NAGOLA RE – FRAUENPOWER IN DER LAUSITZ

Christina Grätz erlebt 1986 als Kind, wie ihr geliebtes Heimatdorf Radeweise in der Lausitz denBraunkohlebaggern weichen muss. Die Umsiedlung in ein fremdes Dorf und die empfundeneEntwurzelung lassen sie bis heute nicht los. Anstatt aber traurig den Erinnerungen nachzuhängen,spürt Christina eine neue Energie in sich aufwachsen. Schon als Jugendliche setzt sie sich aktiv für den Naturschutz ein und engagiert sich im Braunkohlewiderstand. Diese Energie schlägt uns sofort auf dem Vierseitenhof in Jänschwalde bei unserer Ankunft entgegen und reißt uns über zwei Stunden mit. Das Angebot für einen Kaffee nehmen wir gern an: „Ich trinke nur Tee, weil ich schon genug Power habe“ ruft es aus der Küche. Dieser Satz beschreibt die junge Biologin auf den Punkt.

Ihr Studium führte sie einst in die Hauptstadt Berlin und ihre Diplomarbeit mit dem Thema„Bergbaufolgelandschaft“ dann wieder zurück in die Heimat. Durch diesen Perspektivwechsel erhieltsie einen anderen Blick auf frühere Verletzungen ihrer eigenen Geschichte. Nach dem Studium ergabsich ein interessantes Jobangebot in einem Ingenieurbüro, das auch für die LAUBAG arbeitete – also für den „ehemaligen Feind“. Die Aufgabe lautete, Feuchtgebiete nicht austrocknen zu lassen, die bergbaubedingte Grundwasserabsenkung zu dokumentieren, um frühzeitig Auswirkungen zu erkennen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und den Erfolg zu überwachen...

…der vollständige Artikel ist auf Lausitzstark – der Blog für die Lausitz zu finden.

 
 

DER WEIBLICHE BLICK AUF DEN STRUKTURWANDEL

Ob Braunkohleabbau oder Strukturwandelkommissionen: Auf den ersten Blick scheinen diese Bereiche Männerdomänen zu sein. Dabei gibt es genügend weibliche Perspektiven auf die Lausitz. Besonders in Brandenburg fällt eine Vielzahl Frauen auf, die sich gemeinsam der Herausforderung angenommen hat, den Strukturwandel mitzugestalten. Sie setzen sich in der Lausitzrunde als Regionalpolitikerinnen für ihre Region ein. Und das ist gut so, denn unter den 58 Mitgliedern sind nur 10 Frauen. Unsere Autorin Ann-Kathrin Canjé hat mit vier von ihnen gesprochen.

Mit Christine Herntier, Simone Taubenek, Elvira Hölzner und Birgit Zuchold komme ich zu Corona-Zeiten kurzerhand für meine Interviews am Telefon zusammen. Welche persönlichen Herausforderungen der Strukturwandel für sie und ihre Regionen hat, wie sie ihre Rolle und die von Frauen dabei einschätzen und wie sie die Veränderung gestalten wollen – darüber habe ich mit ihnen gesprochen. Was alle gemein haben: sie sind entschlossen, unerschrocken und zukunftsorientiert.

Auf einen Plausch mit vier Lausitzerinnen.

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Infos zur Lausitzrunde

Aktuell umfasst die Lausitzrunde 58 Mitglieder. Sie ist ein länderübergreifendes und freiwilliges Bündnis, das aus der Initiative einzelner Kommunen entstand und die Lausitz in ihrer Gesamtheit repräsentiert. Die Stadt Spremberg hat das Mandat für die Kommunen übernommen. Bürgermeisterin Christine Herntier vertritt als Sprecherin die 58 teilnehmenden Kommunen.

Als Ziel hat sich die Lausitzrunde laut Christine Herntier gesetzt, die negativen Folgen der vom Kohleausstieg betroffenen Kommunen zu formulieren, Strategien für einen möglichen Umgang damit zu entwickeln und Zukunftskonzepte für die Lausitz zu schaffen, die dann gemeinsam vertreten und umgesetzt werden. Ein Cluster mit einzelnen erarbeiteten Aspekten gibt es hier.

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AUF EINEN PLAUSCH MIT…

…Christine Herntier, Bürgermeisterin Spremberg

Ein Tagebau vor der Haustür, ein Kraftwerk im Industriepark Schwarze Pumpe – Christine Herntier hat konkrete Bilder vor Augen, wenn sie über die Herausforderungen des Strukturwandels redet. Als Mitglied der ehemaligen Kohlekommission und Sprecherin der Lausitzrunde beschäftigt sie sich ausgiebig mit dem Kohleausstieg und seinen Folgen. Durch ihre Arbeit in der Kohlekommission habe sie zunächst einmal lernen müssen, dass die Lausitz von den verschiedenen Kohlerevieren die schlechtesten Voraussetzungen habe, weil nur wenige Unternehmen ihren Sitz in der Lausitz hätten. Es sei schwer, sie von einer Investition etwa in Form von zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen zu überzeugen. Das Wort „zukunftsträchtig“ ist Christine Herntier wichtig, da sie früher immer von „Industriearbeitsplätzen“ gesprochen hätte. Nach tiefgehender Beschäftigung mit dem Thema änderte sie ihren Sprachgebrauch.

Die Sprembergerin sieht eine wichtige Aufgabe darin, eine neue Wissenslandschaft in der Lausitz aufzubauen. Dabei sollte man nach vorne schauen: „Wie kann es uns gelingen, der Lausitz ein Image und uns selbst ein Gefühl zu geben, dass es richtig und wichtig ist, dass es nicht mehr so sehr darauf ankommt, mit der Schippe die Kohle aus dem Schacht zu fördern, sondern neue Wirtschaftszweige, neue Wissensarbeitsplätze zu etablieren?“

Nach 30 Jahren Strukturbruch, so viel stehe für sie fest, müsse man den Menschen eine Perspektive bieten, vor allem, weil das Vertrauen an das Gelingen des Strukturwandels heute vielen fehlen würde.

Christine Herntier (Mitte). Foto: Stadt Spremberg/Martin Mogel

Christine Herntier selbst hat ihr Berufsleben vor allem in der Textilindustrie verbracht und live miterlebt, was Strukturbruch und Strukturwandel bedeuten. „Im Unterschied zu denjenigen, die darüber entscheiden, sei es über ihr Mandat als Abgeordnete oder dass sie in der Regierung sind, weiß ich wirklich, wovon ich da rede. Ich habe in der Textilindustrie mitgemacht, was es bedeutet, wenn jemand entscheidet ‚Das kann dann mal weg‘, ohne, dass man einen Plan hat, was danach kommt.“

Und vor diesem „was danach kommt“ scheinen viele Menschen in der Region Angst zu haben. So sei laut Herntier auch der demographische Wandel eine Herausforderung. Sie betont, dass vor allem junge Frauen die Lausitz verlassen hätten. Wie kann man ihnen wieder Lust auf die Lausitz machen, wo sie doch so wichtig für die Region sind?

Eine Chance sieht sie etwa im Zugang zu gut bezahlten alten und neuen Arbeitsplätzen für Frauen. Die Lausitz sei „besonders für Frauen ein Raum, wo man sich verwirklichen kann. Wie ich finde auch anders als in Großstädten, wo man viel gedrängter ist. Es gibt hier besonders für Familien hervorragende Bedingungen.“ In ihrem Bekanntenkreis versuche sie zudem, Frauen für die Kommunalpolitik zu begeistern. Dort sehe sie noch echten Spielraum, Politik mitzugestalten.

Damit mehr Menschen auf die Chancen in der Lausitz aufmerksam werden, setzt sich Christine Herntier auch privat ein. Im Jahr 2017 hat sie eine Initiative für Rückkehrer*innen initiiert, Heeme fehlste . Wie kam es dazu? „Im Freundes- und Bekanntenkreis treibt die Menschen sehr um, dass die Kinder weg sind. Mich hat das auch sehr betroffen. Ich habe jetzt auch zwei Enkelkinder und bin sehr glücklich darüber, dass meine Tochter mit Familie nun wieder in Spremberg lebt und mein Sohn auch in der Nähe. Die waren davor in der halben Welt verstreut. Deshalb habe ich mich sehr für eine Rückkehrerinitiative in Spremberg eingesetzt.“

Somit ist für sie selbstverständlich, dass sie ihre eigenen Ideen miteinbringt. Dass sie sich so für die Rückkehrer*innen einsetzt, hat auch einen Grund: „Das tut uns so Not in der Lausitz, dass hier Leute kommen, die auch mal weg waren, die da auch gewissen Zweifeln Paroli bieten können. Ich möchte gerne, dass wir modern, aufgeschlossen und innovativ sind.“

Christine Herntier ist sich sicher: in der Lausitz geht etwas in den nächsten Jahren. Für sie sei es immens wichtig, den Leuten zu zeigen, wie frei sie sich hier entwickeln könnten. Dafür sei es auch so wichtig, dass politische Entscheidungsträger Ideen zuließen und nicht jeden innovativen Gedanken gleich ausbremsen würden. „Und es ist nicht damit getan, 40 Milliarden irgendwo hinzuhängen. Die müssen auch sinnvoll ausgegeben werden können“, mahnt Herntier.

…Simone Taubenek, Bürgermeisterin Forst (Lausitz)

Im Mai 2018 hat Simone Taubenek ihr Amt als Bürgermeisterin der Stadt Forst übernommen und ist in die Lausitzrunde eingetreten, um gemeinsam mit anderen Lausitzer Städten den Strukturwandel zu gestalten. Auch Forst ist zum Teil vom Ausstieg aus der Braunkohleverstromung betroffen. Der Ort Horno etwa musste schon vor Jahren dem Braunkohleabbau weichen und ist heute ein Forster Stadtteil. Mit dem Klappern der Bagger sei es aber auch heute nicht vorbei: „Der Strukturwandel betrifft die Menschen natürlich auch in dieser Stadt insofern, als dass viele im Braunkohletagebau oder auch in Zulieferbetrieben arbeiten. Da ist die Frage der Zukunftsfähigkeit dieser Stadt natürlich auch eine Frage von Existenzen der Arbeitsplätze.“

Denn früher war Forst laut Taubenek so etwas wie „das Manchester des Ostens“ und gehörte in Hochzeiten der Textilindustrie zu den reichsten Städten in Deutschland. Als diese Industrie so wie einige andere Bereiche komplett weggebrochen sei, führte das bei vielen Menschen zur Langzeitarbeitslosigkeit. Damit stelle sich heute die Frage, welche Kompensationsmaßnahmen es für das Wegbrechen eines weiteren Industriezweigs geben könne. Besonders jungen Menschen soll in Forst eine Perspektive, etwa auf Ausbildungsplätze, geboten werden. Wie diese gestaltet werden könnten – solche Fragen treiben die Forster Bürgermeisterin um.

