„Auch jene Frauen, die nach 1990 blieben, waren extrem beweglich“

Abgelaufen

Die ländliche Region der Lausitz ist von starker Abwanderung geprägt. Wie aber geht es denen, die bleiben – und denen, die nun kommen? 

Ebru Taşdemir im Gespräch mit Dr. Julia Gabler

Im Jahr 2017 zogen erstmals mehr Menschen aus dem Westen in den Osten Deutschlands als andersherum. Aber macht sich diese Trendumkehr auch im ländlichen Raum bemerkbar, der nach der Wende jahrzehntelang durch einen Mangel an Frauen geprägt war? Die Soziologin Dr. Julia Gabler schaut sich in der sächsischen Lausitz den sozialen Wandel genauer an.

Frau Gabler, viel wurde über die Abwanderung aus dem Osten geschrieben. Aber was passierte mit den Frauen, die nach dem Mauerfall hier im ländlichen Raum geblieben sind? 

Viele Frauen hier in der Lausitz waren die Ersten, die aus den Prozessen rausgeflogen sind – und gleichzeitig am schwierigsten Anschluss gefunden haben. Sie haben besonders prekäre und sehr schlecht bezahlte Jobs gefunden. Dazu kommt, dass die Kinder weggegangen sind. Dann sind vielleicht noch die Nachbarn weggezogen. Der Forschungsstand dazu ist prekär, es gibt nur Einzelinterviews. Aber diese Abwanderung zu erleben und selbst zu den Verbleibenden zu gehören, verursacht ein kulturelles Trauma des Zurückgebliebenseins.

 

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Weil das Klischee entsteht, dass man sich nicht bewegt, obwohl doch vieles im Umbruch ist? 

Genau. Viele waren im Gegenteil extrem beweglich und mussten mit sehr vielen Veränderungen einen Umgang finden. Gerade die Generation, die ungefähr 40 Jahre alt war zur Wende, hatte noch ein halbes Erwerbsleben vor sich, das darf man nicht vergessen. Die Menschen, die hiergeblieben sind, sind dann oft in den Verwaltungsbereich oder in die Krankenkassen gewechselt, also in die Versorgungsstruktur und Dienstleistungen. Die Industrie gab es ja nicht mehr, über 90 Prozent der Arbeitsstellen wurden zurückgebaut. 

Wie beurteilen denn diese Frauen, die jetzt im Rentenalter sein müssen, ihr damaliges Nichtgehen – also: ihr Bleiben? 

Das ist ein mit Scham besetztes Thema. Denn es hieß immer wieder: Warum bist du denn da nicht weggegangen? Mobilität als einfache Lösung. Diese Menschen haben eine starke Bindung zu ihrer Familie, zur Landschaft, zu Haus und Hof. Wir haben versucht, das in Einzelgesprächen aufzuschließen, mussten aber auch respektieren, dass diese Frauen lieber unsichtbar bleiben wollten und sich zurückgezogen haben. 

Wenn Frauen wegziehen oder sich zurückziehen, macht das was mit der Zivilgesellschaft. 

Dort, wo Frauen sind, findet regionale Entwicklung statt, weil dort soziale Themen nicht nur als Sanierungsfall gedacht werden. Sondern als Gestaltungsräume, in denen unterschiedliche Akteur*innen zusammenkommen, die etwas ändern wollen.

So öffnen sich neue Räume?

Ja, es entstehen Räume, in denen die Kritikfähigkeit dieser ländlichen Gesellschaft eingeübt wird: in der Lage zu sein, miteinander kritisch zu diskutieren, ohne dass es persönlich gemeint ist. Es geht darum, wie Rahmenbedingungen des Lebens zu bewerten und zu beurteilen sind und durch wen! Und da ist der Strukturwandel natürlich ein Raum, in dem man Genderfragen und Nachhaltigkeitsfragen verknüpfen kann. Statt nur über Investitionslogiken und die Kompensation von Arbeitsplätzen zu reden. 

Dafür initiierten Sie die Online-Plattform „F wie Kraft“. Dort steht: „Egal, ob Du schon immer hier warst, neu in der Lausitz oder zurückgekommen bist – F wie Kraft ist Deine Plattform.“ 

Welche Menschen wollen hierherkommen? Wie können wir dazu einladen, herzukommen? Mit wem wollen wir zusammenarbeiten? All das sind weibliche Netzwerke, die nicht sichtbar waren, aber sehr stark bis in die Gegenwart wirken. Bei den Veranstaltungen der Initiative haben wir mit so vielen Frauen aus der Region darüber gesprochen, was wir und was sie machen und was in dieser Region passiert. Auch um die Akteurinnen zu ermutigen, davon zu berichten. 

Warum heißt der Slogan „F wie Kraft“? 

Weil eine wichtige Rückmeldung war, dass da nicht stehen soll: F wie Feminismus. Den sehen hier viele Frauen als urbanes Projekt und wollen sich davon abgrenzen. „F wie Kraft“ weist auch auf die physikalische Formel hin: Masse mal Beschleunigung. Ein Autor der Sächsischen Zeitung schrieb mal: Frauen müssen die männliche Masse in Bewegung versetzen. 

Die männliche Masse, das spielt auf die massive Abwanderung von Frauen nach der Wende an, die einen Frauenmangel in vielen Regionen nach sich zog. 

