese durchgehalten und wie daraus Routinen werden können, das interessiert mich bei der Frage: Ostdeutschland/Transformation gestalten?

Im Sinne der zukünftigen Vergangenheit danke ich Ihnen sehr für Ihre mutige Einladung und die Möglichkeit hier zu sprechen. So möchte ich auch den pompösen Titel für diesen Abend „Frauen gestalten Ostdeutschland. Frauen gestalten Transformation.“ nicht mehr als Provokation verstehen, denn auch das BMBF hat unter einem ähnlich kühnen Titel anlässlich des Weltfrauentages eingeladen: 

Sag mir, wo die Frauen sind – Was tun für die Sichtbarkeit innovativer Frauen in Deutschland?

Entweder es steht gerade richtig schlecht um dieses Land, dem doch sonst nicht die Ideen ausgehen, oder der Fachkräftemangel macht es möglich … Äh nötig, dass die „stille Reserve Frau“ adressiert wird. 

Es ist wie ein Déjà-vu. Als ich vor 10 Jahren nach Görlitz zog, titelte die sächsische Zeitung: „Wo sind die jungen Frauen hin?“. Ist die Provinz hier etwa Vorreiter für eine gesellschaftliche Frage, die Sie nun auch auf Bundesebene beginnt zu interessieren?  

Heute stehe ich auch hier, weil Sie mich als akademisch qualifizierte Frau, als Sozialwissenschaftlerin, ansprechen, die auch noch in eben dieser ländlichen Gesellschaft lebt, zu der sie forscht und sich zu allem Übermut aktivistisch umtut. 

Das produziert überregional Aufmerksamkeit. An dieser Stelle befördert der ländliche Raum die Sichtbarkeit, der – statistisch gesprochen – wenigen (jüngeren) Frauen, die proaktiv Verantwortung übernehmen wollen. 

Ich möchte Ihnen kurz von der Vergangenheit berichten, in die ich bis heute involviert bin, auf der Suche nach Möglichkeiten, die Praktiken von Frauen für die Zukunft der Lausitz im Strukturwandel folgenreich zu beeinflussen:  

Es war einmal eine Gleichstellungsbeauftragte, die hieß Ines Fabisch, und die traf auf eine Soziologin in Ostsachsen – mich. Sie starteten eine Revolution durch Interpretation! 

Sie trafen sich dort, wo sie nicht mehr vermutet wurden: in ländlichen, peripheren Regionen wie die, in der sie lebten. Beide fragten: Wenn sie einander dort fanden und jede von ihnen weitere Frauen zu nennen wusste, so dass sich der Eindruck erhärtete, dass niemand die Frauen, die da waren, wahrzunehmen schien – Wo war der rote Teppich? Sie beschlossen also, jene vermisst geglaubte Spezies zu fragen: Wie geht das Bleiben in peripheren ostdeutschen Regionen? 

Frauen machen hier schon Strukturwandel, so unsere steile These, die wir empirisch rekonstruierten – allerdings gegen den Strich: 

ohne belastbare Strukturen – eher als Einzelkämpferinnen – als Marginalisierte. Die Schülerin und die Gleichstellungsbeauftragte ebenso wie die Unternehmerin oder die Ehrenamtliche. Strukturschwäche auf Ebene der Repräsentanz des eingangs beschriebenen öffentlichen Handelns. Gleichzeitig stellte ich in meinem Forschungstagebuch fest: Wie erstaunt bin ich, dass ich ständig auf jene vermisst geglaubten Wesen traf und immer noch treffe: Sie sprühen vor Ideen, welche Potenziale es in der Region zu heben gilt, nehmen prekäre Beschäftigung in Kauf, versorgen Kinder und Tiere, bauen Höfe und Häuser um, und vernetzen nebenbei, wer und was auch immer sich verknüpfen lässt. All jene, die nicht voneinander wussten. Und sie halten so manchen Laden am Laufen, der ohne sie kaum das Gehen gelernt hätte.

Apropos Gehen - Frauen beeinflussen die Transformationsprozesse in Ostdeutschland eben auch, weil sie gehen beziehungsweise gegangen sind. Ihr „kollektives“ Weggehen hinterlässt Leere, verursacht Brüche, schadet dem Zusammenhalt, verhindert Bleiben, reduziert Chancen, schrumpft Bevölkerung, beklagt das Verlassensein, den Verlust der Enkelkinder, beschämt und verunsichert die Verbliebenen! 

Die Dagebliebenen – Verantwortungsträger, bis auf wenige Ausnahmen männlich, waren keine Helden geworden, sondern tragische Figuren, die reflexartig zusammenzuckten, wenn wir sie einluden, über die Chancen für Frauen in ländlichen Regionen zu sprechen. Da seien sie die Falschen. Das können sie gar nicht beurteilen. Sie schicken mal die (einzige) Kollegin, die kümmert sich um Frauenthemen. 

Aber wir wollen über Regionalentwicklung, Bildung und Bleibebedingungen sprechen, insistiere ich. 

Hallo? 

Schon aufgelegt. 

Natürlich waren nicht alle so zurückhaltend, es gab auch jene, die damit beschäftigt waren, zu behaupten, es gäbe doch gar kein Problem. Überhaupt scheint es einen Zusammenhang zu geben zwischen der Behauptung, hier könne man(n) alles starten, wenn man(n) nur wolle. Chancengleichheit hätte man seit DDR-Zeiten doch längst erreicht. Man(n) könne doch nichts dafür, wenn die Frauen nicht wollen oder eben mit den Kindern nicht können. Man(n) kenne keine Frau, die hier unglücklich sei.

Und der häufig kritischeren Erfahrung vieler Frauen. Sie wollen nicht dazu beitragen, ja dafür herhalten, wirtschaftspotente Luftschlösser zu befördern oder den für sie bereiteten Erwerbsperspektiven im MINT-Bereich folgen. Dieser Widerspruch zwischen den meist männlichen Steuerungsideen: Wir bereiten Euch doch das Feld, wieso betretet Ihr es nicht? und der Entrüstung der Frauen: Die lassen uns gar nicht tun, was wir einbringen können und wollen – dies führt zu entkoppelten Praktiken. Die einen gingen. Die andern blieben, mit dem Gefühl, sie hätten alles getan, und waren sich keiner Mitverantwortung bewusst. Diejenigen Frauen, die es versuchten mit der Verantwortung in etablierten Führungspositionen, migrierten – teils ernüchtert – zurück in die Metropolen oder in deren Nähe, oder sie suchten den Rückzug, wenn Haus oder Hof es zuließen.

Um darüber angemessen reden zu können und ins Handeln zu kommen, gründeten wir mit zahlreichen Frauen eine Plattform: F wie Kraft. Wir wollten auf einen zwingenden Zusammenhang aufmerksam machen: das M (die männliche Masse) muss beschleunigt werden, damit Kraft entstehen kann: F wie Kraft ist also kein Karriereportal, keine politische NGO, sondern speist sich aus den Themen und Handlungen aus den Lebenswelten der Frauen aus all den Lebensbereichen, die sie in einer ländlichen Gesellschaft einnehmen – ihr Tun und ihre Praktiken zu zeigen war der erste Schritt. 

Der zweite, darin das Moment der Selbstorganisationsfähigkeit zu entdecken. Also von der Programmatik zum Handeln zu kommen. Sich gegenseitig zu unterstützen, zu Repräsentantinnen ihrer und unserer „Bleibenslebensweisen“ wie es meine Kollegin Melanie Rühmling in ihrer Dissertation beschreibt, zu werden. 

 

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Foto: Henning Schacht

 Was ich gelernt habe: Es geht nur lokal und in konkreten Beziehungen, die wir eingehen und aufbauen und indem wir versuchen, Routinen zu schaffen. Das ist ein aufwendiges Unterfangen. Wir haben weder erwartet, wie lange es dauern würde, noch wie aufreibend dieser Prozess für die eigenen Kraftressourcen ist. Aber es geht nicht anders und es macht so viel Spaß!

Immerhin: Heute haben wir ein Bündnis kommunaler Gleichstellungsbeauftragter in der Lausitz, die sich organisieren, um herauszufinden, wie sie im Strukturwandel agieren können und was das eigentlich mit Chancengleichheit zu tun hat. Sie organisieren sich, wenn das neue Gleichstellungsgesetz die Bedingungen zum Handeln in der ländlichen Gesellschaft unterschätzt. Und wir haben eine sichtbare Plattform geschaffen, über die wir eine wichtige Stärkung der Strukturen – ja eine gesellschaftspolitische Stimme geworden sind, von der Sie weiterhin hören werden. Ich bitte um Verständnis, wenn wir mal nicht erreichbar sind – das Land ist auch unser Rückzugs- und Erholungsraum, um nicht nach Berlin oder Leipzig ziehen zu müssen!

Vielen Dank, ich freue mich auf unser Gespräch!

 

Dr. Julia Gabler

… ist Vertretungsprofessorin im Master Management des Sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. Als Direktorin des TRAWOS Instituts beschäftigt sie sich unter anderem mit den Verbleibchancen qualifizierter Frauen in Ostsachsen sowie dem Strukturwandel in der Lausitz.

 

[1] Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp, S. 19.

