Impuls von Dr. Julia Gabler am 6. März 2023 im Bundeskanzleramt
Foto: Henning Schacht
Sehr geehrte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, sehr geehrter Staatsminister Carsten Schneider, sehr geehrte Gäste und Gästinnen!
Das Wort Gästin gibt es im Übrigen seit dem 19. Jahrhundert im Duden der Gebrüder Grimm. Als der online-Duden es 2021 aufgenommen hat, wurde ein Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Auch weil im Vorgespräch darauf hingewiesen wurde, nicht zu sehr über die Vergangenheit zu sprechen, möchte ich gleich zu Beginn den mir wichtigen Punkt hervorheben: Wir versperren uns einen Weg in die Zukunft, wenn wir die Vergangenheit ausschließen. Oder wie die Schriftstellerin Judith Schalansky schreibt: dass entgegen der landläufigen Annahme nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit den wahren Möglichkeitsraum darstellt[1].
Soll heißen: im Vergangen können wir erkennen, was sich von all den kühnen Behauptungen, was in der Zukunft getan werden müsse, tatsächlich praktisch vollzog. Und vergangene Praktiken können verändert werden.
Wir brauchen also Praktiken, das gelebte Tun, das gemeinsame Handeln, um so etwas wie Transformation – verstanden als Veränderung von Struktur und Ausrichtung – zu ermöglichen. Mit Hannah Arendt präziser: das Handeln in Öffentlichkeit. Also so zu handeln, dass das Einzigartige oder gerne auch Transformative unseres Tuns wahrgenommen und zur Referenz gesellschaftlicher Angelegenheiten und idealerweise von Entscheidungen werden kann.
Wer hätte es nicht eindrücklicher erfahren können, als wir – Kinder einer untergegangenen Republik, die all den Modernisierungs- und Prosperitätsverheißungen zum Trotz erst Ostdeutsche wurden, dann zur krisengebeutelten und verlorenen sowie überflüssig gewordenen Gesellschaft ohne Arbeit gehörten, zur Avantgarde und Neuland. All diesen Diagnosen gemein ist, dass mit ihnen nicht nur gesellschaftliche Widerständigkeit behauptet, sondern auch praktiziert wurde. Wie lange diese durchgehalten und wie daraus Routinen werden können, das interessiert mich bei der Frage: Ostdeutschland/Transformation gestalten?
Im Sinne der zukünftigen Vergangenheit danke ich Ihnen sehr für Ihre mutige Einladung und die Möglichkeit hier zu sprechen. So möchte ich auch den pompösen Titel für diesen Abend „Frauen gestalten Ostdeutschland. Frauen gestalten Transformation.“ nicht mehr als Provokation verstehen, denn auch das BMBF hat unter einem ähnlich kühnen Titel anlässlich des Weltfrauentages eingeladen:
Sag mir, wo die Frauen sind – Was tun für die Sichtbarkeit innovativer Frauen in Deutschland?
Entweder es steht gerade richtig schlecht um dieses Land, dem doch sonst nicht die Ideen ausgehen, oder der Fachkräftemangel macht es möglich … Äh nötig, dass die „stille Reserve Frau“ adressiert wird.
Es ist wie ein Déjà-vu. Als ich vor 10 Jahren nach Görlitz zog, titelte die sächsische Zeitung: „Wo sind die jungen Frauen hin?“. Ist die Provinz hier etwa Vorreiter für eine gesellschaftliche Frage, die Sie nun auch auf Bundesebene beginnt zu interessieren?
Heute stehe ich auch hier, weil Sie mich als akademisch qualifizierte Frau, als Sozialwissenschaftlerin, ansprechen, die auch noch in eben dieser ländlichen Gesellschaft lebt, zu der sie forscht und sich zu allem Übermut aktivistisch umtut.
Das produziert überregional Aufmerksamkeit. An dieser Stelle befördert der ländliche Raum die Sichtbarkeit, der – statistisch gesprochen – wenigen (jüngeren) Frauen, die proaktiv Verantwortung übernehmen wollen.
Ich möchte Ihnen kurz von der Vergangenheit berichten, in die ich bis heute involviert bin, auf der Suche nach Möglichkeiten, die Praktiken von Frauen für die Zukunft der Lausitz im Strukturwandel folgenreich zu beeinflussen:
Es war einmal eine Gleichstellungsbeauftragte, die hieß Ines Fabisch, und die traf auf eine Soziologin in Ostsachsen – mich. Sie starteten eine Revolution durch Interpretation!
Sie trafen sich dort, wo sie nicht mehr vermutet wurden: in ländlichen, peripheren Regionen wie die, in der sie lebten. Beide fragten: Wenn sie einander dort fanden und jede von ihnen weitere Frauen zu nennen wusste, so dass sich der Eindruck erhärtete, dass niemand die Frauen, die da waren, wahrzunehmen schien – Wo war der rote Teppich? Sie beschlossen also, jene vermisst geglaubte Spezies zu fragen: Wie geht das Bleiben in peripheren ostdeutschen Regionen?
Frauen machen hier schon Strukturwandel, so unsere steile These, die wir empirisch rekonstruierten – allerdings gegen den Strich:
ohne belastbare Strukturen – eher als Einzelkämpferinnen – als Marginalisierte. Die Schülerin und die Gleichstellungsbeauftragte ebenso wie die Unternehmerin oder die Ehrenamtliche. Strukturschwäche auf Ebene der Repräsentanz des eingangs beschriebenen öffentlichen Handelns. Gleichzeitig stellte ich in meinem Forschungstagebuch fest: Wie erstaunt bin ich, dass ich ständig auf jene vermisst geglaubten Wesen traf und immer noch treffe: Sie sprühen vor Ideen, welche Potenziale es in der Region zu heben gilt, nehmen prekäre Beschäftigung in Kauf, versorgen Kinder und Tiere, bauen Höfe und Häuser um, und vernetzen nebenbei, wer und was auch immer sich verknüpfen lässt. All jene, die nicht voneinander wussten. Und sie halten so manchen Laden am Laufen, der ohne sie kaum das Gehen gelernt hätte.