Froh ist sie, dass besonders Frauen, die in der Wirtschaftsregion Lausitz engagiert seien, den Strukturwandel etwa durch Projekte wie der Kreativen Lausitz schon jetzt besonders prägen würden. Auch das Engagement ihrer Kollegin Christine Herntier lobt die Forster Bürgermeisterin sehr, da sie die Interessen der Lausitz in der Kohlekommission vertreten habe und aktuell daran arbeite, den aus ihrer Sicht „mit einer heißen Nadel gestrickten Kompromiss auch in Gesetztesform umzugießen.“

Simone Taubenek. Foto: Stadt Forst (Lausitz)

Für den Entwicklungsprozess seien auch die unzähligen Vereine und aktivistischen Frauen wichtig, die sich immer vehement für die Mitgestaltung ihrer Lebensverhältnisse einsetzen würden. Und so sei es auch für Simone Taubenek eine Herausforderung, die Möglichkeiten zur Veränderung im Ort zu erkennen und voranzutreiben.

Aktuell nehme sie in ihrer privaten Umgebung sowie der Bevölkerung durch die Corona-Krise Sorgen wahr, da unklar sei, welche Auswirkungen diese auch auf die finanziellen Mittel für die Regionen haben könnte: „Das vermischt sich jetzt natürlich alles mit der Angst, was denn jetzt passiert, wenn so hohe Kosten in der Pandemie und auch als Pandemiefolge entstehen. Ist dann tatsächlich noch dieser große Batzen von 40 Milliarden Euro für die vom Kohleausstieg betroffenen Reviere für die Strukturänderung vorhanden?“ Eine Frage, die auch andere Gemeinden umtreibt, aber die noch nicht in Gänze beantwortet werden kann. Doch Simone Taubenek hat auch die möglichen positiven Folgen von Corona schon im Hinterkopf, beispielsweise den Anspruch auf Home-Office. Dieser könnte sich positiv auf die Region Forst auswirken, weil es mit einer Home-Office-Regelung keine Rolle mehr spielen würde, wo die Menschen wohnen: „Dann brauche ich attraktive Grundstücke und billiges Wohnen – das sind alles Sachen, die bei uns gegeben sind. Wir haben hier im Vergleich zu anderen Städten, weil hier mal Glasfasernetz verlegt worden ist, sehr gute Voraussetzungen. Wir sind direkt an der Autobahn, direkt an der polnischen Grenze. Wir wohnen im Grünen, hier ist es ruhig. Das muss man versuchen, in einem Marketingprozess zu vermitteln.“

Zukünftig bleibt es für Simone Taubenek eine große Aufgabe, sich in diesem Spannungsfeld zu bewegen und die Entwicklungen des Strukturwandels an die Bevölkerung zu kommunizieren.

…Elvira Hölzner, Amtsdirektorin Peitz

Eine gute halbe Stunde von Forst entfernt liegt das kleine Städtchen Peitz. Hier setzt sich Elvira Hölzner seit 2007 als Amtsdirektorin für ihre Stadt ein und hat ähnliche Erfahrungen wie ihre Kolleginnen aus der Lausitzrunde gemacht. Das Gespräch mit den Bürger*innen, die Vermittlung von politischen Entscheidungen im Hinblick auf den Strukturwandel – das sind Aufgaben, die sie bewegen.

Sie merke, dass noch viel Unkenntnis bei den Leuten herrsche, welche Kraftwerke nun eigentlich vom Netz gingen. Es wäre wichtig von ihren Bürger*innen zu erfahren, wie sie sich den Strukturwandel vorstellten. Das könnten einfache Wünsche sein oder direkte Projektvorschläge – bisher seien schon viele gute Ideen durch die Bevölkerung an sie herangetragen wurden.

Von der Lausitzrunde erhofft sie sich vor allem Unterstützung, ein Gemeinschaftsgefühl: „Für uns war es ganz wichtig, im Strukturwandel nicht alleine dazustehen. Wir sind ein Amt mit circa 10.000 Einwohnern und wir haben uns Partner gesucht, mit denen wir im Strukturwandel zusammenarbeiten können. Das ist ja nicht nur ein Problem des Amtes Peitz, sondern der gesamten Region.“

Im Jahr 2023 läuft in Peitz der Tagebau Jänschwalde, der auch die Stadt Forst betrifft, aus. Das dortige Kraftwerk ist eines der ersten, das im Jahr 2028 vom Netz gehen soll. Somit ist klar, dass sich die Stadt ähnlich wie ihre Nachbarstädte auf neue Industriearbeitsplätze in der Region fokussieren möchte. Das sei ganz besonders wichtig, weil sie den Menschen, die jetzt im Kraftwerk oder Tagebau arbeiten würden, schnell eine Perspektive bieten müsse, damit diese jetzt schon wüssten, wo sie zukünftig arbeiten könnten. Aber nicht nur das: „Wir wollen natürlich keine Industriearbeitsplätze bauen, die nur für Männer sind. Das hat sich schon längst gewandelt und sollte natürlich auch für Frauen sein und für Männer.“

Elvira Hölzner (links). Foto: Amt Peitz

Gleichberechtigte Arbeitsumfelder also. Frauen in Führungspositionen gebe es schon viele in der Region, sei es in der Planung des Tagebaus oder Flutung des Cottbusser Ost-Sees – dahinter standen Frauen. Generell würden sie laut Elvira Hölzner ohnehin immer mehr in technischen Berufen einsteigen. Zukunftsorientiert soll es aber nicht nur in der Rollenverteilung beim Berufsbild gehen: „Bei den Industriearbeitsplätzen denken wir da vor allem in Richtung klimaneutral. Beispielsweise Busse oder LKWS auf E-Mobilität umrüsten. Das wird ja auch die Zukunft sein.“

Und auch bei anderen Bereichen wie etwa der Fischerei müsse man schauen, wo eine sinnvolle Entwicklung nötig ist, denn auch hier wären Arbeitsplätze durch die Abschaltung des Kraftwerkes möglicherweise gefährdet.

Für Elvira Hölzner steht jedenfalls fest, dass die Regionen den Strukturwandel nicht alleine bewältigen würden, sondern dass es auf die Unterstützung von Land, Bund und EU ankomme. Dazu müsse aber auch klar formuliert werden, was die Lausitz brauche. „Um so eine Region gesund zu entwickeln, braucht man zwei Beine, die fest stehen. Das eine sind die Industriearbeitsplätze. Und auf der anderen Seite der Tourismus. Der hat sich in unserem Amt vor allem in den letzten Jahren gut weiterentwickelt.“

Und letztlich sei es auch der Zusammenhalt der Peitzer*innen, der die Stadt stärke. Der in Peitz ansässige Werg e.V., den eine Frau leitet, kümmert sich etwa um die Wiedereingliederung von Randgruppen, führt und leitet die Tafel und kümmert sich um die Integration und Betreuung von Geflüchteten. Weil sie kein Sozialamt mehr habe, sei das in der Stadt nötig. Strukturwandel heißt also vor allem auch: die Notwendigkeit von Zusammenhalt und Perspektiven für alle erkennen und fördern.

Birgit Zuchold, Bürgermeisterin Welzow

Die Probleme, mit denen sich verschiedene Orte der Lausitz im Strukturwandel auseinandersetzen müssen, sind vielfältig, aber ähneln sich doch in gewisser Weise. Die Stadt Welzow, deren Bürgermeistern Birgit Zuchold ist, gehört zu einer der betroffensten Städte im Lausitzer Revier. Aktuell laufen Verfüllungsarbeiten in einem Abschnitt des dortigen Braunkohletagbaus, der nur 500 Meter von der Stadt entfernt ist. Täglich hören die Menschen die Bänder, Durchsagen, Geräusche der Absetzer.

Schon früh habe Welzow rund 1000 Einwohner*innen durch die Inanspruchnahme von Fläche für die Braunkohleabbaggerung an die Braunkohlebagger verloren. Sie sind weggezogen, haben sich an einem anderen Ort niedergelassen. Heute besitzt Welzow keinerlei Entwicklungsflächen mehr. Das seien alles Gründe, die die Stadt in eine außerordentliche Situation gebracht haben, deshalb war es für Birgit Zuchold ungemein wichtig, mit Sprembergs Bürgermeisterin Christine Herntier zusammenzuarbeiten. Als diese damals aufeinander zukamen, sagten sie sich: „Wenn wir nichts tun, dann können wir den Menschen hier keine Perspektiven bieten. Und wenn wir jetzt nicht die gesamte Lausitz wachrütteln – länderübergreifend – dann sind wir kein politisches Schwergewicht. Denn: Wen interessieren im bundespolitischen Maßstab überhaupt eine Million Einwohner? Keinen Menschen. Und auch keine Bundestagsabgeordneten. Dann haben wir gesagt: Wir müssen laut werden.“

Birgit Zuchold. Foto: Martin Mogel

Auch die Zusammenarbeit mit den sächsischen Kommunen sei dabei sehr wichtig gewesen. In der Lausitzrunde setzen die Frauen sich für ihre Regionen ein. Das sei vor allem so wichtig, da die Menschen in den betroffenen Regionen auf die politische Ebene schauen und sich erhoffen, dass sie den Weg bereite. Viele seien mittlerweile wie hypnotisiert: „Wenn Sie zurückschauen in die Geschichte, dann haben wir zu DDR-Zeiten nicht unbedingt Eigenständigkeit vermittelt bekommen. Und viele Menschen haben es hier auch nicht gelernt aufzustehen und ihren eigenen Weg zu gehen. Dass der Staat vieles für uns organisiert hat, das hallt in vielen Bereichen ja immer noch nach.“

Somit sei es für die in Welzow geborene und aufgewachsene Bürgermeisterin auch eine Herausforderung, die Menschen zu begeistern, ihnen zu zeigen, dass sie Teil des Strukturwandels seien, besonders bei den jungen Menschen. Weil ihre Zukunft in der Lausitz oft unklar sei, stünde schnell die Option für einen Umzug aufgrund eines neuen Arbeitsplatzes zur Diskussion. Deswegen sei es auch so wichtig, Perspektiven durch nachhaltige Arbeitsplätze zu bieten.

Auf die Frage, wie man Frauen in der Lausitz stärker einbringen könnte, setzt ihre Antwort ganz früh an – in der Schule. Denn in ihren Augen könne man nur schwer beeinflussen, welchen Beruf Frauen ergreifen. Daher sei es wichtig, schon bei Kindern damit anzufangen: „Man muss frühzeitig beginnen, um den Kindern die Vielfältigkeit der Berufe nahe zu bringen.“ Dazu zähle für sie, möglichst gleichberechtige Berufsbilder zu zeigen und auch durch entsprechende Schulfächer Kindern gleichermaßen handwerkliche Fähigkeiten beizubringen.  