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"Was fehlt, ist der Blick auf die soziale Infrastruktur"

Interview mit der Gleichstellungsbeauftragten Manuela Dörnenburg über feministische Perspektiven im Brandenburgischen Strukturwandel

Manuela Dörnenburg, Gleichstellungsbeauftragte für das Land Brandenburg, war im Gespräch mit Marius Koepchen von der Universität Flensburg zum Thema Gleichberechtigung im Strukturwandel. Klar wurde: ein alleiniger Fokus auf wirtschaftliche Entwicklungen in der Lausitz wird nicht genug sein, um in der Region den nötigen Wandel anzustoßen – Entscheidungsprozesse brauchen eine soziale Perspektive.

Welche genderpolitischen Fragen sehen Sie im Strukturwandel in der Lausitz? Was sind Ihre Aufgaben als Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg?

Meine Aufgaben sind verschieden. Da ist zum einen der Kontakt zu den kommunalen und behördlichen Gleichstellungsbeauftragten, deren Ansprechpartnerin ich bin. Dabei geht es vor allem um den fachlichen Austausch, aber auch um Probleme, die die Kolleginnen in ihren jeweiligen Behördenstrukturen haben. Zum anderen informiere ich die Öffentlichkeit zum Thema Gleichstellung. Das ist ein weites Feld und bietet viel Raum, weil die Gleichstellung von Frauen und Männern eine klassische Querschnittsaufgabe ist, sodass kein politischer oder sozialer Bereich davon unberührt ist.

An den Aufgaben der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten kann man die Weite des Aufgabenfelds Gleichstellung besonders gut illustrieren. Die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten sind die Hüterinnen in ihren Verwaltungen, dass die Themen Vereinbarkeit von Familien und Beruf, gendergerechte Sprache, aber auch die möglichst paritätische Besetzung der Führungsebenen präsent sind. Andererseits tragen sie das Thema durch Veranstaltungen, Presse- und Vernetzungsarbeit in die örtliche Bevölkerung und arbeiten dafür mit sehr unterschiedlichen Menschen und Institutionen zusammen, zum Beispiel mit Seniorinnen oder Kindergartenkindern. Die Frage ist: Wie kriegen wir eine Gender-Perspektive in die Erziehungs- und Sozialstrukturen hinein? In dieser Vielfalt der Bevölkerungsgruppe, Mädchen und Frauen von 0 bis 100 Jahren, finden wir alles!

Die genderpolitische Frage im Lausitzwandel beginnt genau dort, wo die Menschen in der Lausitz leben und von dem Strukturwandel betroffen sind. Wir wissen, dass Lebensumstände von Frauen und Männern grundsätzlich unterschiedlich sind und die Frage ist, inwieweit das bei den Programmen und Fördermitteln in der Lausitz Beachtung findet.  

Das Bündnis der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten der Lausitz kritisiert genau diesen Punkt. Frauen werden, so deren Erfahrung, in ihren besonderen Belangen nicht berücksichtigt und auch nicht beteiligt. Deshalb, so die Kritik, laufen die Prozesse des Strukturwandels an den Bedürfnissen der Hälfte der Bevölkerung vorbei mit der Konsequenz, dass vor allem junge und gut ausgebildete Frauen die Lausitz verlassen.

Diese Prozesse sehe ich auch und unterstütze daher das Bündnis der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten der Lausitz.

Welche Bedarfe sehen Sie in der Lausitz und wie können die Strukturwandelgelder dabei helfen? Wie kann Ihrer Vorstellung von dem guten Leben in der Lausitz nähergekommen werden?

Es geht nicht um meine Vorstellungen von einem guten Leben oder dass ich Bedarfe definiere. Wichtig ist, dass im Strukturwandelprozess die betroffenen Menschen ihre Bedarfe äußern können, und dass diese Sichtweisen auch ernst genommen werden.

Die Strukturwandelgelder werden in Brandenburg zum Teil im Rahmen eines Werkstattprozesses vergeben. In den Werkstätten, die nach Themengruppen geteilt sind, sitzen Menschen aus der Wirtschaft, Vereinen, Institutionen, Kommunen aber auch Ministerien. Sie alle sind Fachleute und bringen ihre Expertise bei der Beurteilung der Projektanträge ein. Die Anträge werden von Unternehmen, Vereinen oder anderen Akteur*innen gestellt und erhalten von der Wirtschaftsregion Lausitz GmbH Unterstützung. Das ist erstmal ein guter und transparenter Prozess.

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Manuela Dörnenburg. Foto: https://msgiv.brandenburg.de/msgiv/de/beauftragte/landesgleichstellungsbeauftragte/

 

Die Fragen, die sich mir in dem Zusammenhang stellen, sind die nach den Kriterien, wonach ein Antrag auf Geschlechtergerechtigkeit überprüft oder eben auch nicht überprüft wird. Wer von der Bevölkerung ist wie von dem jeweiligen Projekt beeinflusst und hat etwas davon? Jeder Antrag müsste auf diese Frage geprüft werden und dazu braucht es wiederum Fachleute, die das bewerten können. Die gibt es meines Erachtens nicht. Das ist ein schwieriger Sachverhalt, weil wir damit dem gesetzlichen Auftrag nach Artikel 3 Grundgesetz, nämlich die Gleichheit zwischen Frauen und Männern herzustellen, nicht nachkommen.

Wenn wir also den Bedarf nach mehr Geschlechtergerechtigkeit im Prozess des Strukturwandels ausmachen, dann kann ich im Moment nicht sagen, wie in diesem Punkt die Gelder derzeit helfen. Es müssten oben beschriebene Kriterien zur Beurteilung von Projekten definiert und angewendet werden, es könnten aber auch entsprechende Genderprojekte entwickeln und bewilligt werden. Dazu bräuchte es wiederum Projektträger.

Eine Entwicklung hin zu dem Beschriebenen finde ich sehr wichtig. Gleichzeit ist das aber eher eine Metaebene. Das, was die Bevölkerung an Bedarfen sieht, ist dadurch nicht gehoben. Durch den Wegfall der Braunkohle wird sich die Wirtschaft in der Lausitz massiv verändern. Darauf wird ein starker Fokus gelegt. Aber was ist mit all den Menschen, und das sind vor allem Frauen, die nicht in der Braunkohle oder den Zulieferbetrieben arbeiten. Was ist im Rahmen des Strukturwandels mit all denen die im Dienstleistungs-, gesundheitlichen oder Bildungsbereich arbeiten? Welche Perspektiven zeigen wir auf, damit gerade die jungen Frauen die Lausitz nicht weiter verlassen, wie es in den letzten Jahren erfolgt ist?

Die Frage nach einem guten Leben kann in Bürgerbeteiligungsprozessen gut erarbeitet werden. Aber Bürgerbeteiligung ist nicht einfach so gemacht. Wer wird wie beteiligt? Wer kann sich wie äußern? Haben die meist weniger laut artikulierenden Frauen die gleiche Chance sich einzubringen, wie Männer? Wie erreiche ich die Menschen überhaupt?

Diese Überlegungen müssen der Bürgerbeteiligung vorweggestellt werden. Als ehemalige kommunale Gleichstellungsbeauftragte habe ich mit einem Kollegen zusammen ein Bürgerbeteiligungskonzept aufgebaut mit dem Ansatz des Losverfahrens, um sehr unterschiedliche Menschen in den Prozess einzubinden. Diese Prozesse brauchen aber viele Ressourcen, viel Zeit und ein politisches Umfeld, das bereit ist, die Ergebnisse dann auch anzunehmen.

An der Frauentagsveranstaltung in Altdöbern haben wir gesehen, wie dankbar die Frauen waren, dass sie gefragt wurden, wie sie ihre Umwelt gestaltet haben wollen. Vor allem die Älteren unter ihnen haben gesagt: Toll! Das habe ich jetzt mal sagen können und sehe auch, dass jüngere Frauen meine Meinung ernst nehmen. Genau das braucht es.

Wo sehen Sie die Ursachen für die Abwanderung gerade von jungen Frauen oder auch von Frauen allgemein aus der Region?

Während einige Studien aussagen, dass die Abwanderung von Frauen aus der Region aufgrund fehlender Perspektiven passiert, ist uns, beim genaueren angucken, klargeworden, dass wir eigentlich keine spezifischen Daten haben. Deshalb ist es wichtig, dass man bei diesem Thema zwischen ganz normalen Prozessen in der Entwicklung von Menschen und lausitzspezifischen Problemen unterscheidet.

Es ist durchaus üblich, dass junge Menschen die Region, in der sie aufgewachsen sind, verlassen, um etwas Neues kennenzulernen, zu studieren oder um eine Ausbildung zu machen. Es ist ebenso normal, dass einige von ihnen dann nicht mehr zurückkommen, weil sie jemanden kennenlernen und woanders ihre Familie aufbauen. Interessant ist aber doch, dass das bei den Frauen in der Lausitz häufiger vorkommt als bei den Männern.  Es kommen auch weniger zurück und da sollte schon gefragt werden, warum das so ist.

