Meinen Überlegungen möchte ich das Gedicht mit dem Titel „Dies ist kein Gedicht“ der argentinischen Lyrikerin und Fotografin Susana Thénon (1935-1991) voranstellen. Es stammt aus ihrem Gedichtband Habitante de la nada (deutsch Einwohner*in von Nirgendwo), der im Jahr 1959 in Buenos Aires erschienen ist. Das Gedicht, welches kein Gedicht ist bzw. sein will_sein soll, erweist sich als zutreffend für aktuelle Situationen und Gemengelagen. Die Zeilen resonieren und ragen ins Jetzt hinein, aktualisieren sich insbesondere auch vor dem Hintergrund der multiplen Krisen und Kriege auf poetische Art und Weise.
Das ist kein Gedicht
Die Gesichter sind dieselben,
die Körper sind dieselben,
die Wörter riechen abgestanden,
die Ideen nach altem Leichnam.
Dies ist kein Gedicht:
es ist ein Wutschrei,
Wut wegen der hohlen Augen,
wegen der unbeholfenen Wörter
die ich sage und die sie mir sagen,
wegen des Kopfsenkens
angesichts der Mäuse,
angesichts Gehirne voller Urin,
angesichts bleibender Tote
die den Garten der Luft verstopfen.
Dies ist kein Gedicht:
es ist ein universaler Fußtritt,
ein Schlag in den Magen des Himmels,
eine enorme Übelkeit
rot
so wie das Blut war bevor es Wasser wurde.
(eigene Übersetzung; S. Hettmann)
Der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen (trans und cis) Frauen, der jährlich am 25. November stattfindet, ist ein seit Jahrzehnten wichtiger Aktionstag im feministischen Kalender gegen patriarchale und männliche Gewalt an bzw. gegen FLINTA* (Frauen*[1], Lesben, Inter*, nicht-binäre, trans und agender Personen). Diese Dominanz- und Gewaltverhältnisse, gegen die wir ankämpfen und die wir sichtbar machen wollen, für die wir mehr Bewusstsein schaffen wollen, sind strukturell verankert und Ausdruck einer historisch gewachsenen und sich hartnäckig haltenden – sowohl latenten als auch manifesten – Geringschätzung, Verachtung und Zurückdrängung von Frauen und Queers. Weltweit erleiden nach wie vor unzählige Frauen und Queers männliche Gewalt und es ist erschütternd, wie viele diese patriarchale Gewalt nicht überleben; auch hier in der Lausitz nicht![2]
Es ist 2022 und immer noch ist jede dritte FLINTA* rein statistisch betrachtet mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen, wobei die Dunkelziffer sogar noch viel höher ist. Die Auseinandersetzung mit geschlechtsbasierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, die oftmals auf Misogynie und Transmisogynie, also auf Frauenverachtung und Frauenhass, Queerfeindlichkeit und Transphobie beruht, wird weltweit wieder breiter und mit Nachdruck geführt. Die globalen feministischen Bewegungen und Mobilisierungen haben in den letzten fünf Jahren stark an Kraft gewonnen, Millionen auf den Straßen versammelt und sie breiten sich unaufhaltsam aus.
Ein sehr eindrückliches Beispiel hierfür ist die Interventionsperformance „Un violador en tu camino/ Ein Vergewaltiger auf Deinem Weg“ vom feministischen Kollektiv Las Tesis aus Valparaíso/ Chile. Diese wurde am 20.11.2019 zum ersten Mal als Protest auf die Straßen Valparaísos getragen und hat rund um den kämpferischen 25.11.2019 für eine virale Explosion rund um die Welt gesorgt. Fortwährend wurde die Intervention, die Performance weltweit in Haupt-, Groß- und Kleinstädten, in verschiedenen Sprachen, von unterschiedlichsten Gruppen, von Frauen und Queers immer und immer wieder auf die Straßen und Plätze gebracht. So z.B. auch hier in der Lausitz, am 14. Februar 2020 in Cottbus.[3]
Das kraftvolle Ausdrucksgeschehen dieser feministischen Hymne, die unablässig durch den öffentlichen und digitalen Raum hallt, hat rund um den Globus einen Nerv getroffen: Wir haben das Patriarchat satt! Wir wollen ein Leben ohne Gewalt! Ein gutes Leben für A L L E ! Wir wollen alles verändern! Und wir sagen immer und immer wieder: Wenn sie eine anrühren, antworten wir alle!
Ich spüre, wie so oft, Dankbarkeit und tiefe Verbundenheit, Teil dieses lebendigen, bewegten und bewegenden, aktiven und aktivistischen, körperlichen und diskussionslustigen, kämpferischen und kreativen, innovativen und konfliktfähigen Feminismus besonders aus und in Argentinien, aber auch hierzulande zu sein. Ich bin dankbar, weiterhin lernen zu dürfen sowie, um es mit Suely Rolnik zu sagen, auch mein Unbewusstes fortlaufend zu de-kolonialisieren und eine anti-koloniale Haltung einzunehmen.
Für den hiesigen Kontext würde ich mir noch viel mehr Organisierung und intersektionale Kollektivität auf der Straße wünschen! Mehr Bewegung im doppelten Wortsinne, d.h. mehr Bewegung auf der Straße und auf den Plätzen. Den Körper einbringen/ „poner la cuerpa“ wie es feministisch gedacht und gewendet auf spanisch heißt bzw. in feministischen Kontexten gesagt wird: mit dem Körper präsent sein und Raum einnehmen — so wie es sehr viele Jahr um Jahr und auch am 25.11.2022 wieder taten und weiter tun werden! Und ich wünsche mir mehr Bewegung und Nachdruck hinsichtlich der dringend notwendigen – nicht zuletzt strukturellen– Veränderungen.