Für die Lausitz und die Stadt Welzow sieht Birgit Zuchold das Potential in der Landwirtschaft, der Bioökonomie und in Unternehmen, die alternative Medizin herstellen wollen. Sie setze auf günstige Leerstandsgebäude, die für Unternehmen attraktiv wären und will sich für diese und andere Themen in den kommenden Jahren in ihrer Stadt einsetzen: „Ich sehe im Wertstoffhandel und in der Aufbereitung von diesem Potential, weil alles, was wir wegwerfen, zu neuen Produkten überarbeitet werden muss, die wiederverwendungsfähig sind. Da sind wir noch am Anfang. Wobei ich mir im Klaren bin, dass alles, was recycelt wird mit einem hohen energetischen Aufwand verbunden ist. Insofern braucht das auch neue Verfahren, die Wissenschaft und Forschung anregen, damit man nicht wieder neuen Müll produziert.“

Was es vor allem brauche, das macht sie klar, sei Planungsbeschleunigung und „eine Bundesregierung, die uns unterstützt und das versprochene Wort hält. Wir brauchen doch Verbindlichkeit in diesem Strukturentwicklungsprozess.“

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Die Aufgaben, die der Strukturwandel mit sich bringt, sind vielseitig. Je nach Region variieren die Herausforderungen sicherlich, aber bei den meisten meiner vier Gesprächspartner*innen gab es doch sehr viele Gemeinsamkeiten. Themen wie Nachhaltigkeit, besonders im Hinblick auf neue Arbeitsplätze, politische Teilhabe oder gesellschaftlicher Zusammenhalt stehen für sie im Fokus wenn sie in die strukturwandelgeprägte Zukunft blicken. Innovativ bleiben und auf Vernetzung setzen – diese zwei Aspekte werden die Bürgermeister*innen sicher weiterhin in der Lausitzrunde einbringen.

 Ann-Kathrin Canjé…

… ist schreib-,musik- und leseaffin. Ihr liegen die kleinen, unauffälligen Geschichten des Alltags am Herzen, die sie meist in Kurzgeschichten festhält. Wenn sie nicht kreativ schreibt, ist sie als Volontärin beim MDR tätig.

SCHRUMPFUNG GESTALTEN

Kulturaktivistin, Architektin und bald vielleicht auch Bürgermeisterin von Hoyerswerda – Dorit Baumeister lebt für die Lausitz. Sie ist eine Frau, die auch für eine schrumpfende Stadt Visionen hat

1992 zog Dorit Baumeister zum zweiten Mal nach Hoyerswerda in die Lausitz. Als Kind kam sie mit ihren Eltern her, wuchs in der Neustadt auf, ging nach der Schule Anfang der 80er zum Studium erst nach Cottbus und dann Berlin, später arbeite sie auch in Bayern. Kurz nach der Wende kam sie auf Bitte ihres Vaters zurück in eine Stadt im Umbruch und stieg in sein Architekturbüro ein. Das sozialistische System war zu Ende, tausende verließen die Stadt. „Das lief nicht gut damals“, erzählt sie. „Es gab gar keine Vorkenntnisse, wie man so einen Übergang schafft“.

Baumeister, Jahrgang 1963, entschied, diesen Übergang mitzugestalten: Erst in ihrem Beruf als Architektin, aber später auch als Kulturaktivistin, City-Managerin und vielleicht bald auch als Bürgermeisterin. Aber dazu später. Baumeisters Biografie ist untrennbar mit der Geschichte von Hoyerswerda verwoben. Von ihr zu erzählen, bedeutet deshalb fast automatisch, zuerst auf die Stadt und ihre Geschichte sowie auf ihre Literatur zu schauen:  Sofort fällt eine Verbindung zu Brigitte Reimanns autobiografischem Roman „Franziska Linkerhand“ auf. Die Protagonistin ist wahrscheinlich ein Vorbild für Baumeister, jedenfalls spricht sie häufig darüber. Der Roman erzählt die Geschichte einer jungen Architektin, die aus Leipzig nach Hoyerswerda kommt. Sie kommt voller Tatendrang, um die neue – sozialistische – Stadt zu entwerfen und zu bauen. Aber die Realität ernüchtert sie: Ihre architektonischen Visionen erstarren an Eile und Wohnungsnot, Sparmaßnahmen und Dienst nach Vorschrift.

Dorit Baumeister bei der Ausstellungseröffnung des „Brückenschlag“-Projekts. Foto: Dorit Baumeister

Ideen und Optimismus statt Wohnblocks und Wachstum

Hoyerswerda: 90er Jahre. Als Baumeister zurückkam: Statt Aufbau und sozialistischem Wachstum stand Abriss auf dem Programm. Die moderne Großstadt, die während der DDR aufgebaut wurde, und mit der Kohle zur industriellen Metropole werden sollte, gab es so schon nicht mehr. Hoyerswerda verlor Einwohner*innen, zeitweise hielt es den traurigen Rekord der am schnellsten schrumpfenden Stadt Deutschlands. Kein einfaches Arbeitsumfeld also eine Architektin, die von (Auf-) Bau und Gestaltung lebt – den sozialistischen Traum, den Franziska Linkerhand aufbaute, baut Baumeister wieder ab.

Auch wenn nach der Wende immer mehr Leute wegzogen: „Die Planung war weiter auf Wachstum ausgerichtet“, erzählt Baumeister. Sie hat den Prozess des Wandels als intensiv erlebt und er habe sie geprägt. Heute gilt Baumeister weit über die Region hinaus als Expertin dafür, wie man das Schrumpfen von Städten begleiten kann. Für viele Architekt*innen ist ab- statt aufzubauen wohl der Albtraum schlechthin. Baumeister ließ sich davon nie entmutigen. Im Gegenteil – es stachelte sie noch auf: „Ich versuche immer, mit klarer Haltung da ran zu gehen. Wir mussten aus der Schrumpfung die maximale Qualität für Alle rausholen“. Eine weitere Parallele mit Franziska Linkerhand, die unter den strengen ökonomischen Auflagen der DDR versucht hat, eine lebenswerte Stadt zu errichten. Baumeister will die Stadt heute nicht rückwärtsgewandt betrachten, sie will nach vorne denken und das auch unter der Prämisse, dass ihre Heimatstadt kleiner wird.

Wohnblöcke in Hoyerswerda. Foto: Lisa Kuner

Architektin ist Baumeister mit Leib und Seele, heute leitet sie das Architekturbüro Lienig & Baumeister. „Ich habe mich schon immer mit dem Thema Stadt beschäftigt“, erzählt sie. Aus ihrer Kindheit sind ihr unzählige Stunden vor dem Zeichenbrett ihres Vaters in Erinnerung geblieben.

Ihre Liebe zum Bauen wird auch bei architektonischen Stadtrundgängen sichtbar, in denen sie interessierte Besucher*innen-Gruppen durch die Neustadt Hoyerswerdas führt, als zeige sie ihnen ein Weltkulturerbe. Sie entlockt den unbedarften Zuschauer*innen Staunen über unscheinbare und hässliche Wohnblöcke. Die Alt- und die Neustadt in Hoyerswerda könnten gegensätzlicher kaum sein, erklärt Baumeister auf einem dieser Rundgänge. Die Altstadt existierte schon bevor in der DDR eine moderne Industriestadt gebaut werden sollte, Einfamilienhäuser reihten sich dort an alte Bauernhöfe. Hoyerswerdas Neustadt hingegen wurde in den 50ern errichtet. Die Stadt sollte ein internationaler Pilot für Modernität werden und Arbeiter*innen des Braunkohlekombinats Schwarze Pumpe beherbergen. Aus einem kleinen, landwirtschaftlich geprägten Städtchen wurde eine sozialistische Großstadt. Zehn Wohnkomplexe mit tausenden Wohnungen entstanden. Der Bauprozess, die Frage, wie neues Wohnen günstig realisiert werden und gleichzeitig ein Leben in Würde garantieren kann und wie man in einer Stadt ohne Stadtzentrum leben kann, beschäftigen auch Franziska Linkerhand im Roman. Baumeister erzählt als Stadtführerin mit einer solchen Leidenschaft davon, dass die Begeisterung über Plattenbauten direkt auf alle Zuhörer*innen überspringt.

Dorit Baumeister bei einer ihrer Stadtführungen. Foto: Lisa Kuner

Zeitweise lebten in Hoyerswerda mehr als 70.000 Menschen, heute hat die Stadt weniger als halb so viele Einwohner*innen. Ganze Wohnblöcke werden seit Anfang der 2000er zurück gebaut, auch die soziale Infrastruktur verschwindet: Schulen, Kneipen und Gaststätten schließen. Davon berichtet Baumeister eher wehmütig. Auch wenn sich der Schrumpfungsprozess ein bisschen verlangsamt hat, kommen auf eine Geburt in Hoyerswerda noch immer 3,5 Beerdigungen.

Als City-Managerin und Kulturaktivistin kämpft Baumeister auf der einen Seite darum, die Schrumpfung zu verlangsamen und auf der anderen dafür, einen guten Umgang damit zu finden. Für ihr erstes großes Kunstprojekt „Superumbau“ nutzte sie 2003 den Wohnkomplex 8 (WK8) kurz vor seinem Abriss. Heute wachsen an der Stelle Bäume und Wiesen. WK8 blieb nicht der einzige Komplex, der abgerissen wurde, weil die Menschen, die darin lebten, gegangen sind. Die Leere der Neustadt, die für Romanfigur Franziska Linkerhand wahrscheinlich eher ein Gefühl war, ist in Baumeisters Welt Realität. Aber eine, die sie nicht akzeptiert. Sie setzt alles daran, die Stadt mit Leben zu füllen: In den folgenden Jahren wird unter Baumeisters Leitung eine Platte angemalt, bevor sie abgerissen wird und in einem anderen Wohnblock wochenlang in Zukunftslaboren darüber nachgedacht, wie sich die Stadt entwickeln kann.

Ein neu gestaltetes Hoyerswerda. Foto: Lisa Kuner

„Sich mit der Schrumpfung zu beschäftigen, ist für viele Menschen hier noch ein Finger in der offenen Wunde“, erzählt Baumeister. Die Wende und die Jahre danach haben bei vielen Menschen vor allem Schmerz hinterlassen: „Die Menschen erleben jetzt, dass das, was sie vorher aufgebaut haben, keinen Wert mehr hat“. Es sei ein Aushandlungsprozess zu vermitteln, dass die Menschen oder ihre Leistung deshalb aber nicht wertlos seien. Außerdem müsste aus ihrer Sicht klar werden, dass es nicht um Schuld gehe. Keine*r sei schuld an den Entwicklungen. Als Kulturaktivistin arbeitet sie mit Menschen in Hoyerswerda daran, ihre eigene Identität zu finden und einen öffentlichen Dialog herzustellen. Mit Kunst- und Theaterprojekten versucht Baumeister, Fragen aufzuwerfen und zu beantworten, die die Leute in der Lausitz umtreiben. Vor allem die Stimmen der jungen Menschen in Hoyerswerda will sie damit einfangen: Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass man früher oder später die Stadt verlassen muss? Baumeister will, dass die Menschen mehr mitnehmen als das Gefühl, aus einer „Looser-Stadt“ zu kommen und dass sie vielleicht nach dem Studium zurückkehren.

„Städte mit Brüchen sind für mich spannend“, sagt Baumeister auf die Frage, was sie an Hoyerswerda liebt. Die Gegensätze zwischen Alt- und Neustadt faszinieren sie. Das Utopische, das an Hoyerswerda hängt, inspiriert sie. „Am meisten berührt mich aber das Engagement der Menschen“. Das habe dazu geführt, dass Hoyerswerda heute keine traurige, sterbende Stadt sei, sondern in vielen Bereichen innovativ.