Bieten wir innerhalb der Lausitz und dieser Altersentwicklung genügend Signale, dass Menschen zurückkommen oder neu herziehen wollen? Da müssen wir ehrlich sagen, dass die Strahlkraft der Lausitz auch überschattet ist von dem Problem der nationalistischen Strukturen vor Ort, das Leute aus Metropolregionen abschreckt. Mit der Arbeit der Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg“, der RAA oder den Projekten, welche im Rahmen des Bundesprogrammes „Demokratie leben!“ gefördert werden, wird schon viel getan. Dennoch scheint das ein nicht unerheblicher Faktor zu sein, der Menschen davon abhält in die Lausitz zu ziehen, weil sie sich entweder daran erinnern, wie es in ihrer Jugend war, bevor sie weggezogen sind, oder es von woanders mitbekommen.

Darüber hinaus suchen junge Menschen in ihrem Zuhause ein umfangreiches kulturelles Angebot, dass sie häufiger in Städten finden können, da es dort mehr Theater und Museen gibt. Das bringt uns wieder zur Thematik der sozialen Infrastruktur aus der vorherigen Frage. Ein reiner Fokus auf einen wirtschaftlichen Strukturwandel der Lausitz vernachlässigt nicht nur den Aufbau einer sozialen Infrastruktur, sondern auch den einer kulturellen Infrastruktur. Um Menschen also neu oder wieder in die Region zu locken, benötigt es eine Kombination von Maßnahmen, die Frauen mehr Perspektiven auf ein modernes und kulturelles Leben in der Region geben, zum Beispiel über Fördergelder für lokale Bühnen. 

In Bezug auf die von Ihnen angesprochenen Veränderung, die es ihrer Meinung nach in der Lausitz bräuchte: Welche Utopien oder Zukunftsvorstellungen sehen Sie im Diskurs um den Strukturwandel in der Lausitz? Und welche Bereiche des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens profitieren gerade von den Fördergeldern?

Die Debatte um den Strukturwandel in der Lausitz dreht sich am meisten um die Frage, wie man die existierenden Industriestrukturen in eine neue Industrie überführen kann. Und das ist an sich auch nicht schlecht. Wenn wir aber diesen Ansatz aus einer Gender-Perspektive beleuchten, fällt auf, dass Veränderung oft beim Straßenbau aufhört. Ein Verständnis für die Relevanz von Erziehungs- Bildungs- und Care-Systemen fehlt. Die Annahme, dass Arbeiter einfach nur zum Betrieb kommen müssen, weil sie einen Partner oder eine Partnerin zuhause haben, die sich um die Kinder kümmert, verschleiert den Blick auf die wertvolle Care-Arbeit, die oft von Frauen neben einer 40-Stunden-Stelle geleistet werden muss. Wenn wir also richtiges Gender-Budgeting anwenden würden, könnten wir über die Frage, was Männer oder Frauen brauchen, hinwegkommen und anfangen Gelder einzuteilen, basierend auf dem, was wirtschaftlich und sozial von der Bevölkerung gebraucht wird, sodass alle davon profitieren können.

Welche Personen sind denn besonders sichtbar in diesem Diskurs? Konnten Interessengruppen von gesellschaftlich eher ungehörten Menschen wie Frauen oder queeren Menschen sich durchsetzen?

Ich glaube, dass es eine große Spannweite an Gruppen gibt, die den Eindruck haben nicht wahrgenommen zu werden. Genau da sind Bürgerbeteiligungen relevant, weil sie den Interessen des kleinen Dorfes eine Stimme gegenüber denen eines Großunternehmens geben. Welche Gruppen sich da jetzt durchsetzen kann ich nicht sagen, aber was klar ist, ist, dass der Zusammenschluss der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten und F wie Kraft schon ordentlich Kreise gezogen hat. In dem Zusammenhang war auch der Landtagsbeschluss zum Strukturwandel in Brandenburg wichtig, weil er klar den Bedarf nach Monitoring auch in Bezug auf die Geschlechterperspektive benennt. Geschlecht als strukturierende Kraft muss selbstverständlich implementiert werden. Darauf müssen wir achten und der Beschluss hilft dabei. Da kommen wir wieder zurück auf die Strukturen in den Werkstätten und wie sie verändert werden müssen, damit alle Menschen vor Ort sichtbar werden und die Projekte gewählt werden, die die Gemeinden sowohl wirtschaftlich als auch sozial voranbringen.

 

 

Manuela Dörnenburg...

... ist die äußerst engagierte Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg: https://msgiv.brandenburg.de/msgiv/de/beauftragte/landesgleichstellungsbeauftragte/

 

Paula Walk, Marius Koepchen, Johannes Probst und Josephine Semb...

 ... die Autorinnen des Interviews, sind Wissenschaftler*innen an der Europa Universität Flensburg und der TU Berlin. Sie beschäftigen sich mit der nachhaltigen Transformation des Energiesystems. Dabei legen sie in ihrer Forschung insbesondere einen Fokus darauf, wie diese Transformation einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit leisten kann.

 

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Allein zurückkehren will niemand

Anfang 20 und gerade aus der Lausitz weggezogen. Kommt man jemals wieder? Unsere Autorin hat sich in ihrem Freundeskreis umgehört.

von Hanna Scheudeck

Jedes Jahr zu Weihnachten sind sie wieder versammelt. Wenn die Freundinnen und Freunde, mit denen ich meine Jugend im Kreis Bautzen verbracht habe, zu Besuch kommen, dann ist die Region wieder lebendig für mich. So geht es den anderen auch. Wir reden dann darüber, wie es wäre, wieder heimzukehren nach dem Studium. Doch wer macht den ersten Schritt? Allein will niemand in der Lausitz leben. Zu vage sind die Chancen, auf neue Menschen zu treffen, mit denen man seine Zeit verbringen möchte. Wenn ich zurückkehren will, muss ich wohl mein soziales Umfeld mitnehmen - oder einen Teil meines Soziallebens verzichten.

Bild Hanna Scheudeck

"Statt sich als 'Unbezahlbarland' oder Ähnliches anzupreisen wäre es ehrlicher zu sagen: Wir haben hier Probleme und wir brauchen Euch, um sie zu lösen."

Foto: Dim Hou     

 Wenn ich mir meine Zukunft vorstelle, würde ich mir wünschen, dass darin wieder die Lausitz vorkommt. Vielleicht habe ich auch mittlerweile eine romantisierte Vorstellung von der Gegend, weil ich zu lange weg war. Je konkreter ich es mir vorstelle, umso weiter rückt diese Zukunft in die Ferne. Umso stärker kehren die Erinnerungen zurück an das stundenlange Warten auf den Bus und das frustrierende Freizeitangebot.

 In Bautzen gibt es keinen Club in dem ich mit meinen Freundinnen und Freunden ausgehen könnte. Und die wenigen Bars in der Stadt werden kaum von Jugendlichen besucht. Dann wird mir wieder bewusst, dass soziales und kulturelles Angebot in der Region nur zustande kommt, wenn die Menschen sich selbst darum kümmern. Die schier endlosen Möglichkeiten, in der Großstadt seine Abende zu verbringen, können überfordern. Doch für mich haben sie auch ein großes Stück Freiheit bedeutet, auf das ich nicht so schnell wieder verzichten möchte.

Wenn Du studieren willst, musst Du weg

 Ich bin 2019 wegen meines Studiums nach Dresden gezogen. Das war keine bewusste Entscheidung gegen die Lausitz, eher eine logische Konsequenz: Wenn Du studieren willst, musst Du weg! Die Lausitz zu verlassen war der natürliche Verlauf der Dinge. Alle meine Freundinnen und Freunde machten es genauso. In meinem alten Wohnort kenne ich nun kaum noch Menschen in meinem Alter – sie alle sind fortgegangen. Nicht nach New York oder Paris – eher nach Leipzig oder Dresden. Ein paar wenige hat es auch nach Berlin verschlagen.

 In der Großstadt haben sie gefunden, was in unserer Region unvorstellbar war: Anonymität, ein lebendiges Sozialleben und eine Zukunftsperspektive. Sie sind weg gegangen, um tätowieren zu lernen, bei der Friseurausbildung nicht nur Haarschnitte für Frauen gehobenen Alters machen zu müssen oder in eine lebendige Musikszene eintauchen zu können. Ich bin gegangen, um Internationale Beziehungen zu studieren. Da war klar, das kriege ich in der Lausitz nicht. Und nutzen kann ich es dort auch nicht. Die Region bot mir keine Perspektive.

Jeder, der geht, hinterlässt eine Lücke

 Ich war schon früh politisch engagiert, zunächst in der Geflüchtetenhilfe, später organisierte ich Demonstrationen gegen Neonazis in Bautzen. Das wollte ich nicht aufgeben. Die Neonazis sind schließlich auch immer noch da. Anfangs kam ich häufig nach Hause, um an Treffen teilzunehmen oder Veranstaltungen zu planen. Doch mit der Zeit wurden die Leute, die ich dort kannte, weniger.

 Während die Menschen zu den fremdenfeindlichen Pegida-Demos nach Dresden strömten, brannte in Bautzen der Husarenhof. Das politisierte mich. In so einer Gesellschaft wollte ich nicht leben. Mit 14,15 Jahren hatte ich das Gefühl, wenn ich es nicht anpacke, dann macht es niemand. Das ist der Vorteil in einer Stadt wie Bautzen. Jede einzelne, die sich einbringt, kann eine Wirkung erzielen. Umgekehrt heißt das aber auch: Jeder, der geht, hinterlässt eine Lücke.

