Der bewegende Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf

Abgelaufen

Eine Einladung von Heike Merten-Hommel

 

Als vor zehn Monaten das Programm des Lausitz-Festivals erdacht wurde, war mir noch nicht bewusst, dass sich im Jahr 2023 Brigitte Reimanns Geburts- und Todesjahr rundet. Es ist mein zweites Jahr als Dramaturgin beim Lausitz Festival und diese Art von Jubiläums- bzw. Jahrestags-Dramaturgie war und ist eigentlich nicht mein Ding. Aber als wir uns im Programm-Team des Lausitz Festivals über bedeutende Frauen der Region austauschten, über Frauenbilder im Wandel, spazierte ich am häuslichen Bücherregal entlang und zog den 1993 zum ersten Mal veröffentlichten Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf hervor. Der Griff hat sich gelohnt, umso mehr, als kein Staubkörnchen auf dem Geschriebenen zu liegen scheint. Darüber nachdenkend, was es ist, das Einen – neben der persönlichen Frauenfreundschaft – so anrührt, komme ich auf den Anspruch, den beiden Frauen als Künstlerinnen und Staatsbürgerinnen vertraten, und dem sie ihr Schreiben unterwarfen: sich unmittelbar an der Gestaltung der Lebenswirklichkeit zu beteiligen, im Großen und Ganzen.
Ganz und gar. Ihre Sehnsucht nach einem unentfremdeten, prallen und sinnerfüllten Dasein schloss die Beschäftigung mit den politischen Bewegungen einer Epoche ein, mit Folgen für das eigene Tun und Handeln. So gesehen waren ihrer beider Leben spannungsvolle Selbstversuche, bei vollem Risiko.

 »Sei gegrüßt und lebe«- eine Frauenfreundschaft

Über zehn Jahre lang, zwischen 1963 und 1973, befanden sich die Schriftstellerinnen Christa Wolf und Brigitte Reimann in einem intensiven Austausch, der im Laufe der Zeit an Unmittelbarkeit, Offenheit und gegenseitiger Wertschätzung gewann. Brigitte Reimann hatte trotz eigener Veröffentlichungen mit Unterlegenheitsgefühlen der gebildeten, literarisch versierten und deshalb so sehr verehrten Schriftstellerkollegin Wolf gegenüber zu kämpfen und verstieg sich noch im Jahr 1963 in die Fehlannahme, »die Wolf«, ihre »beste Feindin«, hätte ihr einen Preis vermasselt. Später fand sie in »Christa« eine Freundin fürs Leben, die ihr – über manche Krisen hinweg – bis zu ihrem frühen Tod die Treue hielt.
 
»Ich hab oft gesagt, dass es über unsere Zeit leider später mal keine Briefliteratur geben wird, weil kein Mensch mehr Briefe schreibt, aus mehreren Gründen. Auch ich nicht, oder nur selten. Mitteilungen, Anfragen, Proteste – das ja. Aber einen richtigen Brief? Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen? Und jetzt hast Du mir einfach einen geschrieben, und das hat mir sehr wohlgetan.«
 
Mit diesen Worten reagierte Christa Wolf in neuer Qualität auf die sporadischen, kindlich werbenden Briefofferten ihrer jüngeren Kollegin; sie entschied sich gleichsam dafür, Vertrauen gegen Vertrauen zu setzen, trotz der angedeuteten Möglichkeit des Missbrauchs (auch »von außen«…). Als Mitglieder einer Schriftstellerdelegation auf einer Moskau-Reise 1963 waren die Frauen näher miteinander bekannt geworden. Ihre im gleichen Jahr veröffentlichten Geteiltes-Deutschland-Erzählungen, Wolfs »Der geteilte Himmel« und Reimanns »Geschwister«, hatten sie sich bereits als Schwestern im Geiste ausgewiesen, die sich an den gleichen drängenden gesellschaftlichen Fragen abarbeiteten und ihren Traum von einem gerechteren Staat, einem Alternativmodell zu allen bisherigen Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens, nicht aufgeben wollten. Und geradezu paradoxerweise gerieten sie, die diesem Versuch nahezu ihr ganzes Leben und Schreiben widmeten, zunehmend in Widerspruch zu denen, die das Land regierten. Spätestens nach dem berüchtigten 11. (»Kahlschlag«-) Plenum des ZK der SED im Jahre 1965, mit Folgen für die kulturelle Landschaft der DDR, erfuhren auch sie ganz unmittelbar, dass die Durchsetzung des Anspruchs auf Freiheit im Denken und Freiheit in der Kunst entweder durch Zensur oder Nichtveröffentlichung auf direkte oder aber auf subtile Weise von den Kulturpolitikern der DDR und der Regierung blockiert oder gar geahndet wurde.