„Ich möchte Verantwortung übernehmen.“

Wenn man Baumeister beobachtet, kann man zu dem Schluss kommen, dass sie viel gemein hat mit Linkerhand, der Protagonistin aus Brigitte Reimanns Roman: Sie ist eine emanzipierte Frau, wirkt mit ihrem frechen Bob jünger als 57 Jahre, spricht bestimmt und überzeugt. Baumeister will wie Linkerhand zur Avantgarde gehören und eine Welt verändern, die vielleicht noch nicht ganz verstanden hat, warum diese Veränderung notwendig ist. Von der Resignation und Verzweiflung, in die Reimanns Hauptfigur irgendwann verfällt, sieht man bei Baumeister allerdings nichts. Im Gegenteil, man sieht ihr die Überzeugung an, alles verändern zu können, wenn sie sich nur genug dafür einsetzt.

Dorit Baumeister. Foto: Dorit Baumeister

Dafür, ihre Visionen in die Tat umzusetzen und Hoyerswerda vor dem Sterben zu bewahren, hat Baumeister unendlich viel Energie. Als nächstes will sie im September Oberbürgermeisterin werden. „Ich bin schon immer Gestalterin, Vernetzerin, Macherin“. Bürgermeisterin zu werden erscheint ihr wie eine logische Konsequenz aus ihrem bisherigen Leben. Es brauche in der Region nicht noch mehr Politik voller Vorurteile, sondern Gemeinschaftssinn. „Daran zu arbeiten, reizt mich total“, sagt sie. „Ich möchte Verantwortung übernehmen.“

Hoyerswerda steht, wie der ganzen Lausitz, jetzt noch ein weiterer Wandel bevor: Der Kohleausstieg wird die Region zum zweiten Mal nachhaltig verändern. „Das ist eine historische Chance“, meint Baumeister. Das Geld für den Strukturwandel sollte aus ihrer Sicht dazu beitragen, die Stadt und die ganze Region als innovatives Labor neu aufzustellen: Zukunftstechnologien sollten dafür in Zusammenarbeit mit lokalen Unternehmen angesiedelt werden. Angst macht ihr diese bevorstehende Umwälzung nicht, es brauche aber ein neues Selbstbewusstsein um „von hier“ zu gestalten.

Das Selbstbewusstsein, das sie sich für die Region wünscht, trägt Baumeister zweifellos in sich. Sie ist überzeugt davon, dass sie in Hoyerswerda schon viel geschafft hat: „Die Stadt hat sich zum Positiven gewandelt“. Hier fallen die Biografien der Romanfigur Linkerhand und der Kulturaktivistin Baumeister auseinander. Baumeister ist keine Sekunde bereit, sich der Resignation hinzugeben. Während man am Ende von Brigitte Reimanns Roman den Eindruck bekommt, die utopische Vision für Hoyerswerda sei gescheitert, will Baumeister im Hier und Jetzt jeden Tag das Gegenteil beweisen. Dass sie sich als Frau mehr anstrengen muss für ihre Erfolge, härter kämpfen muss, nimmt Baumeister wahr. Einschüchtern lassen hat sie sich davon aber nicht. Sie ist wohl eher die Art von Frau, die jeder Widerstand anstachelt.

Lisa Kuner…

…ist freie Journalistin, sie schreibt für die FAZ über Bildung, für Perspective Daily über den Osten und würde am liebsten aus Brasilien von sozialer Ungleichheit erzählen. Außerdem studiert sie Nachhaltige Entwicklung in Leipzig. Einen Überblick über ihre bisherigen Veröffentlichungen gibt es hier: https://www.torial.com/lisa.kuner

GANZ IN SPREEWEISS

Im herrlichen Schlosspark in Branitz treffen wir das Organisationstalent Julia Müller. Seit 2017 bietet die Hochzeitsplanerin im Spreewald ihre Dienste an. In Vetschau aufgewachsen, zieht es Julia nach dem Abitur in die Großstadt. „Wo was los ist.“ Für eine Ausbildung zur Eventmanagerin geht sie nach Dresden und weiter nach England. Mit einem internationalen Abschluss in der Tasche startet sie in Berlin durch. Sieben Jahre lang sammelt sie Erfahrungen in der Eventbranche. Los geht es bei einer namenhaften Adresse: Sie holt sich den ersten Schliff als Praktikantin bei Scholz & Friends, einer der führenden Kreativagenturen in Europa. Richtig Fuß fasst die junge Frau aber erst später, in einer kleineren Agentur als Projektmanagerin. Hier organisiert sie große Veranstaltungen und Messen für Politik und Wirtschaft. Nebenbei schließt sie ihr Masterstudium Eventmarketing/ Live Kommunikation an der TU Chemnitz erfolgreich ab.

ZWL Spreeweiß 2020 by Paul Glaser

Von Spreeathen in den Spreewald

Die Idee für die Selbstständigkeit in der alten Heimat kündigt sich an, als das zweite Kind unterwegs ist. Julia Müller bereut den Umzug von Berlin in den Spreewald keine Minute. Das Familienleben lässt sich jetzt viel besser mit Großeltern organisieren als in der Metropole mit Vollzeitjob und weiten Wegen. Ihre Tochter war früh am Morgen oft das erste Kind und am späten Nachmittag das letzte, das abgeholt wurde. Der Blick auf die Spreewaldregion hat sich von der Hauptstadt aus verändert. Was als Jugendliche grau und langweilig wirkte, wurde zum Sehnsuchtsort, strahlte in Regenbogenfarben. […]

… das komplette Porträt von Julia Müller ist auf dem Blog #lausitzstark der Zukunftswerkstatt Lausitz zu finden.

Text: Annett Miethe | Fotos: Paul Glaser

Zur Homepage: Spreeweiß

QUEERE LAUSITZ?!

Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*- und inter*geschlechtliche sowie queere Menschen (LSBTIQ*) leben auch in der Lausitz, sind aber kaum sichtbar.

Der jährliche IDAHIT*, der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Trans*- und Inter*feindlichkeit sollte auch am 17. Mai 2020 Anlass sein, in Bautzen ein Zeichen für Akzeptanz und Vielfalt zu setzen. Aufgrund der Pandemie muss die Veranstaltung als Kooperation des Thespis-Zentrums Bautzen, des Gerede e. V. Dresden und der LAG Queeres Netzwerk Sachsen e. V. nun auf die zweite Jahreshälfte verschoben werden. Auch der 12. Christopher Street Day (CSD) Cottbus & Niederlausitz mit Demonstration und vielen Veranstaltungen kann voraussichtlich erst im September 2020 stattfinden. Solche Events sind insbesondere in einer strukturschwachen Region wie der Lausitz immens wichtig.

LSBTIQ* – Was bedeutet das eigentlich?

Die verschiedenen Buchstaben des sogenannten Akronyms bezeichnen unterschiedliche Gruppen von Menschen. Lesbisch (L) und schwul (S), Homo- und Bisexualität (B) sind für die meisten geläufige Begriffe. Das T bedeutet Trans* und ist eine Selbstbezeichnung für Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem in die Geburtsurkunde eingetragenen Geschlecht übereinstimmt. Weitere Selbstbezeichnungen in dieser Hinsicht sind z. B. transgender, transsexuell oder transident. Auch viele nicht-binäre Menschen, die sich nicht in den Kategorien „Frau“ oder „Mann“ wiederfinden, identifizieren sich als Trans*. Das Gegenteil von Transgeschlechtlichkeit bezeichnet man als Cisgeschlechtlichkeit. Der Buchstabe I steht für Inter* (auch intergeschlechtlich, intersexuell), also für Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Eine Einordnung in die Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ ist anhand der genetischen, anatomischen oder hormonellen Merkmale nicht eindeutig möglich. Q bedeutet „queer“ und ist die Selbstbezeichnung für diejenigen, die sich im System aus Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nicht wiederfinden, sich aber auch nicht zwingend eindeutig mit einem der Buchstaben LSBTI identifizieren. Manchmal wird queer auch als Überbegriff für LSBTI verwendet. Das Sternchen * (Asterisk) zeigt an, dass auch alle weiteren möglichen Selbstdefinitionen beachtet werden – denn Sexualität und Geschlechterbilder sind dynamisch, entwickeln sich und sind nicht ein für alle Mal eindeutig fassbar.

Das Problem der Unsichtbarkeit

Unsere Gesellschaft ist durch die Annahme geprägt, es existierten nur (heterosexuelle, cisgeschlechtliche) Männer und Frauen und diese seien klar voneinander zu unterscheiden. Aufgrund dieser Norm sind alle anderen Geschlechtlichkeiten und andere als heterosexuelle Orientierungen kaum sichtbar und oft benachteiligt. LSBTIQ* erleben deshalb mehr psychische, physische, soziale und rechtliche Belastungen und sind einem höheren Risiko ausgesetzt, psychisch oder physisch zu erkranken.

Hinzu kommt, dass LSBTIQ* nicht selten soziale, rechtliche und medizinische Hürden überwinden müssen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Trans*Personen müssen beispielsweise einen langwierigen und teuren Prozess auf sich nehmen, wenn sie ihren Namen und Personenstand ändern möchten. Eine Psychotherapie, mehrere psychologische Gutachten und die abschließende Entscheidung durch das Amtsgericht sind, anders als in vielen anderen Ländern, in Deutschland noch vorgeschrieben.

Die Bedingungen in der strukturschwachen Lausitz stellen queere Menschen und ihre Familien ebenso vor erhebliche Herausforderungen. Zum einen fehlen qualifizierte Therapeut*innen, Ärzt*innen und Berater*innen, die mit LSBTIQ*-Themen vertraut sind, zum anderen gibt es nur sehr wenige Gruppen- und Freizeitangebote, die sich an LSBTIQ* richten.

Die in der Lausitz ansässige Kultur-, Sozial- und Sportlandschaft allgemein bietet nur bedingte Anknüpfungspunkte, weil häufig Kenntnisse über die Bedürfnisse der LSBTIQ*-Zielgruppen und diskriminierende Strukturen fehlen. Die Hürde, bestehende Angebote in Anspruch zu nehmen, ist hoch. Kleine LSBTIQ*-Gruppen und -Initiativen scheitern oft an mangelnder struktureller und finanzieller Förderung und der Angst vor Repressionen.

Viele LSBTIQ* in der Lausitz haben Angst, ihre Identität oder sexuelle Orientierung zu offenbaren. Einige nehmen weite Wege nach Dresden, Cottbus oder Berlin auf sich, um dort andere LSBTIQ*-Menschen kennen zu lernen, Beratung zu erhalten oder unbeschwert in Freizeitgruppen so sein zu können, wie sie sind. Wer nicht mobil ist, lebt hingegen oft versteckt und einsam.

Das führt wiederum zur Überzeugung einiger Lausitzer*innen, es gäbe entweder keine LSBTIQ*-Menschen in ihrer Umgebung oder diese sollten sich „nicht so haben“, Sexualität und Geschlecht seien schließlich Privatsache und müssten nicht thematisiert werden. Wer einmal aufmerksam darauf achtet, wie häufig heterosexuelle Menschen außerhalb des LSBTIQ*-Bereiches über ihre Familien oder Partner*innen sprechen, merkt jedoch schnell, wie zentral und selbstverständlich Geschlechterverhältnisse im Alltag präsent sind, ohne dass es um eventuelle sexuelle Praktiken ginge. LSBTIQ*-Personen ist diese Selbstverständlichkeit oft noch nicht möglich.