 Daraus ergibt sich eine Verantwortung, die unter meinen Freundinnen und Freunden durchaus Thema ist. Die meisten bevorzugen Engagement in der Provinz, wo die eigene Arbeit so dringend gebraucht wird. Wir fühlen uns mit der Region noch immer verbunden und wollen sie ein Stück besser machen.

Blumige Selbstdarstellung nervt

 Das geht natürlich nicht allen so. Einige aus meinem alten Freundeskreis statten der Lausitz nur einen Besuch ab, wenn es sich nicht vermeiden lässt und auch das nur mit einem mulmigen Gefühl. Wir alle haben erfahren, was es bedeutet, in einem Umfeld zu leben, das ein Nährboden für Rechtsextremismus ist. Für uns ist das nicht einfach ein Image, das der Osten Sachsens von irgemdwem aufgedrückt bekommt, sondern erlebte Realität. Wir wissen, dass Fremdenfeindlichkeit in unseren lauschigen Wohnorten immer wieder aufflammen kann und wir finden es unbegreiflich, dass das unter den Teppich gekehrt wird, statt es offen anzusprechen. Mich stört die blumige Selbstdarstellung der Lausitz, die in Imagekampagnen und Rückkehrerwerbung zum Ausdruck kommt. Statt sich als „Unbezahlbarland“ oder Ähnliches anzupreisen, wäre es ehrlicher zu sagen: Wir haben hier Probleme und wir brauchen Euch, um sie zu lösen.

 Die Lausitz wirbt bei Leuten meiner Generation, dass wir zurückkehren sollen. Ich kann damit wenig anfangen. Vielleicht wäre es schlauer den jungen Menschen eine Möglichkeit zu geben, dass sie die Lausitz gar nicht erst verlassen müssen. Dass sie in der Region bleiben können, weil ihr Studiengang auch in Görlitz oder Cottbus angeboten wird. Dass auch Bautzen eine Universität bekommt. Dass es mehr als eine Möglichkeit gibt, einen schönen Abend zu verbringen, und man danach auch noch nach Hause kommt. Dann werden die Versuche der sächsischen und brandenburgischen Dörfer und Kleinstädte, junge Menschen zur Rückkehr in die Lausitz zu bewegen vielleicht tatsächlich Erfolg haben. Dann wäre der Weg zurück kürzer und die Entscheidung leichter.

Hanna Scheudeck...

... 23, ist im Kreis Bautzen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Seit 2019 lebt sie in Dresden und studiert Internationale Beziehungen an der Technischen Universität.

Dieser Beitrag...

... erschien am 17.02.2023 in der Neue Lausitz - dem Magazin für tiefgründigem, analytischem und kritischem Journalismus mit Fokus auf die Transformationsprozesse in der Lausitz. Ihr wollt weiterlesen? Alle Infos findet ihr unter Neue Lausitz - Das Leitmedium für den Wandel

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Kämpferische Gedanken zum 25.11.2022, dem internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen

Meinen Überlegungen möchte ich das Gedicht mit dem Titel „Dies ist kein Gedicht“ der argentinischen Lyrikerin und Fotografin Susana Thénon (1935-1991) voranstellen. Es stammt aus ihrem Gedichtband Habitante de la nada (deutsch Einwohner*in von Nirgendwo), der im Jahr 1959 in Buenos Aires erschienen ist. Das Gedicht, welches kein Gedicht ist bzw. sein will_sein soll, erweist sich als zutreffend für aktuelle Situationen und Gemengelagen. Die Zeilen resonieren und ragen ins Jetzt hinein, aktualisieren sich insbesondere auch vor dem Hintergrund der multiplen Krisen und Kriege auf poetische Art und Weise.

 

Das ist kein Gedicht

Die Gesichter sind dieselben,

die Körper sind dieselben,

die Wörter riechen abgestanden,

die Ideen nach altem Leichnam.

Dies ist kein Gedicht:

es ist ein Wutschrei,

Wut wegen der hohlen Augen,

wegen der unbeholfenen Wörter

die ich sage und die sie mir sagen,

wegen des Kopfsenkens

angesichts der Mäuse,

angesichts Gehirne voller Urin,

angesichts bleibender Tote

die den Garten der Luft verstopfen.

Dies ist kein Gedicht:

es ist ein universaler Fußtritt,

ein Schlag in den Magen des Himmels,

eine enorme Übelkeit

rot

so wie das Blut war bevor es Wasser wurde.

(eigene Übersetzung; S. Hettmann)

 

Der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen (trans und cis) Frauen, der jährlich am 25. November stattfindet, ist ein seit Jahrzehnten wichtiger Aktionstag im feministischen Kalender gegen patriarchale und männliche Gewalt an bzw. gegen FLINTA* (Frauen*[1], Lesben, Inter*, nicht-binäre, trans und agender Personen). Diese Dominanz- und Gewaltverhältnisse, gegen die wir ankämpfen und die wir sichtbar machen wollen, für die wir mehr Bewusstsein schaffen wollen, sind strukturell verankert und Ausdruck einer historisch gewachsenen und sich hartnäckig haltenden – sowohl latenten als auch manifesten – Geringschätzung, Verachtung und Zurückdrängung von Frauen und Queers. Weltweit erleiden nach wie vor unzählige Frauen und Queers männliche Gewalt und es ist erschütternd, wie viele diese patriarchale Gewalt nicht überleben; auch hier in der Lausitz nicht![2]

Es ist 2022 und immer noch ist jede dritte FLINTA* rein statistisch betrachtet mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen, wobei die Dunkelziffer sogar noch viel höher ist. Die Auseinandersetzung mit geschlechtsbasierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, die oftmals auf Misogynie und Transmisogynie, also auf Frauenverachtung und Frauenhass, Queerfeindlichkeit und Transphobie beruht, wird weltweit wieder breiter und mit Nachdruck geführt. Die globalen feministischen Bewegungen und Mobilisierungen haben in den letzten fünf Jahren stark an Kraft gewonnen, Millionen auf den Straßen versammelt und sie breiten sich unaufhaltsam aus.

Ein sehr eindrückliches Beispiel hierfür ist die Interventionsperformance „Un violador en tu camino/ Ein Vergewaltiger auf Deinem Weg“ vom feministischen Kollektiv Las Tesis aus Valparaíso/ Chile. Diese wurde am 20.11.2019 zum ersten Mal als Protest auf die Straßen Valparaísos getragen und hat rund um den kämpferischen 25.11.2019 für eine virale Explosion rund um die Welt gesorgt. Fortwährend wurde die Intervention, die Performance weltweit in Haupt-, Groß- und Kleinstädten, in verschiedenen Sprachen, von unterschiedlichsten Gruppen, von Frauen und Queers immer und immer wieder auf die Straßen und Plätze gebracht. So z.B. auch hier in der Lausitz, am 14. Februar 2020 in Cottbus.[3]

Das kraftvolle Ausdrucksgeschehen dieser feministischen Hymne, die unablässig durch den öffentlichen und digitalen Raum hallt, hat rund um den Globus einen Nerv getroffen: Wir haben das Patriarchat satt! Wir wollen ein Leben ohne Gewalt! Ein gutes Leben für A L L E ! Wir wollen alles verändern! Und wir sagen immer und immer wieder: Wenn sie eine anrühren, antworten wir alle!

Ich spüre, wie so oft, Dankbarkeit und tiefe Verbundenheit, Teil dieses lebendigen, bewegten und bewegenden, aktiven und aktivistischen, körperlichen und diskussionslustigen, kämpferischen und kreativen, innovativen und konfliktfähigen Feminismus besonders aus und in Argentinien, aber auch hierzulande zu sein. Ich bin dankbar, weiterhin lernen zu dürfen sowie, um es mit Suely Rolnik zu sagen, auch mein Unbewusstes fortlaufend zu de-kolonialisieren und eine anti-koloniale Haltung einzunehmen.

Für den hiesigen Kontext würde ich mir noch viel mehr Organisierung und intersektionale Kollektivität auf der Straße wünschen! Mehr Bewegung im doppelten Wortsinne, d.h. mehr Bewegung auf der Straße und auf den Plätzen. Den Körper einbringen/ „poner la cuerpa“ wie es feministisch gedacht und gewendet auf spanisch heißt bzw. in feministischen Kontexten gesagt wird: mit dem Körper präsent sein und Raum einnehmen — so wie es sehr viele Jahr um Jahr und auch am 25.11.2022 wieder taten und weiter tun werden! Und ich wünsche mir mehr Bewegung und Nachdruck hinsichtlich der dringend notwendigen – nicht zuletzt strukturellen– Veränderungen.

Gründung aus Edad sin tregua/ Pausenlose Zeiten (1958) von Susana Thénon

So wie die*der sagt: ich sehne mich

ich lebe, ich liebe

erfinden wir Worte

neue Lichter und Spiele,

neue Nächte

die sich fügen

mit den neuen Wörtern.

Schaffen wir

andere Götter,

weniger groß,

weniger fern,

knapper und wesentlicher.