Apropos Gehen - Frauen beeinflussen die Transformationsprozesse in Ostdeutschland eben auch, weil sie gehen beziehungsweise gegangen sind. Ihr „kollektives“ Weggehen hinterlässt Leere, verursacht Brüche, schadet dem Zusammenhalt, verhindert Bleiben, reduziert Chancen, schrumpft Bevölkerung, beklagt das Verlassensein, den Verlust der Enkelkinder, beschämt und verunsichert die Verbliebenen!
Die Dagebliebenen – Verantwortungsträger, bis auf wenige Ausnahmen männlich, waren keine Helden geworden, sondern tragische Figuren, die reflexartig zusammenzuckten, wenn wir sie einluden, über die Chancen für Frauen in ländlichen Regionen zu sprechen. Da seien sie die Falschen. Das können sie gar nicht beurteilen. Sie schicken mal die (einzige) Kollegin, die kümmert sich um Frauenthemen.
Aber wir wollen über Regionalentwicklung, Bildung und Bleibebedingungen sprechen, insistiere ich.
Hallo?
Schon aufgelegt.
Natürlich waren nicht alle so zurückhaltend, es gab auch jene, die damit beschäftigt waren, zu behaupten, es gäbe doch gar kein Problem. Überhaupt scheint es einen Zusammenhang zu geben zwischen der Behauptung, hier könne man(n) alles starten, wenn man(n) nur wolle. Chancengleichheit hätte man seit DDR-Zeiten doch längst erreicht. Man(n) könne doch nichts dafür, wenn die Frauen nicht wollen oder eben mit den Kindern nicht können. Man(n) kenne keine Frau, die hier unglücklich sei.
Und der häufig kritischeren Erfahrung vieler Frauen. Sie wollen nicht dazu beitragen, ja dafür herhalten, wirtschaftspotente Luftschlösser zu befördern oder den für sie bereiteten Erwerbsperspektiven im MINT-Bereich folgen. Dieser Widerspruch zwischen den meist männlichen Steuerungsideen: Wir bereiten Euch doch das Feld, wieso betretet Ihr es nicht? und der Entrüstung der Frauen: Die lassen uns gar nicht tun, was wir einbringen können und wollen – dies führt zu entkoppelten Praktiken. Die einen gingen. Die andern blieben, mit dem Gefühl, sie hätten alles getan, und waren sich keiner Mitverantwortung bewusst. Diejenigen Frauen, die es versuchten mit der Verantwortung in etablierten Führungspositionen, migrierten – teils ernüchtert – zurück in die Metropolen oder in deren Nähe, oder sie suchten den Rückzug, wenn Haus oder Hof es zuließen.
Um darüber angemessen reden zu können und ins Handeln zu kommen, gründeten wir mit zahlreichen Frauen eine Plattform: F wie Kraft. Wir wollten auf einen zwingenden Zusammenhang aufmerksam machen: das M (die männliche Masse) muss beschleunigt werden, damit Kraft entstehen kann: F wie Kraft ist also kein Karriereportal, keine politische NGO, sondern speist sich aus den Themen und Handlungen aus den Lebenswelten der Frauen aus all den Lebensbereichen, die sie in einer ländlichen Gesellschaft einnehmen – ihr Tun und ihre Praktiken zu zeigen war der erste Schritt.
Der zweite, darin das Moment der Selbstorganisationsfähigkeit zu entdecken. Also von der Programmatik zum Handeln zu kommen. Sich gegenseitig zu unterstützen, zu Repräsentantinnen ihrer und unserer „Bleibenslebensweisen“ wie es meine Kollegin Melanie Rühmling in ihrer Dissertation beschreibt, zu werden.
Foto: Henning Schacht
Was ich gelernt habe: Es geht nur lokal und in konkreten Beziehungen, die wir eingehen und aufbauen und indem wir versuchen, Routinen zu schaffen. Das ist ein aufwendiges Unterfangen. Wir haben weder erwartet, wie lange es dauern würde, noch wie aufreibend dieser Prozess für die eigenen Kraftressourcen ist. Aber es geht nicht anders und es macht so viel Spaß!
Immerhin: Heute haben wir ein Bündnis kommunaler Gleichstellungsbeauftragter in der Lausitz, die sich organisieren, um herauszufinden, wie sie im Strukturwandel agieren können und was das eigentlich mit Chancengleichheit zu tun hat. Sie organisieren sich, wenn das neue Gleichstellungsgesetz die Bedingungen zum Handeln in der ländlichen Gesellschaft unterschätzt. Und wir haben eine sichtbare Plattform geschaffen, über die wir eine wichtige Stärkung der Strukturen – ja eine gesellschaftspolitische Stimme geworden sind, von der Sie weiterhin hören werden. Ich bitte um Verständnis, wenn wir mal nicht erreichbar sind – das Land ist auch unser Rückzugs- und Erholungsraum, um nicht nach Berlin oder Leipzig ziehen zu müssen!
Vielen Dank, ich freue mich auf unser Gespräch!
Dr. Julia Gabler
… ist Vertretungsprofessorin im Master Management des Sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. Als Direktorin des TRAWOS Instituts beschäftigt sie sich unter anderem mit den Verbleibchancen qualifizierter Frauen in Ostsachsen sowie dem Strukturwandel in der Lausitz.
[1] Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp, S. 19.