Der IDAHIT 2018 in Bautzen

Wertkonservative Strukturen

Verlässliche Daten dazu, wie häufig und in welcher Form LSBTIQ* in der Lausitz Diskriminierungen ausgesetzt sind, liegen nur teilweise vor. Für Sachsen gibt es bis heute keine umfassende Lebenslagenstudie. Die Staatsregierung will zumindest eine merkmalsübergreifende Diskriminierungsstudie mit Schwerpunkt LSBTIQ* zeitnah umsetzen. Der für ganz Sachsen repräsentative Sachsenmonitor [Link] zeigt für die Jahre 2016-2018 eine hohe Ablehnung in Bezug auf Homosexualität: Ein Drittel der Bevölkerung stimmt konstant der Aussage zu, Homosexualität sei unnatürlich.

Das Land Brandenburg hat 2018 die Lebenslagenstudie „Queeres Brandenburg“ (Link) veröffentlicht, deren Ergebnisse aufgrund ähnlicher struktureller Gegebenheiten auch auf den sächsischen Teil der Lausitz anwendbar sind. 48% der Befragten gaben an, innerhalb der letzten fünf Jahre Diskriminierung erfahren zu haben. Trans*Personen waren in besonderem Maße (77%) von Ausgrenzung betroffen. Die meisten Diskriminierungen finden in der Familie, im öffentlichen Raum und in der Schule statt. Zwar zeigt die Studie eine steigende Diskriminierungshäufigkeit in den Ballungsgebieten und Städten (53%) im Vergleich zum ländlichen Raum (39%), diese ist jedoch weniger auf die tatsächlichen Erlebnisse zurückzuführen als darauf, dass LSBTIQ* in ländlichen Regionen seltener ihre Identität preisgeben. Das erfreuliche Ergebnis, dass 70% der Brandenburger*innen es begrüßen würden, wenn bei ihnen nebenan ein homosexuelles Paar einziehen würde, vermittelt zwar eine tolerante Grundhaltung, darf aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass queere Menschen im Alltag noch immer Vorurteilen, mangelnder Empathie, Ablehnung und Gewalt begegnen.

Wie viele LSBTIQ* genau in der Lausitz leben, ist nicht bekannt und schwer zu erheben. Verschiedene nationale und internationale Studien lassen den Schluss zu, dass sich ca. 5-10% der Gesellschaft insgesamt innerhalb der Gruppe der LSBTIQ* verorten.

Strukturschwache Regionen wie die Lausitz sind aus genannten Gründen für einige LSBTIQ* weniger attraktiv als große Städte. Deshalb kommt es zu Abwanderungen, insbesondere junger, mobiler und gebildeter Erwachsener aus den kleinstädtischen und ländlichen Räumen, was das Problem der Strukturschwäche weiter verstärkt.

Vereine bieten Beratung, Bildung und Vernetzung

Der Bedarf an Beratung und anderen Angeboten für Lausitzer LSBTIQ* ist hoch. So verzeichnet etwa das Beratungsprojekt „Qu(e)er durch Sachsen“ des Gerede e. V., das seit einigen Jahren aufsuchende Beratung für LSBTIQ* und deren An- und Zugehörige u. a. in den Landkreisen Bautzen und Görlitz anbietet, steigende Zahlen. Allein in der Stadt Bautzen fanden 2019 insgesamt 36 Beratungsgespräche statt, ähnlich viele Termine gab es in Görlitz, darüber hinaus auch in zahlreichen kleineren Orten beider Landkreise. Aufgrund der bestehenden rechtlichen und medizinischen Hürden ist der Informationsbedarf insbesondere bei Trans*-Personen hoch. Weitere zentrale Beratungsthemen sind Vereinsamung, Kontaktsuche zu anderen LSBTIQ* und Coming-Out. Die Ratsuchenden kommen dabei aus allen Altersgruppen. Der Gerede e. V. mit Sitz in Dresden bietet im sächsischen Teil der Lausitz zudem Aufklärungsprojekte an Schulen und Weiterbildungsformate für Fachkräfte in allen gesellschaftlichen Bereichen an.

Das Angebot wird in der Oberlausitz durch die Bildungs- und Beratungsangebote der Aids-Hilfe Dresden e. V. in den Bereichen Gesundheit, Sexualität und Prävention ergänzt, die ebenso über Dresden hinaus agiert. Queeres Engagement von Aktiven vor Ort gibt es beispielsweise in Görlitz. Hier bietet Tierra – Eine Welt e. V. regelmäßig eine Queerlounge für LSBTIQ* zum gegenseitigen Austausch an. Das Camillo Kino greift queere Themen immer wieder in seinem Programm auf.

In der Niederlausitz kann auf die Beratungs- und Bildungsangebote vom Andersartig e. V. und vom Katte e. V. zurückgegriffen werden, die beide in Potsdam ansässig sind, aber Zweigstellen in Cottbus betreiben. Auch der Aids-Hilfe Lausitz e. V. in Cottbus steht mit Rat, Tat und Veranstaltungen zur Verfügung und organisiert gemeinsam mit dem CSD Cottbus e. V. aktuell den 2. Christopher Street Day (CSD) Cottbus & Niederlausitz, der mit vielen Events und Aktionen hoffentlich vom 31.8. bis 12.09.2020 stattfinden kann. Für Lausitzer Studierende ist der BTUQueer – Hochschulstammtisch der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg eine wichtige Anlaufstelle. Zudem findet im Jugendzentrum Glad-House mit der Rainbowparty eine regelmäßige Tanzveranstaltung in Cottbus statt. Außerhalb der Stadt Cottbus sind Angebote aber auch in der Niederlausitz praktisch nicht vorhanden, sodass Interessierte von außerhalb mit langen Wegen rechnen müssen.

Angebote ausbauen, Barrieren senken!

Das strukturelle Defizit ist also trotz punktuell vorhandener Initiativen noch groß. Flächendeckende Angebote über eine psychosoziale Beratung hinaus sind dringend notwendig, um die Lebensqualität von LSBTIQ* in der Lausitz zu verbessern. Gleichzeitig müssen Barrieren für LSBTIQ* durch die lokalen kulturellen, sozialen und sportbezogenen Träger abgebaut werden. Spätestens 2021 werden viele Vereine und Initiativen aufgrund der vermutlich beginnenden Wirtschaftskrise wahrscheinlich von Kürzungen der öffentlichen Förderungen bedroht sein, was die Situation weiter verschlechtern kann. Hier sind Kommunalpolitik und Zivilgesellschaft in der Lausitz gefordert, sich verstärkt für die Belange von LSBTIQ* in der Region einzusetzen und queere Strukturen zu stärken.

Vera Ohlendorf… 

… arbeitet als Bildungsreferentin bei der LAG Queeres Netzwerk Sachsen e. V., dem Dachverband der sächsischen Organisationen und Vereine, die sich für die gleichberechtigte Teilhabe von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, trans- und intergeschlechtlichen Personen sowie queeren Menschen in Sachsen einsetzen.

VOM REDEN ÜBER ZUM REDEN MIT FRAUEN

Prof. Dr. Ulrike Gräßel

Vom Reden über zum Reden mit Frauen

Ulrike Gräßel hat diesen Beitrag als Vortrag auf dem Symposium „F wie Kraft – Frauen. Leben. Oberlausitz.“ am 26.1. 2018 gehalten. Uns hat viel Begeisterung darüber erreicht, so dass ihr ihn hier nachlesen könnt.

Sehr geehrte, liebe Frauen und Männer,

ich freue mich sehr, heute den ersten Diskussionsinput geben zu dürfen zu unserem Symposium, der Abschlussveranstaltung unseres Projekts zu den Bleibebedingungen von Frauen in der Oberlausitz.

Mein – sicherlich provokanter – Diskussionsbeitrag steht unter der Überschrift „Vom Reden über zum Reden mit Frauen“. Dabei werde ich mir die Freiheit nehmen, nicht nur zu unserem Projekt allgemein zu sprechen, sondern in einem zweiten Schritt weit darüber hinaus, nämlich zum „Reden über und Reden mit“.

Forschung als Kommunikations- und Aktivierungsprozess

Doch zunächst zu unserem Projekt:

Unser Gesamtprojekt zu den Bleibebedingungen von jungen, gebildeten Frauen in der Oberlausitz war ja quasi zweigeteilt in eine Studienphase, die sich mit der „Verbesserung der Verbleibchancen qualifizierter Frauen im Landkreis Görlitz“ befasste und in dieser Phase Frauen sowie junge Frauen und junge Männer in erster Linie „beforscht“ hat – Sie merken schon, wir sind grade beim „Reden über“ – und in eine zweite Phase unter dem Titel „Geschlechtersensible Willkommenskultur im Landkreis Görlitz“.

Trotzdem die erste Phase der „Beforschung“ jungen Frauen – und als Kontrastfolie dazu selbstverständlich auch Männern beziehungsweise jungen Männern –  galt, war ein wichtiger Ansatz des gesamten Projektes, den Forschungsprozess als regionalen Kommunikations- und Aktivierungsprozess zu konzipieren und durchzuführen. Dieser Aktivierungs- und Kommunikationsprozess sollte letztendlich auch verstetigt werden, was uns übrigens auch – zumindest teilweise! – gelungen ist, und zwar durch diese zweite Phase der Entwicklung einer gendersensiblen Willkommenskultur.

Expertinnen ihrer eigenen Lebenswelt

So war es von Anfang an unser Auftrag und unser Ziel, Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Verbleibchancen junger qualifizierter Frauen (und Männer) im Landkreis Görlitz zu entwickeln. Ein konzeptioneller Baustein war dabei, dies nicht „vom Schreibtisch aus“ zu tun, sondern auf die Erfahrungen und Kompetenzen möglichst vieler regionaler Akteurinnen und Akteure aus Politik und Verwaltung, aus Wirtschaft und Wissenschaft, aus Planung, Bildung und Beratung zurückzugreifen, um gemeinsam mit ihnen und Betroffenen entsprechende Ideen zu entwickeln. Mit „Betroffenen“ meinten wir Frauen, die hiergeblieben sind, die neu angekommen sind bei uns oder die wiedergekommen sind. Diese Frauen als Expertinnen ihrer eigenen Lebenswelt haben wir angesprochen, um MIT Ihnen zu sprechen. So hatten vor allem die Forschungswerkstätten regelmäßig drei Intentionen: Zunächst wollten wir regionale Akteurinnen und Akteure miteinander ins Gespräch bringen – untereinander und mit den Frauen. Dadurch sollten alle Beteiligten zur aktiven (Mit)Gestaltung „ihres“ Landkreises motiviert werden. Stichwort hier: „aktivierende Befragung“, ein uraltes Forschungsinstrument aus der noch älteren Gemeinwesenarbeit bzw. aus dem „Community Organizing“, das übrigens auch Barack Obama damals „gewinnbringend“ – im wahrsten Sinne des Wortes – angewandt hat!

Und letztendlich zielten unsere Forschungswerkstätten, unsere Kommunikationsrunden darauf ab, am Ende jeder Werkstatt zu dem Schwerpunktthema zu entsprechenden Empfehlungen für regionale Entwicklungsperspektiven zu kommen.