Andere Geschlechter

schaffen wir

und andere dringende Notwendigkeiten

unsrige,

andere Träume

ohne Schmerz und ohne Tod.

So wie die*der sagt: ich komme auf die Welt

schlafe ich, lache ich,

erfinden wir

das Leben

neu.

(eigene Übersetzung; S. Hettmann)

Das Gedicht ist bereits aus dem Jahr 1958 und die Autorin Susana Thénon aus Argentinien, wo es seit einigen Jahren eine sehr große, ja eine massive, transversale und intersektionale Bewegung gibt, die gegen Gewalt an Frauen* und Queers auf die Straße geht und fordert, dass Staat und Gesellschaft endlich mehr gegen diese patriarchale Gewalt, vor allem gegen letale (= tödliche) Gewalt, also gegen Femizide tun. Auch hierzulande ist ein differenziertes Bewusstsein für patriarchale Gewaltverhältnisse, Dominanzbestreben und Femizide sowie mehr Schutz und Gerechtigkeit für die Betroffenen dringend nötig! Denn alle 72 Stunden wird in Deutschland ein Femizid vollendet; von den unzähligen Tötungsandrohungen und Femizidversuchen ganz zu schweigen. Und fast immer kommt der Täter aus dem sozialen Nahumfeld; ist er Partner oder Expartner gewesen.

Nach der bekannten Definition der Soziologin Diane Russell aus dem Jahr 1976 meint Femizid schlichtweg die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Femizide geschehen in einem Kontinuum an Gewaltspiralen. Verhängnisvoll ist, dass auch 2022 das eigene Zuhause der gefährlichste Ort für Frauen bleibt.

Mit künstlerischen Mitteln ermutigen Susana Thénons Gedichte nicht zuletzt zur Positionsbestimmung des eigenen Handelns und dazu, die Herrschaftsverhältnisse unserer Zeit zu ergründen sowie Einbildungskräfte, Imaginationen und utopisches Potenzial ins Feld der Fragen nach Alternativen zu führen. Das Kämpferische, Ermächtigende und Mutmachende wirken ins Jetzt, in unsere Gegenwart hinein und führen zu neuer Sinnstiftung, führen dazu Zusammenhänge neu bzw. anders sehen zu können, führen zu Anstiftungen das Leben neu zu erfinden: „Inventemos la vida nuevamente“.

Ins Jetzt ragt der Mut, Fragen aufzuwerfen und die vielversprechende Möglichkeit auf ein Leben ohne Angst, auf ein anderes Leben jenseits patriarchaler Zwänge. Es ist der Mut, für ein gutes Leben zu kämpfen, für Vielfalt und Gleichwertigkeit in der Gesellschaft einzutreten. Es sind Zeilen, die danach fragen, wie es mit der Humanität in unserer Gesellschaft bestellt ist angesichts der Gewaltverhältnisse, dem grassierendem Hass und der um sich greifenden bedrohlichen Gleichgültigkeit.

¡Ni una menos! ¡Vivas nos queremos!

Nicht eine weniger, keine weitere mehr! Wir wollen uns lebend!

 

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Bilder und Aktionsform „Proyectorazo“: S. Hettmann, Cottbus 2020

 

Dr. Sandra Hettmann...

... ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Multiplikatorin für feministische und gesellschaftskritische Themen. In Berlin, Potsdam und Buenos Aires hat sie Gender Studies und Hispanistik studiert. Sie forscht(e) zu Geschlechterverhältnissen, Bild-Text-Beziehungen und Lyrik und übersetzt gelegentlich Gedichte aus dem argentinischen Spanisch. Seit über zwei Jahrzehnten bewegt sie sich in feministisch-queeren Zusammenhängen. Gemeinsam mit Gefährt*innen hat sie Netzwerk Polylux aufgebaut. 2018 ist sie von Berlin nach Cottbus gezogen und fragt sich manchmal immer noch warum*weshalb*wieso? Sie ist passionierte Rennradfahrerin und die Lausitz ein ganz schönes Trainingsterrain für die sommerlichen Alpenüberquerungen, Pässe und Brevets.

 

 

[1] Umfasst cis, trans und inter* Frauen, vgl. z.B. https://interventionen.dissens.de/materialien/glossar

[2]  Siehe z.B.: https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/dreifache-mutter-gedenken-an-eine-in-cottbus-getoetete-frau-47367177.html

[3] Siehe: https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/protest-cottbuserinnen-setzen-provokantes-zeichen-gegen-vergewaltigungen-43512337.html und https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/feminismus-frauen-aus-cottbus-wehren-sich-gegen-gewalt-43762375.html sowie https://www.youtube.com/watch?v=iYI5y5_6Ses

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Frauen sind dort, wo Neuland ist

Studien behaupten, dass zu wenig Frauen die Entwicklung im ländlichen Raum prägen. Ein Irrtum, sagt die Wissenschaftlerin Dr. Julia Gabler. Sie sind da – nur nicht gleich zu entdecken, weil sie einen anderen, ganzheitlichen Ansatz verfolgen.

Als ich 2013 nach Görlitz in Ostsachsen zog, hatten die Zeitungen gerade getitelt: „Wo sind all die Frauen hin?“ Fünf Jahre nach der Studie „Not am Mann“ des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bestätigte das Statistische Landesamt in Kamenz den Befund der Massenabwanderung
von Frauen aus den ländlichen Regionen in Sachsen erneut.

Eine Kollegin und ich kamen 2016 in  einer weiteren Studie zum selben Schluss, und auch 2021 wiederholten sich die Befunde der strukturell verhärteten Abwanderung jüngerer Frauen. Die anhaltende Aufmerksamkeit fürs Thema macht klar, warum es alle für so besonders halten, wenn in Projekten und Initiativen der Landgesellschaft Frauen aktiv sind: Wir geraten derart in Aufregungen darüber, als hätten wir eine selten gewordene Spezies entdeckt. Was für ein Irrtum. In einem Newsletter zu unseren Forschungen schrieb ich: „Wie erstaunt war ich, dass ich ständig auf jene vermisst geglaubten Wesen traf und immer noch treffe: Sie sprühen vor Ideen, welche Potenziale es in der Region zu heben gilt, nehmen prekäre Beschäftigung in Kauf, versorgen Kinder und vernetzen nebenbei, wer und was auch immer sich verknüpfen lässt, und halten so manchen Laden am Laufen, der ohne sie kaum das Gehen gelernt hätte.“

Was ist da also los? Auf der Suche nach den Frauen gerät man in einen Strudel von Daten. Zuletzt  machte der Lausitzmonitor – eine repräsentative Befragung in Südostbrandenburg und Ostsachsen – wieder deutlich: Der Wunsch nach Bildung und (Mit-)Gestaltung sind wichtige Faktoren, warum junge Frauen ihren ländlichen Herkunftsräumen den Rücken kehren. Warum einige lieber nicht gehen, ist aber auch interessant: Familie, Freundschaften und das Dorf, in dem sie leben, sind ihnen sehr wichtig. Doch nur bei wenigen überwiegt diese Bindungskraft, bei den meisten siegt das Fernweh als Flucht aus der Enge der weiten Landschaften, in denen sie ungesehen sind. Auf der Suche nach neuen gedanklichen Horizonten verlassen sie die bewegungsarmen Dörfer, weil kein Bus, kein Fahrrad und erst recht kein Auto (nachts) das Bedürfnis nach Nahverkehr befriedigt – den nahen Verkehr mit Gleichaltrigen, Gleichgesinnten und Andersgestimmten. Zu bleiben und zugleich Entwicklungschancen zu entdecken – diese Kombination ist selten, aber auch nicht ausgeschlossen.

Tine Jurtz Fotografie 2021 04 6091 klein quer

 

Was brauchen Frauen also, um bleiben zu können? Seit den 2010er Jahren ist das Thema Rückkehr aktuell. Nach den Abwanderungsprämien gibt es nun Heimatpakete und Rückkehrertelefone. Statistisch gesehen kehren mehr Männer als Frauen zurück. Das Tragische: Frauen gehen, weil sie sich bilden wollen – dann kehren sie zurück oder wandern gar zu und können mit ihrer Bildung erstmal nichts reißen. Männer finden deutlich leichter adäquate Jobs vor allem in Führungspositionen. Wie sich die Rückkehr für Frauen anfühlt, hat die Künstlerin Sabine Euler für die Plattform „F wie Kraft“ karikiert: „Hallo, bin wieder da! Ich habe frischen Mut, tolle Ideen und Top-Qualifikationen mitgebracht! Hallo? HAALLOOO!“

Erst sind sie baff, dann fühlen sich viele Frauen ignoriert und demontiert, wenn sie versuchen, in Wirtschaft, Verwaltung und öffentlicher Dienst qualifikationsadäquate Jobs zu finden. Wer sich selbstständig macht, klagt darüber, als Unternehmerin nicht ernst genommen zu werden oder über das Ideenstadium hinaus kaum Nachfrage zu bekommen. Einige werden den Verdacht nicht los, dass die Ideen dann aber trotzdem umgesetzt wurden. Leider von jemand anders. Mit viel Einsatz bauen sie sich ihre eigenen Wirkungsorte, damit sie eben nicht wieder nach Berlin oder Leipzig ziehen müssen.