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Brigitte Reimann und Christa Wolf - ©bpk-Bildagentur | ©Akademie der Künste, Berlin

Schließlich begruben die sowjetischen Panzer in der ČSSR auch Christas und Brigittes letzte Hoffnung, auf diesem Weg zum Ziel zu kommen. Das Ziel selbst jedoch verloren sie nicht aus den Augen. Der Briefwechsel offenbart, mit welcher Kraft und Ausdauer sie trotz erheblicher Schikanen- und Behinderungen von offizieller Seite gegen das Gefühl der Resignation und Ohnmacht in der bleiernen Zeit ankämpften. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen, am Prozess der Gestaltung der jungen Demokratie mitzuwirken, und weigerten sich, das Heft aus der Hand zu geben und das Land Diktatoren und fragwürdigen Politik-Strategen zu überlassen.

»Wann, zum Teufel, ist der richtige Zeitpunkt, auf einen offenen Brunnen hinzuweisen?«
fragte Brigitte Reimann im Januar 1969 mit verzweifeltem Sarkasmus ihre Freundin Christa Wolf, angeödet von dem Verweis der Kulturpolitiker, die Menschen wären noch nicht so weit und man könne es sich »noch« nicht leisten, diesen oder jenen Missstand öffentlich zu benennen.

Während ihrer zehnjährigen Freundschaft debattierten die reflektierte Christa Wolf und die exzentrische und spontane Brigitte Reimann in Briefen und Tagebüchern über Arbeit und Leben, über Kunst und Alltag in der DDR. Sie vertrauten einander ihre höchst unterschiedlichen Auffassungen von Liebe und Partnerschaft an. Und sie machten sich ihre eigenen Gedanken über Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit.

»Ist Dir übrigens schon aufgefallen, dass unsere Gesellschaft dabei ist, eine neue Arbeitsteilung einzuführen: Die Männer das Reale, Mathematik, Naturwissenschaft, und damit zusammenhängend eine gewisse Verachtung solcher Mystifikationen wie Kunst und Literatur, die nun wieder die Frauen, die ja ›immer Probleme haben‹, die ja immer ›ihr Herz ausschütten‹ wollen, für sich mit Beschlag belegen. In Betrieben, wo alle gleichzeitig Schichtschluss haben und die Frauen danach noch eine zusätzliche Belastung erwartet, sind sie es in der Mehrzahl, die zu ›Dichterlesungen‹ kommen. Schöne Aussichten, wenn alles, was das wirkliche, konkrete Leben betrifft, die Beziehungen zwischen den Menschen und das Interesse dafür, als unwissenschaftliche, unsachliche Gebiete von den Männern weit weggeschoben werden. Auf welche Weise sich in diesen ganzen Dingen in Zukunft echte Fortschritte erzielen lassen, wird mir immer fragwürdiger, je mehr wir durch materielle Erleichterungen (die natürlich nötig sind) oberflächlich befriedigen, ohne eine wirkliche Problematik zu sehen und öffentlich zu diskutieren. Interessiert Dich das alles überhaupt?«

In der Art nahm Christa Wolf ihre todkranke Freundin in Anspruch, während sie an ihrem Buch »Selbstversuch« arbeitete. Und traf mit dieser Frage bei Reimann, die sich mit ihrem vierten Mann in einer handfesten Ehekrise befand, in Schwarze:

»Doch, ich bin – Schmerzen hin oder her – durchaus aufgelegt, über das Verhältnis Mann – Frau nachzudenken. Vermutlich kommt am Ende so ein Satz heraus: Schade, dass keine nette schwarze Katze neben mir liegt – Katze ist besser als Mann.«

Und gesteht im Folgenden:

»Wenn ich mich heute mit der Geschlechterfrage befassen müsste, würde ich einer – wie mir scheint – wachsenden Ehe-Unlust der Frauen nachspüren. Freilich bedürfte es dazu exakter Analysen.«

Diese anzustellen blieb Brigitte Reimann keine Zeit mehr. Die lebensgierige Frau starb im Februar 1973, noch nicht vierzigjährig. Christa Wolf hatte Brigitte bis zu deren Ende voller Liebe aufopfernd begleitet. Dies tat sie auch für andere Menschen, die sich krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen in Schwierigkeiten befanden; denn – das sei hier angemerkt – auch im Hinblick auf Menschlichkeit und soziale Kompetenz war Christa Wolf außergewöhnlich…
In den vier Lebensjahrzehnten, die ihr verblieben, konnte Christa Wolf ein umfangreiches literarisches Œuvre schaffen, engagierte sich als Künstlerin und Mensch für die Belange der Gesellschaft, egal, ob sie dabei Publikum hatte oder nicht. Sie blieb auch nach dem Fall der Mauer eine wesentliche, nicht zu korrumpierende kritische Stimme, die weit über die ostdeutschen Länder hinausreichte.