Und EINE Empfehlung war die Entwicklung einer gendersensiblen Willkommenskultur – ehrlich jetzt! Das steht auf Seite 33 oben, erste Spalte in unserer Dokumentation! Studie

Miteinander ins Gespräch kommen

Das heißt: Wir haben am Beginn unseres Projektes in der ersten Phase selbstverständlich zunächst einmal ÜBER Frauen geredet im Rahmen einer Bestandsaufnahme für den Landkreis.

Anschließend haben wir aber sofort angefangen, MIT den Frauen zu reden: in besagten Forschungswerkstätten, in Workshops und in Interviews. Das hat sich dann fortgesetzt bzw. gesteigert in der zweiten Projektphase, durch Tischgespräche im Rahmen der ‚ProduzentinnenTour‘, durch Diskussionen im Rahmen des Auftakttreffens zur Gründung eines Arbeitskreises, der die Umsetzung unserer erarbeiteten Handlungsempfehlungen für den Landkreis begleiten soll, und durch Diskussionsrunden zum Thema „Entwicklung einer Website“.

Wir haben miteinander geredet! Wir haben diskutiert und dementiert! Wir haben gestritten, gelästert und gelacht! Wir haben verabschiedet und verworfen! Wir haben unsere Meinungen vertreten und wir haben zugehört. Männer und Frauen! Und das haben wir in einer ganz besonderen Art und Weise getan, und zwar respektvoll und wertschätzend!

Vom Sprechen und Zuhören

Damit sind wir beim Thema „Reden mit“.

Zunächst einmal gab es in unseren Gesprächen KEINE „gegengeschlechtliche Orientierung“, wie ich sie zum Beispiel in gemischtgeschlechtlichen Fernsehdiskussionen belegen konntei. Eine gegengeschlechtliche Orientierung, kurz: ein gewisses Balzverhalten, bedeutet: In gemischtgeschlechtlichen Diskussionen reden Männer mit Frauen, Frauen mit Männern. Aber: wenn es um die Konstruktion eines Gesprächsstatus geht, so arbeiten ALLE am Gespräch Teilnehmenden an einem hohen Gesprächsstatus für Männer – durch Bezüge zum Beispiel und Unterstützungen – aber weder Männer noch Frauen arbeiten an einem hohen Status für Frauen, im Gegenteil: die Akzeptanz von Frauen in Gesprächen wird demontiert durch Unterbrechungen und Scheinbezüge, und zwar von Männern wie auch von anderen Frauen!

Wohlgemerkt: Bei meinen zwangsläufig stattfinden teilnehmenden Beobachtungen konnte ich dieses Phänomen in unseren Diskussionen nicht feststellen!

Nun waren wir zwar doch überwiegend Frauen, doch haben wir auch in gemischtgeschlechtlichen Runden miteinander geredet, allerdings OHNE dass uns Frauen unser „weiblicher Stil“ geschadet hätte!

Ein weiblicher Sprachstil – der sprachliche Ausdruck eines „geschlechtsangemessenen Verhaltens„ii, das kulturell „erwünscht„, vermittelt und vor allem erwartet wird und von den einzelnen Akteurinnen in realen Interaktionen dann mehr oder weniger korrekt oder vollständig umgesetzt wird – ein weiblicher Sprachstil also ist gekennzeichnetiii zum einen durch ein ausgesprochen aufmerksames und unterstützendes Hörverhalten, zum anderen durch Formen der Abschwächung und schließlich durch das Fehlen von Formen dominanten Sprachverhaltens.

Insofern ist das sprachliche Doing Gender von Frauen geprägt von Indirektheit und dem Leisten von Gesprächsarbeit, von Arbeit daran, dass Kommunikation gelingt.

Und warum hat unseren Diskussionen dieser durchaus angenehme, empathische, aber nicht immer unbedingt zielführende Sprachstil nicht „geschadet“?

Zum einen, weil die Frauen trotzdem klar, laut und deutlich gesagt haben, was sie wollen. Und zum anderen, weil die Männer, die mit uns diskutiert haben, in der Regel KEINE dominanten Formen des Sprachverhaltens an den Tag gelegt haben. Das heißt die Männer, mit denen wir diskutiert haben, hatten in der Regel KEINEN belehrenden Zeigefinger erhoben und haben auch NICHT versucht, durch Scheinbezüge, Themenverschiebungen und Pseudodiskussionen die Gespräche zu dominieren. Das sogenannte mansplaining unter dem Motto „Wenn Männer mir die Welt erklären“iv hat in unseren Runden eher selten stattgefunden.

Dass das weiterhin so gut funktioniert, dass Sie einander zuhören, sich ausreden lassen, sich gegenseitig Raum lassen, die Dinge zu Ende zu denken, neue Dinge anzudenken, das wünsche ich den hier anwesenden Akteurinnen und Akteuren, die eine gendersensible Willkommenskultur weiterentwickeln wollen, von ganzem Herzen.

Gendergerechtes Sprechen

Kommen wir abschließend zum „Reden über“, kommen wir zu einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch, zu einer gendersensiblen Sprache, auch wenn vielleicht einige von Ihnen von diesem Thema eher genervt sind oder es als „Nebenschauplatz“ abtun. Nein: gendergerechtes Sprechen ist KEIN Nebenschauplatz:

In vielen unseren Handlungsempfehlungen findet sich die Forderung, Frauen sichtbar zu machen, oder wie wir es auf Seite 32 unserer wunderbaren Broschüre formuliert haben: „Frauen aus der Unsichtbarkeit befreien“. Und ein erster Schritt dahin IST die Sichtbarmachung von Frauen in der Sprache. Die sächsische Gleichstellungsministerin hat Recht, wenn Sie in Bezug auf Berufsbezeichnungen sagt „Ich verstehe gar nicht, warum es so schwerfällt, eine Frau als Frau anzusprechen“. Und Sie hat Recht, wenn sie fordert, dass eine gendergerechte Sprache zur Gewohnheit werden soll.

Und warum? Weil zum Beispiel der Sprachwissenschaftler Josef Kleinv, der angetreten ist, um im „Glaubensstreit“ um das geschlechtsneutrale Maskulinum „mit Hilfe empirischer Methoden vom Glauben zum Wissen zu gelangen“ (1988: 310), zeigen konnte, dass „die Benachteiligung der Frau durch das generische Maskulinum (…) keine feministische Schimäre (ist), sondern psycholinguistische Realität.“ (1988: 305) Insofern, so seine Schlussfolgerung, wird die von unzähligen Frauen aufgestellte Forderung nach einer gleichberechtigten Nennung weiblicher und männlicher Formen „zwar nicht zur Beseitigung, sicherlich aber zu einer Abschwächung der Ignoranz gegenüber dem Frauenanteil in Personengruppen“ führen (1988: 319).

Fazit: Machen Sie Frauen sichtbar, sprechen Sie Frauen an, heißen Sie Frauen willkommen, in der Stadt, auf dem Land, im Landkreis Görlitz! Wir haben noch viel zu tun.

 


Ulrike Gräßel, „Aber Sie wissen da sicher mehr darüber!“ Orientierungen von Expertinnen und Experten in Fernsehdiskussionen, in: Friederike Braun, Ursula Pasero (Hg.), Kommunikation von Geschlecht, Pfaffenweiler 1997, S. 88-104

Anja Gottburgsen, Stereotype Muster des sprachlichen doing gender. Eine empirische Untersuchung, Wiesbaden 2000, S. 33

Ulrike Gräßel, Weibliche Kommunikationsfähigkeit – Chance oder Risiko für Frauen an der Spitze? in: Adam, Eva und die Sprache, Beiträge zur Geschlechterforschung, Duden, Thema Deutsch, Band 5, hg. von der Dudenredaktion und der Gesellschaft für deutsche Sprache, Mannheim et al. 2004, S. 56-68

Rebecca Solnit 2015, orig. 2014

Josef Klein, Benachteiligung der Frau im generischen Maskulinum – eine feministische Schimäre oder psycholinguistische Realität?, in: Oellers, Norbert (Hg.), Akten des Germanistiktages 1987, S. 310-319; ders., Der Mann als Prototyp des Menschen – immer noch? Empirische Studien zum generischen Maskulinum und zur feminin-maskulinen Paarform, in: Adam, Eva und die Sprache, Beiträge zur Geschlechterforschung, Duden, Thema Deutsch, Band 5, hg. von der Dudenredaktion und der Gesellschaft für deutsche Sprache, Mannheim et al. 2004, S. 292-307

F wie Fragebogen

Sarah Weinberg prägt den kulturellen Januar an der Neiße als Künstlerische Leiterin der Internationalen Messiaen-Tage. Sie lebt seit 2017 in Görlitz und liebt die Stadt für ihre Farben und das Echo des Viadukts. Die diesjärhigen Messiaen-Tage finden vom 11. bis 15. Januar in Görlitz-Zgorzelec statt.

Wie heißt du?
Sarah Weinberg

Zweiter Vorname?
Passt so.

Worüber hast du zuletzt herzlich gelacht/bitterlich geweint?
Im Theater bzw. im Symphoniekonzert – wo sonst?!

Was fällt dir leichter: Ankommen oder Aufbrechen?
Kommt drauf an, wo die Sonne steht.

F wie Kraft, F wie …
Freiheit.

Wovon lebst du?
Ich lebe von der Schönheit, die uns umgibt und davon, sie den Menschen zu zeigen.

Was findet man in deiner Tasche?
Diverse lebensrettende Zauberdinge: Lippenstift, Naschies, Ohropax, einen Korkball, Besteck und eine Glasflasche.

Wie lebst du in 10 Jahren?
Voller Liebe und voll in der Natur.

Hast du einen Plan B?
Teilweise laufen mehrere Pläne parallel ab oder wechseln sich ab A, A1, A2, B, B1… ansonsten gleite ich im Flow.

Welches Buch liegt neben deinem Bett?
Ingeborg Bachmann, Gedichte.

Wo fühlst du dich am Lebendigsten?
Allein in der Mitte eines Waldsees, zwischen unterschiedlichen Instrumenten oder zu Tisch mit meinen Herzmenschen.

Wovon hast du als Letztes geträumt?
Meistens träume ich von Pierogi.

FRAUEN.GESTALTEN.WELTEN

Das Projekt Frauen.gestalten.Welten

… richtet sich vorrangig an Frauen* mit Fluchterfahrung, die in der Stadt – oder dem Landkreis Görlitz leben. Wir möchten Frauen* unterschiedlicher Herkunft einen Raum eröffnen, um sich zu begegnen, auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen, Ideen zu spinnen und diese umzusetzen. Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, sich in herkunftssprachlicher Übersetzung Informationen zu zentralen und komplexen Themen im Integrationsprozess einzuholen. Durch die Projektstrukturen werden Frauen* außerdem verschiedene Ressourcen zugänglich gemacht, um sich als aktive Akteurinnen im Stadtgeschehen einzubringen.