Frauen sind also dort zu finden, wo Neuland entsteht. Sie besetzen leere Räume und funktionieren sie um, sie gestalten Kombinate, Kolabore und kollegiale Wirkungsorte wie Schulen und andere Häuser des Wandels. Dort sind sie meistens ganz vorne zu finden. Dabei
geht ihr Wirken häufig über die klassische Ehrenamtsarbeit hinaus. Nicht nur Kuchen backen für
das Vereinstreffen, sondern das Ganze im Blick haben: Wo kommt das Mehl oder die Milch für den Kuchen her? Wer soll was vom Kuchen abbekommen? Wo verteilen wir ihn, damit niemand so weit gehen oder fahren muss? Wie groß muss der Tisch für alle sein? Und was, wenn jemand kommt, von dem noch keiner weiß? Ach, ja: Musik wäre natürlich auch schön! Und – zack! – haben wir eine ganze Gesellschaft von Mit-Tätigen beisammen.


Und auch hier wächst eine neue Generation heran: Die noch viel jüngeren Frauen haben klarere Wirkungsansprüche als die Älteren – so macht es zumindest den Eindruck. Bei allem soll auch etwas herumkommen. Etwas, das sie zeigen können (auf Insta!). Meine Hoffnung ist, dass sie sich weniger an der Nase herumführen und mit vagen Aussichten locken lassen – denn mit losen Versprechungen passiert noch nichts. Das haben sie schon erfahren und der Blick in die Zukunft mahnt sie, lieber nicht so viel Zeit zu vertrödeln.

Das Tragische: Frauen gehen, weil sie sich bilden wollen – dann kehren sie zurück und können nichts reißen.

Female Future, Plan W, Zukunft ist weiblich – dieser seit 2012 zum Megatrend erklärten „shift“ von männerdominierter und -getragener Versorger-Politik hin zu einer alle Geschlechter und Personengruppen verbindenden vorsorgenden und fürsorgenden Haltung, ist überfällig: Haushalten und Vorsorgen mit den Ressourcen, die wir gebrauchen und verbrauchen. Fürsorge gegenüber den Menschen, mit denen wir leben. Voraussicht auf den Wegen, die wir gehen. Tätigkeiten,
Perspektiven und Blickwinkel auf das „Ganze“ – das können Frauen häufiger einfach besser. Wir brauchen also einander, um einen Zukunftspfad für alle zu bauen.

Für den Strukturwandel in der Lausitz zieht der Lausitz-Monitor eine traurige Bilanz: Frauen wollen sich in der Lausitz – für dieses „Ganze“ – nicht engagieren. Für mich kein Wunder: Ihre Themen für das Ganze fehlen, ein wirtschaftsgetriebenes, investitionsorientiertes und patriarchales Projekt lockt keine Frau hinterm Ofen vor. Es wird von oben verfügt und bleibt intransparent. Es gibt lediglich die Aussicht auf Beteiligung. Aber das ist noch längst keine wirkungsvolle Mitentscheidung. Und damit kein Gestaltungsanspruch auf eine andere Zukunft.


Dr. Julia Gabler...

... lebt in Görlitz. Sie lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz im Master Management Sozialen Wandels und forscht u.a. zum Strukturwandel und ländlichen Gesellschaften. Letzten Sommer hat sie mit ihrer Familie ein Haus in einem Dorf an der Neiße gekauft: Rufbus, kein Internet und Reichsbürgerflagge im Garten des Nachbarn. Sie kann es noch immer nicht fassen, dass sie das wirklich getan haben.

Dieser Beitrag...

... ist erschienen in der Kolumne: FREI SCHNAUZE! des ...

https://landlebtdoch.de/category/kolumne-frei-schnauze/

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F wie Fliegen

Lisa sagt...

 

Als ich das erste Mal beim Lausitzerin Stammtisch war, war ich überwältigt und begeistert von dem ganzen Support den man dort bekommt. Ich habe unheimlich viele Ideen und wünsche für die Lausitz. Bei meiner Rückkehr in die Gegend habe ich mich relativ einsam gefühlt. Mein Freundeskreis lebt vor allem in Südbayern und hat mich oft gefragt, was ich denn in diesem „Loch“ will. Die Frage habe ich mir auch oft selbst gestellt. Sollte man für eine Beziehung in eine Gegend ziehen, in die man eigentlich nie zurück wollte?

Ich habe eine Weile gebraucht um mich hier wieder einzuleben und zu merken, dass ein Antrieb um hier zu bleiben auch sein kann, sich selbst einzubringen um die Gegend voran zu bringen. Ich habe überlegt, was für mich die entscheidenden Dinge sind, damit eine Region sich wie ein Zuhause anfühlt in dem man gern lebt. Meine Antwort darauf ist ganz klar: ein soziales Netzwerk, die Möglichkeit mein Hobby auszuführen und ein Job der mir Spaß macht und das notwendige finanzielle einbringt um die anderen beiden Dinge zu finanzieren.

Auf meiner Suche nach Möglichkeiten sich zu beteiligen und engagieren bin ich auf sehr vielen Umwegen auf F wie Kraft gestoßen. Als ich beim Stammtisch dann von meinen Sorgen und Wünschen erzählte bin ich auf unheimlich viel Verständnis und Unterstützung gestoßen. Schnell waren der Punkt Soziales Netzwerk und Job abgeklärt und ich erzählte von meinem Hobby, oder wohl eher meine Leidenschaft: dem Gleitschirmfliegen und dass es hier leider nur sehr wenig Piloten in der Gegend gibt. Der lokale Verein „Leichtflieger Oberlausitz“ umfasst bisher nur männliche Piloten und das finde ich sehr schade. Kurzerhand kam ich auf die Idee einen Schnupperkurs für F wie Kraft zu organisieren. Vielleicht lassen sich ja ein paar der anderen für den Sport begeistern.

Nach meinem Vorschlag dazu beim nächsten Stammtisch haben wir schnell 10 Frauen zusammenbekommen die Lust haben einmal selber abzuheben. Dank meiner Windenschleppausbildung kenne ich Gunter von Paradopia und der ist wie immer total motiviert Leuten das Fliegen beizubringen. Am 29.04. war es dann soweit und wir trafen uns am Wachtelberg bei Freital für den Schnupperkurs. Das Wetter war ideal und so konnten nach einer kurzen Einweisung zu Gleitschirm, Gurtzeug, Starttechnik und Sicherheit die ersten Versuche gestartet werden. Die Stimmung war super und alle hatten schnell Erfolgserlebnisse. Es war einfach wunderbar zu sehen, wie begeistert die anderen waren und wie jede bald ihren ersten Flug absolvieren konnte.

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Lisa in Aktion

Für mich war der Gleitschirmschnupperkurs ein voller Erfolg und ich freue mich hoffentlich bald ein paar der Teilnehmerinnen die schönen Fluggebiete in der Gegend zeigen zu können. Ich werde mich weiter für mehr Pilotinnen in der Lausitz einsetzen und gern auch weitere Schnupperkurse organisieren. Dank „F wie Kraft“ können Frauen in der Lausitz „F wie Fliegen“!

Marie sagt...

 

Als Lisa zum ersten Mal zum Lausitzerinnen-Stammtisch kam, erzählte sie uns von ihrem Hobby, dem Gleitschirmfliegen, und dass es in ihrem lokalen Verein ausschließlich Männer gibt. Und wie es beim Lausitzerinnen-Stammtisch nun einmal so ist, wird sofort beschlossen, das gemeinsam zu ändern und sich einzumischen. Nun ist das ja beim Gleitschirmfliegen aber natürlich nicht so leicht, denn das muss man ja erstmal erlernen. Als wenn das für uns Lausitzerinnen ein Problem wäre…

Lisa Ulbrich, 25 Jahre jung, Bauingenieurin aus Mittelherwigsdorf, Dreadlocks, Tattoos, viel herumgekommen, mit offenem Geist und Ambitionen, die Region mitzugestalten… organisiert ganz mir nichts, dir nichts, einen Schnupperkurs bei der Dresdener Gleitschirmschule Paradopia. Es finden sich zehn F wie Kraftlerinnen und nehmen sich am 29. April 2022 einen Tag frei, um abzuheben.

Wir treffen uns in der Nähe von Freital. Als wir ankommen und unseren Gleitschirmlehrer Gunther treffen, sehen wir zum ersten Mal den Übungshang. Sieht irgendwie flach aus… Wir können uns noch nicht so richtig vorstellen, was das werden soll.

Auf der Hälfte des Hanges angekommen, sieht natürlich alles schon wieder ganz anders aus. Da sollen wir also runterrennen?! Wir bekommen eine ausführliche Instruktion zum Anlegen der Schirme. Dann starten wir alle nacheinander. Dabei haben wir Walkie-Talkies im Rucksack, mit denen uns Gunther stets anweist, was zu tun ist. Bereits beim ersten Start heben einige der Teilnehmerinnen ab. Die Stimmung ist grandios. Alle haben Bock und sind begeistert. Nach dem zweiten Start fangen die Beine an zu zittern, teils wegen der Anstrengung beim Rennen („Lauf so schnell du kannst und gib alles!“) und teils wegen der Aufregung.