Es gibt noch immer Abwanderung, und auch, wenn wir nicht in allen Bildungsgruppen Geschlechterunterschiede feststellen: Insgesamt sehen Frauen ihren Verbleib skeptischer. Wenn man heute junge Menschen in Sachsen nach der beruflichen Zukunft fragt, ist ihre Herkunftsregion nicht mehr die erste Wahl, wobei dieser Trend seit ungefähr fünf Jahren langsam abnimmt. Was wir festgestellt haben, ist, dass der Einzugsbereich der Hochschule ein zentraler Faktor dafür ist, nach der Schule in der Region zu bleiben. 

Die jungen Menschen bleiben also, wenn sie studieren können? 

Gut zwei Drittel der Studierenden sind aber zugewandert! Dass nach der großen Abwanderungswelle in den 1990ern nun eine kollektive Rückkehrer-Welle in ländliche Regionen wie die Lausitz kommt, das ist bei weitem nicht so, auch wenn es wegen der vielen Rückkehr-Initiativen so wirkt.

Wieso gehen die Menschen denn weg?

Heute sind es weniger die fehlenden Arbeitsplätze, da war der Abwanderungsdruck in der Elterngeneration viel höher als bei den Jugendlichen heute. Es hat sich vielmehr eine Form von Abwanderungskultur etabliert, wie es die Bevölkerungsgeografen Tim Leibert und Karin Wiest für Sachsen-Anhalt beschrieben haben. Eltern oder auch Lehrerinnen und Lehrer sagen ihnen: Ihr habt hier keine Chance, keine Zukunftsperspektive. In der Lausitz ändert sich das aber interessanterweise mit dem Fachkräftebedarf.

Welche Gruppe von Frauen kehrt jetzt zurück?

Was jetzt, nach 20 bis 25 Jahren, eine neue Phase einläutet, ist die schwierige Versorgungslage in vielen ostdeutschen ländlichen Regionen. Viele Frauen kommen zurück, weil sie sich um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern. 

Wie stark stehen die jüngeren Frauen noch unter dem Einfluss der mütterlichen oder groß- mütterlichen Erzählungen aus der DDR-Zeit, darüber, dass die Frauen hier emanzipierter waren als im Westen?

Dieses Selbstbild trägt hier durchaus das kulturelle Selbstverständnis. Insbesondere in der Generation meiner Mutter, die jetzt bald in die Rente geht, gibt es das Verständnis, als Frau im Ingenieurberuf genauso anerkannt zu sein wie der männliche Kollege. Sie verzichten auf eine weibliche Berufsbezeichnung – das gehört auch zum Selbstbild. Das ist bei jüngeren Frauen definitiv anders. 

 

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Inwiefern?

Die Gleichstellungsbeauftragte unseres Landkreises, Marika Vetter, ist eine junge Handwerkerin. Mit ihrem Projekt „Frauen bauen“ wurde sie gerade ausgezeichnet. Sie berichtet über Geschlechterungerechtigkeiten auf Baustellen. Viele aus der Generation unserer Mütter teilen diese kritische Perspektive nicht, weil sie das Gefühl haben: Wenn frau sich durchbeißt und wenn sie gut ist, dann schafft frau es überall.

Ein Generationenzwist?

Ja! Da wird viel verklärt in den biografischen Erzählungen, was in der Selbsterfahrung junger Frauen deutlich problematischer wahrgenommen wird. 

„Den Begriff Feminismus meiden wir: Viele sehen ihn als urbanes Projekt“. Fühlen sich junge Frauen in technischen Berufen denn wohl in der Region?

Es ist gerade nicht richtig attraktiv, im ländlichen Raum seine Berufsperspektiven zu starten, obwohl viele Unternehmen händeringend Leute suchen. Für Frauen im technischen Bereich ist das noch schwieriger. Wenn eine junge Frau von der Hochschule Zittau/ Görlitz ihren Maschinenbau-Abschluss hat, dann wird sie hier eher nicht arbeiten. Weil sie selbst erfahren hat oder annehmen muss, dass Frauen in dem Bereich zwar anerkannt sind, aber trotzdem gefragt wird: Wo ist der Chef? 

Schwierig, ja.

Das ist dieser Widerspruch: auf der einen Seite ein relativ tradiertes Hierarchie- und Geschlechterverständnis zu haben, andererseits auch das Selbstverständnis, dass Frauen in diesen Bereichen arbeiten können.

Leben Sie eigentlich selbst gern in der Lausitz?

Ja, total gern. In den ersten fünf Jahren dachte ich: Oh Gott, wir müssen wegziehen. Jetzt weiß ich, ich lebe und arbeite hier mit sehr spannenden Leuten, die diesen ländlichen Raum entwickeln und das sehr intrinsisch motiviert tun. Als Soziologin habe ich hier alles, was ich brauche. Alle gesellschaftlichen Fragen türmen sich hier und liegen vor mir, wenn ich die Tür aufmache. 

 Der Artikel erschien am 28. September 2023 im der Freitag | Nr. 39

Der Osten ist weiblich. Immer mehr Frauen wollen in Ostdeutschland leben. Was finden sie dort?

Dr. Julia Gabler...

... geboren 1979 in Rostock, ist Direktorin des Instituts für Transformation, Wohnen und soziale Raumentwicklung an der Hochschule Zittau/ Görlitz. Als Sozialwissenschaftlerin forscht sie zu den Verbleibeperspektiven qualifizierter Frauen im ländlichen Raum.

Die Fotos...

... stammen aus den Fotoalben der Familie Pech und wurden für diesen Artikel zur Verfügung gestellt.

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