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Entwickelt hat sich das Projekt…

… aus dem ehemaligen Café Hotspot als niedrigschwellig zugänglichen Begegnungsraum für Geflüchtete und Einheimische. Hier wurde im Rahmen des offenen Cafés die Möglichkeit geboten, sich in Alltagsfragen beraten zu lassen oder sich ehrenamtlich zu engagieren. Daraus hat sich zum Beispiel die Migrantenselbstorganisation SYRLITZ entwickelt. Mit der Schließung des Café Hotspot verschwand ein wichtiger Ort für geflüchtete Menschen in Görlitz, der einzige seiner Art. Um aber auch zukünftig einen geschützten und diskriminierungssensiblen Raum, insbesondere für Frauen*, in der Stadt zu schaffen, konnte im April 2019 mit dem Second Attempt e. V. als Träger und gefördert durch den Freistaat Sachsen das Projekt „Frauen.gestalten.Welten – Beratung und Begleitung geflüchteter Frauen in die Selbstorganisation“ in seiner praktischen Umsetzung gestartet werden.

Der Grundgedanke war und ist, im Landkreis Görlitz Freiräume zu schaffen, um geflüchteten Frauen* die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Bedarfe sichtbar zu machen, sich in ihren oft geteilten Erfahrungen gegenseitig zu unterstützen und dabei erkennen zu können, dass hinter den individuellen Problemlagen oft strukturelle Benachteiligungen stehen. Für deren Veränderungen ist es lohnenswert, sich nachhaltig selbst zu organisieren.

Welche Bedarfe sehen wir?

Geflüchtete Frauen* sind in ihrem Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeit und Bildung, demokratischer Mitbestimmung sowie sozialer und kultureller Teilhabe strukturell benachteiligt. Nicht nur, aber besonders in peripheren Räumen sind die Möglichkeiten, sich außerhalb der Familie und dem Freund*innenkreis als selbstwirksam wahrzunehmen, durch den Mangel an Angeboten und Möglichkeiten sehr gering.  Die Folge daraus ist, dass viele daran zweifeln, einen aktiven Beitrag in der Gesellschaft leisten zu können, in der sie leben.  Das betrifft besonders Frauen* mit Kindern, denn aufgrund fehlender Kinderbetreuungsplätze ist der Zugang zu Sprachkursen und infolgedessen auch zu anderen Lebensbereichen erschwert. Viele Frauen*, die Betreuungsarbeit leisten, sind stark in häuslichen und familiären Kontexten eingebunden. Da die vielfältigen offenen Familienangebote der Stadt fast ausschließlich auf Deutsch beworben werden, kann es selten zu Begegnungen und Austausch mit anderen Görlitzer*innen kommen.

Fremdenfeindliche, rassistische und islamfeindliche Haltungen in Teilen der Mehrheitsbevölkerung erschweren Women of Color und insbesondere Frauen*, die ein Kopftuch tragen, den Alltag zusätzlich. Die Projektteilnehmerinnen machen alltäglich Diskriminierungserfahrungen auf verschiedenen Ebenen. So berichtete zum Beispiel eine Frau*, die auf Wohnungssuche in Görlitz war, dass viele Vermieter*innen beim Erstgespräch am Telefon direkt auflegten, sobald sie hörten, dass sie kein akzentfreies Deutsch spricht. Auch werden ihnen auf der Straße im Beisein der Kinder oftmals abwertende Kommentare hinterhergerufen oder es treffen sie missfällige Blicke.

In Folge solcher demütigender Erfahrungen äußern viele Projektteilnehmerinnen, dass sie sich keine langfristige Zukunft in der Region vorstellen können. Auch wenn sie die Stadt eigentlich schätzten, zum Beispiel aufgrund ihrer Größe, Ruhe und der Schönheit der Häuser, welche teilweise an syrische Städte der Vergangenheit und somit an die Heimat erinnern.  Aber die Aussicht auf bessere Erwerbs- und Bildungschancen in Großstädten sind enorme Pull-Faktoren. Insbesondere jüngere, engagierte geflüchtete Frauen* ziehen häufig, sobald es ihnen möglich ist, in größere Städte, nachdem sie hier vergeblich versucht haben einen Job oder eine Ausbildung zu finden.

Das zentrale Anliegen von Frauen.gestalten.Welten ist es daher, die gesellschaftlichen, sozialen, politischen sowie kulturellen Teilhabemöglichkeiten geflüchteter Frauen* zu stärken und somit einen Beitrag dafür zu leisten, dass sich die Lebensbedingungen in der Region verbessern.

Was machen wir konkret?

Ein Großteil unserer Angebote findet derzeit im Vis à Vis auf der Bismarckstraße 19 statt. Hier öffnet immer freitags das Café, in dem Frauen* sich auf einen Kaffee oder einen Chai treffen und austauschen können. Das hauptamtliche Team berät bei Bedarf zu verschiedenen Alltagsfragen, hilft beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen oder beim Schreiben von Bewerbungen und vermittelt gegebenenfalls an Fachstellen weiter. Eine der Mitarbeiterinnen übersetzt ins Persische, andere Projektteilnehmerinnen übersetzen ehrenamtlich ins Arabische und manchmal auch ins Kurdische. So bearbeiten wir die komplexen Formulare und Anträge von Behörden und anderen Institutionen oder begegnen anderen Anliegen gemeinsam. Das offene Café soll neben der Möglichkeit einer kostenlosen und niedrigschwelligen Beratung auch einen sicheren Raum für Selbstorganisation bieten. Deshalb sind neue Ideen und Impulse, die meist aus speziellen Bedarfen resultieren, jederzeit willkommen und gemeinsam suchen wir nach Lösungsansätzen und Umsetzungsmöglichkeiten. Auf Wunsch der Besucherinnen ist so beispielsweise unser monatlicher Handarbeitstreff entstanden, bei dem Frauen* gemeinschaftlich nähen, sticken oder stricken und in diesem Rahmen Bekanntschaften machen und durch das gemeinsame Tun ein bisschen Deutsch üben können.

Ein wichtiger Teil des Projekts ist die Organisation von Informationsveranstaltungen, Empowerment-Workshops und themenspezifischen Gesprächsrunden mit Expertinnen aus verschiedenen Bereichen rund um die Themen Familie, Gesundheit, Umgang mit Diskriminierung und soziales Engagement. In diesem Jahr wird zum Beispiel eine Projektteilnehmerin, die in Syrien Zahnmedizin studiert hat, eine Informationsveranstaltung zu Kinderzahngesundheit halten. Die Inhalte werden immer simultan in die zwei häufigsten Herkunftssprachen Persisch und Arabisch übersetzt. Um auch Frauen*, die Sorgearbeit leisten müssen, die Teilnahme an den Angeboten zu ermöglichen, bieten wir zuverlässig während aller Veranstaltungen und in den Kernöffnungszeiten am Freitag eine Kinderbetreuung an.

Da hinter der Kindererziehung eine geteilte Verantwortung steht, wünschen sich einige Frauen*, dass zukünftig auch die Väter an Informationsveranstaltungen teilnehmen. Deshalb werden manche Formate themenbezogen nun auch für interessierte Männer* geöffnet.

Neben den inhaltlichen Veranstaltungen möchten wir auch kreative und empowernde Freizeitangebote als Ausgleich zum oftmals anstrengenden und teilweise belastenden Alltag schaffen. So bieten wir beispielsweise einen wöchentlichen Frauen*-Fitnesskurs an. Einmal im Monat arrangieren wir außerdem ein „Feiern unter Frauen*“ an verschiedenen Orten in der Stadt. Dieses Format wird besonders gut angenommen, da es ermöglicht, zu guter Musik ausgelassen zu tanzen und im Idealfall für wenige Stunden die Mutterrolle abzulegen. Eine Besucherin verabschiedete sich nach einer der ersten Feiern dieser Art mit den Worten: „Das war das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich wieder getanzt habe.“ Diese Rückmeldung war sehr bezeichnend und machte klar, dass es solche geschlechtssensiblen Angebote in der Stadt dringend braucht.

Da soziale Angebote und kulturelle Veranstaltungen der Stadt nahezu ausschließlich einsprachig beworben werden, ist die Zugangsschwelle zu öffentlichen Einrichtungen für diejenigen Frauen*, die die deutsche Sprache noch nicht lesen können, sehr hoch. Um diese Zugangsschwellen ein wenig abzubauen, machen wir regelmäßig gemeinsame Ausflüge und besuchen verschiedene soziale und kulturelle Einrichtungen oder Veranstaltungen in der Stadt und im Landkreis. Solche gemeinsamen Ausflüge können für Teilnehmerinnen sehr empowernd sein, da das Auftreten als Gruppe die Angst vor diskriminierenden Anfeindungen in öffentlichen Räumen mindert.

Neben dem Bestreben, verschiedene Angebote in der Stadt zu initiieren, haben wir auch ein Interesse an der Vernetzung und dem Austausch mit Migrantinnen in der ganzen Lausitz. Deshalb besuchen wir regelmäßig verschiedene Vereine und Initiativen und laden diese auch nach Görlitz ein.

Was wir uns wünschen

… ist, dass unsere Veranstaltungsformate in Zukunft auch vermehrt von Görlitzerinnen besucht werden, die keine Flucht- oder Migrationsgeschichte haben. Bislang scheinen sich nur Wenige von unseren Angeboten angesprochen zu fühlen, was sehr schade ist. Zwar möchten wir insbesondere geflüchteten Frauen* mit unserem Projekt einen geschützten Rahmen bieten, gleichwohl ist es uns ein Anliegen, Begegnungsräume für Frauen*, unabhängig ihrer zugeschriebenen sozialen Kategorien, zu schaffen.

In diesem Sinne: Falls Leserinnen unter Ihnen/euch Lust bekommen unser Projekt näher kennenzulernen – alle interessierten Frauen* sind jederzeit herzlich eingeladen, einfach mal vorbeizukommen!

Unser Café ist immer freitags von 10 – 16 Uhr im Vis à Vis auf der Bismarckstraße 19 geöffnet. Alle weiteren Informationen zu aktuellen Veranstaltungen sind auf unserer Facebook-Seite zu finden.

Aufgrund der aktuellen Lage

… können auch unsere Angebote derzeit nicht in gewohnter Form stattfinden. Die Projektteilnehmerinnen stehen trotzdem telefonisch bzw. über Messengerdienste miteinander in Kontakt und versuchen sich so gut es geht gegenseitig bei Problemen und Herausforderungen in der Isolation zu unterstützen. Einige nähen derzeit Behelfsmasken und möchten diese insbesondere älteren Bewohner*innen der Stadt zukommen lassen, um dadurch einen Beitrag in der jetzigen Situation zu leisten.

In den meisten Haushalten sind primär Frauen* für die Betreuung, Erziehung und Bildungsarbeit der Kinder, das Kochen, das Putzen, die Haushaltsorganisation und die Pflege von Familienangehörigen zuständig. Daher sind sie generell von einer gesellschaftlichen Mehrfachbelastung betroffen. In Krisenzeiten, wie der Corona-Pandemie, wird dies noch deutlicher. Durch die Schließung der Schulen und Kindertagesstätten müssen Mütter nun zusätzlich ganztags ihre Kinder betreuen und sie zu Hause unterrichten. Kinder bei den Schulaufgaben zu unterstützen, ist insbesondere für Frauen*, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist und die selbst noch nicht die Möglichkeit hatten, einen Sprachkurs zu besuchen, eine nahezu unmögliche Herausforderung. Weiterhin wird im jetzigen Anspruch an die Schüler*innen und deren Eltern nicht bedacht, dass nicht alle Familien gleichermaßen mit technischen Geräten ausgestattet sind oder derzeit darauf Zugriff haben. Durch die lange Zeit des Homeschooling ergibt sich insbesondere für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, eine Benachteiligungssituation für die weiterführende Schullaufbahn.