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Die F wie Flugschülerinnen und Lehrer Gunter

Auch während der Pausen entstehen neue Kontakte und erkenntnisreiche Gespräche. Nancy, 23, aus einem kleinen Dorf bei Bautzen, fühlt sich in ihrer Heimat sehr wohl und möchte am liebsten für immer dort bleiben. Das ist bei jungen Frauen selten und ich möchte gern mehr erfahren, da ich selbst oft Zweifel habe, ob die Lausitz wirklich der richtige Ort für mich ist. Doch da hebt sie schon wieder ab…

Mai, Manuela und Christine erzählen von ihrer Arbeit beim Landesverband Nachhaltiges Sachsen e.V. sowie bei der Dresdner Agenda 21. Erst zwei Tage vorher haben wir uns in einem Workshop zum Thema Öffentlichkeitsarbeit für Initiativen und Vereine über Social Media und Co. ausgetauscht. Direkt erproben wir unser neu gewonnenes Wissen und posten, was das Zeug hält. Die Instagram-Community spielt verrückt!

Cindy aus Hoyerswerda stellt recht schnell fest, dass sie wahrscheinlich in diesem Leben keine Profi-Gleitschirmfliegerin mehr wird und genießt den Rest des Tages mit den Anderen auf der Picknickdecke in der Sonne.

Mir selbst gelingt zwar der eine oder andere Start und ich hebe auch leicht ab, jedoch stürze ich bei meinem letzten Start und entscheide, eine Pause einzulegen. Ich will es aber auf jeden Fall nochmal probieren!

Franzi aus Weißwasser gelingt der Abheber des Tages. Sie fliegt über uns drüber und lässt dabei den Emotionen freien Lauf. Es geht das Gerücht um, dass man ihren Freudenschrei bis nach Freital gehört hat…

Na hui, wer fliegt denn da auf einmal ganz weit oben über uns drüber? Das ist natürlich Lisa. Sie kommt uns vor wie der mega-routinierte Vollprofi. Ist sie auch. Sie erzählt uns von ihren ganzen Ausflügen, die sie bereits mit anderen Aktiven erlebt hat, und aus dem Leben der Gleitschirmflieger*innen („immer einen Brühwürfel dabei haben!“). Ihre Erzählungen machen Lust auf mehr.

Am Ende des Tages sind alle wahnsinnig fertig und euphorisiert. Es hatte wahrscheinlich niemand von uns eine genaue Vorstellung, was uns erwartet. Wir sind überwältigt. Mindestens drei der Teilnehmerinnen interessieren sich nun ernsthaft für die Gleitschirm-Ausbildung. Go, Girls! Ihr findet ein neues Hobby und Lisa’s Verein wird ordentlich aufgemischt. Win-Win!

Gunter sagt...

 

Frauen haben schon seit Langem ihren Platz im Gleitschirmsport gefunden. Sie sind als Tandempilotinnen und Fluglehrerinnen tätig, nehmen an zahlreichen Meisterschaften teil und sind aus der Szene nicht mehr wegzudenken. Wie bei den Männern sind die meisten natürlich vorrangig zum Spaß, für das Naturerlebnis und für das immer wieder unbeschreibliche Gefühl des freien Fliegens mit dem Gleitschirm unterwegs. Nur schade, dass es immer noch zu wenige sind.
Deshalb war es für mich als Fluglehrer eine Freude, mal eine reine Frauengruppe der Initiative F wie Kraft bei einem Schnuppertag am Übungshang betreuen zu dürfen. Dank der Zielstrebigkeit und Begeisterung aller Teilnehmerinnen  wurde es ein zwar schweißtreibender, aber auch sehr erfolgreicher Tag mit ersten kleinen "Hüpfern" am Berg. Ich bin mir sicher, dass alle das Gefühl des scheinbar schwerelosen Fluges mit in den Alltag hinübernehmen konnten. Vielleicht lässt ja dieses Gefühl die eine oder andere auch nicht mehr los...

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Mehr über das Gleitschirmfliegen...

Fotos...

von Katrin Jeschke und Marie Melzer

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Nächste Station Lausitz

Kohleausstieg und Strukturwandel erforscht aus einer Geschlechterperspektive    

              

Paula Walk, Marius Koepchen und Isabell Braunger

Wir haben uns mit Auswirkungen von Schrumpfungen in der Kohleindustrie auf Frauen und ihrer Rolle in Strukturwandelprozessen beschäftigt. Dabei wurde deutlich, dass insgesamt geschlechterbezogene Daten zu Kohleausstiegsprozessen kaum vorhanden sind und die Datenlage zum Kohleausstieg und Strukturwandel speziell in deutschen Kohleregionen besonders dünn ist. Um diese Forschungslücke zu bearbeiten soll nun der Strukturwandelprozess in der Lausitz aus einer Geschlechterperspektive analysiert werden. 

In der Diskussion um den Kohleausstieg und in den ihn begleitenden strukturpolitischen Maßnahmen liegt der Fokus auf den mehrheitlich männlichen Arbeitern in der Kohleindustrie. Dahingegen bleiben die Auswirkungen auf Frauen und ihre Rolle im Strukturwandelprozess oft unsichtbar. Unsere Untersuchungen zeigen indes auf, dass Frauen von historischen Strukturwandelprozessen in Kohleregionen anders betroffen waren und anders politisch aktiv wurden als Männer (Braunger und Walk 2022; Walk et al. 2021).

Die Bekämpfung der Klimakrise erfordert die Umstrukturierung des Wirtschafts- und Energiesystems. Zu dieser Umstrukturierung gehört der Ausstieg aus der Kohle als sehr wichtiger Schritt, denn es gibt günstige erneuerbare Alternativen für diese klimaschädlichste Form der Energieerzeugung. Die dadurch entstehenden Veränderungen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern stehen in Wechselwirkung mit bestehenden Machtungleichheiten. Genauer gesagt, betreffen sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen (z. B. Männer und Frauen) in unterschiedlicher Weise, weil sie über unterschiedliche Ressourcen (Anerkennung, Finanzkraft, Privilegien usw.) verfügen. Außerdem haben die verschiedenen Gruppen nicht die gleichen Möglichkeiten, sich an Strukturwandelprozessen zu beteiligen.

Titelbild Bärwalder

Bärwalder See - Symbol für den Wandel in der Lausitz (Foto: Marie Melzer)

 Häufig werden nur die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Strukturwandelprozessen (z.B. Beschäftigenzahlen) für ganze Regionen analysiert ohne dabei soziale Aspekte zu berücksichtigen (z.B. Drogenkonsum, häusliche Gewalt). Vor allem die in der Kohleindustrie beschäftigten Männer profitieren von diesem Fokus, während die negativen Auswirkungen auf Frauen in der Region ignoriert werden. Das kann zur Reproduktion bestehender Ungerechtigkeiten zwischen Frauen und Männern führen. Wenn politische Maßnahmen an die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen angepasst sind, kann die Energiewende eine Chance für die Gesellschaft sein, bestehende ungerechte Machtverhältnisse zu überwinden, anstatt diese Strukturen zu reproduzieren.

Forschungslücke: die Rolle der Frauen im Strukturwandel in der Lausitz

 Zur Rolle von Frauen im Strukturwandelprozess in deutschen Kohleregionen gibt es kaum Forschung. Bei unserer Recherche kamen wir auf lediglich 6 Publikationen für die Lausitz. In Rapportbuch: Frauen im Kraftwerk und in der Kohle 1957 bis 1996. beschäftigen sich Petra Clemens und Simone Rauhut damit, wie Frauen von stark sinkenden Beschäftigtenzahlen in der Kohleindustrie nach der Wiedervereinigung betroffen waren. Besonders die Positionen in den Kraftwerken, die in der DDR meist von Frauen ausgeübt waren (insbesondere der als Maschinistin), erfuhren eine Abwertung. Dies führte dazu, dass Frauen schneller als Männer ihren Job verloren. In Gewinnerinnen und Verlierer. Strukturbrüche auf dem Arbeitsmarkt im Transformationsprozess am Beispiel der Stadt Cottbus – eine erste Analyse. argumentieren Heike Jacobsen und Andrea Winkler, dass das auch damit zusammenhing, dass Frauen durch ihre familiären Verpflichtungen als nicht so attraktive Arbeitnehmerinnen galten. Es ist naheliegend, dass diese Benachteiligung von Frauen insbesondere mit den patriarchalen Geschlechtervorstellungen verbunden war, die in Westdeutschland noch stärker ausgeprägt waren. Darüber hinaus waren Frauen von der schnellen Abwicklung der Textilindustrie stark betroffen. Männer haben schneller wieder Jobs z.B. in der Rekultivierung der ehemaligen Kohleminen bekommen. Im Laufe der Zeit haben Frauen dann insbesondere in Behörden und im Dienstleistungssektor wieder Arbeit gefunden. Junge Frauen zeigen jedoch eine höhere Abwanderungsbereitschaft als Männer im gleichen Alter, weil sie nicht genügend attraktive Ausbildungsmöglichkeiten im Raum Cottbus vorfinden. Dieses Phänomen, dass Frauen sich weniger mit der Lausitz identifizieren und eher bereit sind aus der Lausitz weg zu ziehen bleibt bestehen, wie auch der Lausitz Monitor 2021 zeigt.