Gründung aus Edad sin tregua/ Pausenlose Zeiten (1958) von Susana Thénon
So wie die*der sagt: ich sehne mich
ich lebe, ich liebe
erfinden wir Worte
neue Lichter und Spiele,
neue Nächte
die sich fügen
mit den neuen Wörtern.
Schaffen wir
andere Götter,
weniger groß,
weniger fern,
knapper und wesentlicher.
Andere Geschlechter
schaffen wir
und andere dringende Notwendigkeiten
unsrige,
andere Träume
ohne Schmerz und ohne Tod.
So wie die*der sagt: ich komme auf die Welt
schlafe ich, lache ich,
erfinden wir
das Leben
neu.
(eigene Übersetzung; S. Hettmann)
Das Gedicht ist bereits aus dem Jahr 1958 und die Autorin Susana Thénon aus Argentinien, wo es seit einigen Jahren eine sehr große, ja eine massive, transversale und intersektionale Bewegung gibt, die gegen Gewalt an Frauen* und Queers auf die Straße geht und fordert, dass Staat und Gesellschaft endlich mehr gegen diese patriarchale Gewalt, vor allem gegen letale (= tödliche) Gewalt, also gegen Femizide tun. Auch hierzulande ist ein differenziertes Bewusstsein für patriarchale Gewaltverhältnisse, Dominanzbestreben und Femizide sowie mehr Schutz und Gerechtigkeit für die Betroffenen dringend nötig! Denn alle 72 Stunden wird in Deutschland ein Femizid vollendet; von den unzähligen Tötungsandrohungen und Femizidversuchen ganz zu schweigen. Und fast immer kommt der Täter aus dem sozialen Nahumfeld; ist er Partner oder Expartner gewesen.
Nach der bekannten Definition der Soziologin Diane Russell aus dem Jahr 1976 meint Femizid schlichtweg die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Femizide geschehen in einem Kontinuum an Gewaltspiralen. Verhängnisvoll ist, dass auch 2022 das eigene Zuhause der gefährlichste Ort für Frauen bleibt.
Mit künstlerischen Mitteln ermutigen Susana Thénons Gedichte nicht zuletzt zur Positionsbestimmung des eigenen Handelns und dazu, die Herrschaftsverhältnisse unserer Zeit zu ergründen sowie Einbildungskräfte, Imaginationen und utopisches Potenzial ins Feld der Fragen nach Alternativen zu führen. Das Kämpferische, Ermächtigende und Mutmachende wirken ins Jetzt, in unsere Gegenwart hinein und führen zu neuer Sinnstiftung, führen dazu Zusammenhänge neu bzw. anders sehen zu können, führen zu Anstiftungen das Leben neu zu erfinden: „Inventemos la vida nuevamente“.
Ins Jetzt ragt der Mut, Fragen aufzuwerfen und die vielversprechende Möglichkeit auf ein Leben ohne Angst, auf ein anderes Leben jenseits patriarchaler Zwänge. Es ist der Mut, für ein gutes Leben zu kämpfen, für Vielfalt und Gleichwertigkeit in der Gesellschaft einzutreten. Es sind Zeilen, die danach fragen, wie es mit der Humanität in unserer Gesellschaft bestellt ist angesichts der Gewaltverhältnisse, dem grassierendem Hass und der um sich greifenden bedrohlichen Gleichgültigkeit.
¡Ni una menos! ¡Vivas nos queremos!
Nicht eine weniger, keine weitere mehr! Wir wollen uns lebend!
Bilder und Aktionsform „Proyectorazo“: S. Hettmann, Cottbus 2020
Dr. Sandra Hettmann...
... ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Multiplikatorin für feministische und gesellschaftskritische Themen. In Berlin, Potsdam und Buenos Aires hat sie Gender Studies und Hispanistik studiert. Sie forscht(e) zu Geschlechterverhältnissen, Bild-Text-Beziehungen und Lyrik und übersetzt gelegentlich Gedichte aus dem argentinischen Spanisch. Seit über zwei Jahrzehnten bewegt sie sich in feministisch-queeren Zusammenhängen. Gemeinsam mit Gefährt*innen hat sie Netzwerk Polylux aufgebaut. 2018 ist sie von Berlin nach Cottbus gezogen und fragt sich manchmal immer noch warum*weshalb*wieso? Sie ist passionierte Rennradfahrerin und die Lausitz ein ganz schönes Trainingsterrain für die sommerlichen Alpenüberquerungen, Pässe und Brevets.
[1] Umfasst cis, trans und inter* Frauen, vgl. z.B. https://interventionen.dissens.de/materialien/glossar
[2] Siehe z.B.: https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/dreifache-mutter-gedenken-an-eine-in-cottbus-getoetete-frau-47367177.html
[3] Siehe: https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/protest-cottbuserinnen-setzen-provokantes-zeichen-gegen-vergewaltigungen-43512337.html und https://www.lr-online.de/lausitz/cottbus/feminismus-frauen-aus-cottbus-wehren-sich-gegen-gewalt-43762375.html sowie https://www.youtube.com/watch?v=iYI5y5_6Ses