Der Briefwechsel, neu herausgegeben 2016 vom Aufbau Verlag, ist ein unschätzbar wertvolles Zeitdokument und zugleich das kostbare und berührende Zeugnis einer außergewöhnlichen Frauenfreundschaft.

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Fanny Staffa und Christine Hoppe als Christa Wolf und Brigitte Reimann - © Merten-Hommel

Dass viele darin aufgeworfene Fragen bis heute nichts an Relevanz eingebüßt haben, macht die für das Lausitz Festival erarbeitete Lesung deutlich. Christine Hoppe (Christa Wolf) und Fanny Staffa (Brigitte Reimann), zwei Protagonistinnen des Staatsschauspiels Dresden, haben sich unter der Leitung von Festivaldramaturgin Heike Merten-Hommel mit den Briefen befasst. 

 

Remembering the Divas: Noch mehr Weibhaftiges beim Lausitz Festival

Im Rahmen des diesjährigen Lausitz Festivals gewinnt unser Inspirationswort »Hereinforderung“ auch durch das exemplarische Leben und Wirken weiterer bedeutender Künstlerinnen bzw. Kunstfiguren Bedeutung. Die Sichtweisen und das Wirken dieser »Role Models« in der Welt und in der Kunst werden aus verschiedenen Perspektiven und auf unterschiedlichen künstlerischen Ebenen verhandelt.

  • Die junge deutsche Regisseurin Anna Bergmann unterzieht mit ihrer Inszenierung der modernen Kammeroper »Julie« von Philippe Boesmans (2005) das Strindberg‘sche Narrativ zur unangepassten Grafentochter »Fräulein Julie“ einer kritischen Hinterfragung. Seit der Spielzeit 2018/2019 ist Anna Bergmann die erste Schauspieldirektorin in der Geschichte des Staatstheaters Karlsruhe. Überregionale und internationale Aufmerksamkeit erweckte ihre Entscheidung, zum Beginn ihrer Direktion nur Frauen auf Regiepositionen zu engagieren. Aus ihrer Absicht, auf die Unterrepräsentation der Frauen in Führungspositionen im deutschen Theaterbetrieb aufmerksam zu machen und dabei spannende weibliche Regiehandschriften zu profilieren, macht sie keinen Hehl. 6., 7. und 8.9.2023, Neues Theater Senftenberg
  • »Remembering the Divas« lautet der selbst erteilte Auftrag Kaushiki Chakrabortys, einer Ausnahmekünstlerin, die aus Indien zum Festival anreist. Die weltbekannte Sängerin würdigt mit der Rekonstruktion und dem Gesang von Werken dreier herausragender »Ahnfrauen« indischer Sangeskunst, Angelina Yeoward, Begum Akhtar und M. S. Subbulakshmi, die Leistung weiblicher Künstlerinnen in der indischen Gesellschaft. Die Europa-Premiere von 30.8.2023 „Indische Diven”, Filmtheater Weltspiegel, Cottbus
  • Die Novelle »Fräulein Else«, eine beinahe exakt 100 Jahre alte Fallstudie aus der Feder des Wiener Arztes, Gesellschaftautors und Salonlöwen Arthur Schnitzler, kann heute durchaus als Reflex auf die MeToo-Debatte gelesen werden. Schauspielerin Sonja Beißwenger verleiht der jungen Rechtsanwaltstochter, die in erpresserischer Absicht Opfer sexueller Nötigung wird, Stimme und Ausdruck, Hanjo Kesting kommentiert die Erzählung kenntnisreich.
    1.9.2023 im Schloss Branitz, Cottbus.
  • »Sauermehlsuppe« – Drei Erzählungen von der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk aus den neunziger Jahren reflektieren die Veränderung der Lebenswirklichkeiten von Bewohner:innen des Grenzgebietes Polen-Tschechien; diese läuten – unter anderem aus der Perspektive eines Zimmermädchens im »Hotel Capital« – das neue Jahrtausend ein.
    Die aus Film und Fernsehen bekannte Schauspielerin Claudia Michelsen hat diese Matinee eigens für das Lausitz Festival vorbereitet.
    27.8.2023, 11:00 Sorbisches Museum, Bautzen

 

Heike Merten-Hommel... 

... Jahrgang 1961, geboren in Berlin (Ost), war an großen Theaterbühnen als Dramaturgin und seit 1993 als Chefdramaturgin tätig, unter anderem am Staatsschauspiel Dresden, am Schauspiel Leipzig, Theater Freiburg, Schauspielhaus Graz und bis 2020 am Wiener Volkstheater. Seit 2020 lebt sie in Zittau und arbeitet als Dramaturgin beim Lausitz Festival.

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