Tine Jurtz Fotografie 2022 05 2503s

Autorin Paula Walk

 

Frauen im Strukturwandel in Großbritannien und den USA: Was können wir daraus lernen?

Der Großteil der von uns gesichteten wissenschaftlichen Literatur bezieht sich auf die Strukturwandelprozesse in Kohleregionen in Großbritannien und in den USA (Braunger und Walk 2022, Walk et al. 2021).

Bei diesen zwei Strukturwandelprozessen gab es viele Parallelen in Bezug auf die Auswirkungen auf Frauen. Es kam in beiden Ländern zu einer Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen, insbesondere im Dienstleistungssektor. Diese Beschäftigung war meist schlecht bezahlt und prekär. Dennoch verschaffte sie den Frauen eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Trotz der Zunahme der Lohnarbeit, waren die Frauen nach wie vor auch hauptsächlich für die Sorgearbeit zuständig, was ihre Gesamtarbeitsbelastung erhöhte. In den ehemaligen Kohleregionen führte der Kohleausstieg teilweise zu einer Identitätskrise. In einigen Veröffentlichungen wurde berichtet, dass vor allem Frauen viel emotionale Arbeit leisteten, um diese Krisen zu lindern, soziale Netzwerke aufrechtzuerhalten und den Verlust sozialer Einrichtungen (wie z. B. früher von der Kohleindustrie finanzierte Jugendclubs) zu kompensieren. Der Verlust des Arbeitsplatzes und der Identität der ehemaligen Bergleute und die neue Rolle der Frauen als Hauptverdienerinnen führten auch zu Konflikten innerhalb der Familien.

Tine Jurtz Fotografie 2022 05 9259s

Autor Marius Koepchen

Was den Beitrag der Frauen im politischen Prozess rund um den Kohleausstieg angeht, so sind die beiden Fallstudienländer, Großbritannien und die USA, sehr unterschiedlich. Die Literatur über Großbritannien konzentriert sich hauptsächlich auf die Rolle der Frauen bei Bergarbeiterstreiks. Sie wollten die Kohlearbeiter in ihrem Bemühen unterstützen, so viele Kohlebergwerke wie möglich vor der Schließung zu bewahren. Weil für sie der Zugang zu wichtigen Organisationen, insbesondere zu den Gewerkschaften, weitgehend verwehrt war, gründeten sie ihre eigenen Organisationen, die landesweit vernetzt waren und viel Widerhall in den Medien fanden. Die Literatur über die USA bezieht sich vor allem auf eine Kohleregion, die Appalachen, und behandelt die Rolle der Frauen in Anti-Kohle Bewegungen. Diese gewannen an Bedeutung, als die umweltschädliche Bergbaumethode des Mountain Top Removal[1] sich verbreitete. Die Proteste wurden meist von Frauen angeführt. Sie wurden von dem Wunsch angetrieben, ihre Heimat zu schützen, während Männer eher davor zurückschreckten, in dieser Bewegung aktiv zu werden, weil sie emotional stärker mit der Kohleindustrie verbunden waren.

Handlungsempfehlungen für einen geschlechtergerechten Strukturwandel

Um Strukturwandelprozesse geschlechtergerechter zu gestalten, haben wir aus unseren Untersuchungen folgende erste Empfehlungen abgeleitet:

A) Die Arbeitsbedingungen in Sektoren, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten (Pflege, Dienstleistungssektor usw.), sollten nicht nur, aber besonders während des Kohleausstiegs verbessert werden, da die Entwicklung des Dienstleistungssektors eine wichtige wirtschaftliche Säule für ehemalige Kohleregionen sein kann.

B) Umschulungs- und Weiterbildungsangebote sollten nicht nur für Männer, die in der fossilen Industrie beschäftigt sind, zugänglich und auf sie zugeschnitten sein, sondern auch Frauen in den vom Strukturwandel betroffenen Regionen ansprechen.

C) Sorge- und emotionale Arbeit im Rahmen von Strukturwandelprozessen sollte stärker gewürdigt und die Finanzierung von sozialen und kulturellen Einrichtungen sichergestellt werden.

D) Selbsthilfegruppen oder andere Formen der psychologischen Unterstützung für ehemalige Bergleute/Männer zur Bewältigung des Verlustes des (sehr identitätsstiftenden) Arbeitsplatzes sollten gegründet und gestärkt werden.

E) Die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung mit Pflege- und Betreuungseinrichtungen sollte sichergestellt werden. Dies ist Voraussetzung für die Beteiligung von Frauen an Strukturwandelprozessen, weil sie ungerechterweise immer noch den Hauptteil der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen.

F) Die Interessen von Frauen sollten besser institutionalisiert werden, z.B. durch die Sicherstellung einer paritätischen Vertretung von Frauen in Entscheidungsprozessen (Expert*innengremien, Kommunalpolitik, etc.).

https://lausitz-monitor.de/artikel/die-sicht-der-juengeren-frauen-auf-die-lausitz/

Nächste Station Lausitz

Im Zuge des 2020 verabschiedeten Strukturstärkungsgesetzes, das mit einem 40 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm für die Kohleregionen verbunden ist, stellt sich die Frage, wie diese Mittel eingesetzt werden können, damit die Lausitz gerade für (junge) Frauen wieder eine attraktivere Region wird. Dieser Frage möchten wir in unserem nächsten Forschungsprojekt nachgehen. Zum einen möchten wir (junge) Frauen befragen, welche politischen Maßnahmen ihre Lebensqualität in der Region verbessern würde. Zum anderen untersuchen wir die politischen Prozesse in denen entschieden wird, welche Projekte mit den Strukturwandelgeldern gefördert werden. Hier ist insbesondere von Bedeutung herauszufinden, inwiefern Frauen gleichberechtigt beteiligt sind. Die Geschlechterperspektive auf den Strukturwandel geht aber über die konkreten Bedarfe und Interessen von Frauen hinaus. Eine feministische Perspektive auf den Strukturwandel bedeutet, auch kritisch zu beleuchten, welche Bereiche des Lebens als relevant für den Strukturwandel angesehen werden. Welche Bedeutung wird in offiziellen Dokumenten zum Strukturwandel (wie beispielswiese im Brandenburger Lausitzprogramm 2038) den Wirtschaftsbereichen Care, Pflege und Bildung zugesprochen? Inwiefern wird unbezahlte Sorgearbeit, emotionale und kommunale Arbeit als wichtiger Teil im Strukturwandel anerkannt? Sorgearbeit bleibt oft unsichtbar und wird für selbstverständlich genommen. Selbst die Menschen, die diese Arbeit leisten, wissen oft nicht, wie zentral sie für unsere Gesellschaft ist.

Die Sichtbarmachung von patriarchalen Strukturen im Lausitzer Strukturwandel soll einen wichtigen Beitrag auch für andere Kohleregionen leisten, die den Ausstieg erst noch vor sich haben. Sie sensibilisiert dafür und zeigt, wer im Strukturwandelprozess Entscheidungen trifft und wessen Bedürfnissen und Interessen nachgegangen wird – und welchen nicht. Wenn die Geschlechterperspektive mitgedacht wird und der Umbau des Energiessystems explizit genutzt wird, um bestehende Ungleichheiten abzubauen, kann die Transformation des Energiesystems nicht nur zu einer umweltschonenderen, sondern auch zu einer sozialeren und feministischeren Wirtschaftsweise beitragen.

Paula Walk, Marius Koepchen und Isabell Braunger...

 ... sind Wissenschaftler*innen an der Europa Universität Flensburg und der TU Berlin. Sie beschäftigen sich mit der nachhaltigen Transformation des Energiesystems. Dabei legen sie in ihrer Forschung insbesondere einen Fokus darauf, wie diese Transformation einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit leisten kann.

Die Fotos der Autorinnen...

... sind entstanden auf der F wie Kraft - Veranstaltung "Frauen.Machen.Lausitz" am 7. Mai 2022 in Altdöbern - vielen Dank an Tine Jurtz!

Literatur 

Braunger, I./ Walk, P. (2022): Power in transitions: Gendered power asymmetries in the United Kingdom and the United States coal transitions. Energy Research & Social Science 87: 102474. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2214629621005612

Clemens, P./ Rauhut, S. (1999): Rapportbuch: Frauen Im Kraftwerk Und in Der Kohle 1957 Bis 1996.

Jacobsen, H./Winkler, A. (2011): Gewinnerinnen und Verlierer. Strukturbrüche auf dem Arbeitsmarkt im Transformationsprozess am Beispiel der Stadt Cottbus – eine erste Analyse. Lehrstuhl für Wirtschafts- und Industriesoziologie, BTU Cottbus

Walk, P./ Braunger, I./ Semb, J./ Brodtmann, C./ Oei, P./Kemfert, C. (2021): Strengthening Gender Justice in a Just Transition: A Research Agenda Based on a Systematic Map of Gender in Coal Transitions. Energies 14: 5985. https://doi.org/10.3390/en14185985

 

[1] Beim der als besonders umweltschädlich eingestuften Kohleabbau Methode „Mountain Top Removal“  werden die Spitzen von Bergen abgetragen, um die Kohle freizulegen.

 

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