Ein weiteres Problem, das wir derzeit in unserer Arbeit beobachten können ist, dass wenig offizielle Nachrichten zur aktuellen Lage und den erlassenen (regionalen) Maßnahmen mehrsprachig herausgegeben werden. Viele Menschen informieren sich daher in ihren Herkunftssprachen über die sozialen Medien. So werden allerdings leider auch viele panikschürende Falschmeldungen bis hin zu Verschwörungstheorien verbreitet und es ist schwer unter den jetzigen Bedingungen hierüber ins Gespräch zu kommen.

Eine schnelle Veröffentlichung aller relevanten Nachrichten und Maßnahmen in verschiedenen Sprachen wäre daher, insbesondere in dieser Krisensituation, von offizieller Seite dringend notwendig! Denn nur so kann allen ermöglicht werden, die aktuelle Situation einschätzen und entsprechend verantwortungsvoll handeln zu können. Insbesondere für regionale Neuerungen übersetzen im Projekt nun regelmäßig eine arabische und eine persische Muttersprachlerin Informationen, die in unserer Messengergruppe geteilt werden und so hoffentlich auch darüber hinaus Menschen erreichen.

Abschließend halten wir die Formulierung aus der Bestandsaufnahme des Dachverbandes der Migrantinnenorganisationen vom 31. März 2020 für sehr treffend:

„Jede Krise verstärkt ohnehin schon bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und macht diese sichtbarer. Wir betrachten es als eine gemeinsame gesellschaftliche und politische Aufgabe, jetzt mehr denn je ein besonderes Augenmerk auf diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zu lenken, gegenzusteuern und für die Zukunft daraus zu lernen.“

Dieser Artikel ist entstanden in Zusammenarbeit mit Pauline Hoffmann, Suha Husserieh, Sofia Abdullahi und Corinna Maria Speri.

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VOM MUT, NEUE GESCHICHTEN ZU ERZÄHLEN

Weibliche Perspektiven auf die (jüdische) Geschichte der Lausitz

Als ich vor einem halben Jahr von Berlin nach Zittau zog, reagierten viele Menschen in meinem neuen Umfeld überrascht. Fast überall, wo ich mich vorstellte, wurde ich gefragt, ob ich in der Gegend Familie hätte oder einen Freund, oder ob ich „zurückgekommen“ wäre. Ich musste alles verneinen. Nach meinem Studium in der Großstadt hatte ich einfach eine vielversprechende Stelle in einer Gegend gefunden, die mich schon länger reizte. Bei einem ersten kurzen Besuch in Zittau 2013 schrieb ich in mein Reisetagebuch: „In so einer Stadt ist die Geschichte so nackt, dass man gar nicht anders kann, als sich zu fragen, wie es wohl damals hier war.“ Und nun arbeite ich in der historisch-politischen Bildung, mit einem Schwerpunkt auf jüdische Regionalgeschichte.

Die Geschichte jüdischer Menschen in der Lausitz geht bis ins späte Mittelalter zurück, und doch ist sie den allerwenigsten bekannt. In den meisten Stadt- und Regionalmuseen findet sich nichts oder nur sehr wenig dazu, ganz zu schweigen vom Unterricht in den Schulen. Hier taucht das Stichwort „jüdisch“ vielleicht für ein paar Stunden im Religions- oder Ethikunterricht auf. Im Geschichtsunterricht wird jüdisches Leben fast ausschließlich im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und dem Holocaust thematisiert. Unter jüdischer Regionalgeschichte können sich die meisten nichts vorstellen.

Stolpersteine für die Schwestern Bianka und Doris Michaelis in Zittau (Foto: Anne Kleinbauer)

Um dies zu verändern, braucht es vor allem Mut. Mut, sich mit dem hartnäckig in unserer Gesellschaft verbreiteten Antisemitismus auseinanderzusetzen (und ja, das heißt auch, die eigenen Vorstellungen und Vorurteile zu überprüfen). Mut, die Perspektive zu wechseln und die Geschichte nicht mit dem Fokus auf diejenigen zu erzählen, die sich in der Vergangenheit dazu berechtigt fühlten, Menschen anderen Glaubens oder anderer Herkunft auszugrenzen. Sondern diejenigen in den Vordergrund zu rücken, die immer wieder von Neuem anfangen mussten, sich in der Lausitz und anderswo heimisch zu fühlen. Und nicht zuletzt Mut, die eigene Geschichte selbst zu schreiben – so wie es Katrin Griebel tat, als sie begann, zu jüdischer Regionalgeschichte zu arbeiten.

Für Griebel, Anfang der neunziger Jahre von Berlin nach Zittau gekommen, gab es als studierte Philosophin hier keine Arbeit – also schuf sie sie selbst. Über eine befristete Anstellung am Stadtmuseum stellte sie die erste größere Ausstellung zur jüdischen Regionalgeschichte auf die Beine. Dazu sammelte sie unter anderem Objekte aus Zittauer Geschäften, deren Eigentümer im Nationalsozialismus verfolgt worden waren. Durch jahrelangen regen Austausch mit Angehörigen und Nachfahren der vertriebenen jüdischen Zittauer*innen sammelte sie genug Archivmaterial, um damit eine Regalwand zu füllen. Die meisten Recherchen unternahm sie auf eigene Faust und unbezahlt.

2004 begann sie schließlich im Auftrag des soziokulturellen Zentrums Hillersche Villa, Geschichtswerkstätten mit Schüler*innen durchzuführen, um sie mit den verdrängten Geschichten der Region bekannt zu machen. Ausschlaggebend dafür war die wiederholte Schändung des jüdischen Friedhofs. Immer wieder wurden Grabsteine auf dem kleinen Friedhof am Stadtrand umgeworfen, zerstört, beschmiert. Nach dem letzten derartigen Vorfall im Frühjahr 2003 stellte sich für Katrin Griebel und ihre Mitstreiter*innen der Initiative „Erinnerung und Versöhnung“ die Frage: was können wir tun, damit sich endlich etwas ändert?

Zerstörte Grabsteine auf dem Zittauer jüdischen Friedhof, 1992 (Foto: Hillersche Villa)

Die Antwort gaben die Geschichtswerkstätten: Wir müssen gemeinsam mit jungen Leuten die Geschichte der Region neu erkunden, sie anders erzählen. Solche Formate, in denen beispielsweise mit Schüler*innen Biografien zur Verlegung von Stolpersteinen rekonstruiert werden, gibt es an vielen Orten in Deutschland. Doch alle haben ein ähnliches Problem: sie sind freiwillig, und an vielen Schulen fehlt die Zeit oder das Interesse, neben dem regulären Lehrplan noch Projekte zur Lokalgeschichte durchzuführen. Deshalb verlassen noch immer viele junge Menschen die Schule, ohne zu wissen, dass es in ihrer Stadt einmal eine Synagoge gab oder noch gibt. „Jude*Jüdin“ bleibt für sie ein abstrakter Begriff, der nichts mit realen Menschen in ihrer Umgebung zu tun hat. Das Vakuum, das dabei entsteht, bietet Platz für Stereotypen oder gar Verschwörungstheorien. Vor allem der israelbezogene Antisemitismus wird seit einigen Jahren verstärkt spürbar.

Den Mut, neue Geschichten zu erzählen, oder alte Geschichten neu zu erzählen, hat auch eine junge Frau in Görlitz gefunden – allerdings für ein anderes Publikum. Lauren Leiderman ist gebürtige US-Amerikanerin und ausgebildete Opernsängerin. Sie zog Ende des vergangenen Jahres mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn nach Görlitz. In Deutschland lebt sie bereits seit sechs Jahren. Zuerst kam sie nach Dresden, um als Sängerin zu arbeiten, hatte das schnelllebige Show-Business aber bald satt. Sie ließ sich in den USA zur Englischlehrerin ausbilden, bevor sie nach Deutschland zurückkehrte. Seitdem unterrichtet sie Englisch an Volkshochschulen, in Firmen und für Privatschüler*innen.
Doch ihre wahre Leidenschaft gilt der Geschichte, wie sie bei einem unserer Skype-Gespräche erzählt: „Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert. In einem Alter, in dem meine Klassenkameradinnen alles über die Backstreet Boys wissen wollten, interessierte ich mich für die sechs Frauen von Henry Tudor.“

Ich lernte Lauren bei ihrer ersten Jewish History Walking Tour kennen, die an einem Samstag Anfang März in Görlitz stattfand. Während der englischsprachigen Stadtführung war ihre Begeisterung für das Thema geradezu ansteckend. Schon nach den ersten Stationen der Tour war ich überzeugt von ihrer Fähigkeit, in verständlicher Sprache und mit großer Anteilnahme Episoden aus den letzten sieben Jahrhunderten jüdischer Geschichte in Görlitz zu erzählen. Am besten erinnere ich mich an ihre Schilderungen zum mittelalterlichen jüdischen Badehaus, das so beliebt war, dass es schließlich auch für christliche Badegäste geöffnet wurde. So lange, bis die Görlitzer Juden*Jüdinnen 1349 in einem gewalttätigen Pogrom aus der Stadt vertrieben und ihr Besitz unter christlichen Görlitzer*innen aufgeteilt wurde.

Als wir mit der Tour an der Neuen Synagoge in der Otto-Müller-Straße und damit im frühen 20. Jahrhundert angekommen sind, wird deutlich, dass Lauren sich nicht nur um das Aufdecken einer verdrängten Vergangenheit bemüht, sondern aktiv dabei ist, wieder jüdisches Leben in die Stadt zu bringen. Gemeinsam mit vielen anderen Görlitzer*innen engagiert sich Lauren im Förderkreis der Görlitzer Synagoge. In dem 1911 erbauten architektonischen Meisterwerk finden schon lange keine Gottesdienste mehr statt. Doch nach Abschluss der Sanierungsarbeiten soll es als Kultur- und Ausstellungsraum wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. „Ich hoffe, dass zur Eröffnungsfeier viele Nachfahren derjenigen Menschen zusammenkommen, die vor dem Holocaust hier gemeinsam gefeiert und gebetet haben.“ Lauren ist das einzige Mitglied im Förderkreis mit englischer Muttersprache und hat daher die Aufgabe übernommen, die überall auf der Welt verstreuten Nachfahren der überlebenden jüdischen Görlitzer*innen zu kontaktieren. Über Internetseiten wie Facebook und MyHeritage macht sie sie ausfindig, baut eine persönliche Verbindung auf und stößt dabei auf viele weitere, noch unerzählte Geschichten.

Lauren Leiderman bei ihrer Jewish History Walking Tour in Görlitz (Foto: Anne Kleinbauer)

Die unerzählten Görlitzer Geschichten beschränken sich aber nicht nur auf dessen ehemalige jüdische Bewohner*innen. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Tessa Enright arbeitet Lauren bei Discover Görlitz an einer ganzen Bandbreite thematischer Stadtführungen auf Englisch. „Im Moment basteln wir an einer Gespenster-Tour, die wir in den Abendstunden anbieten wollen.“ Sie glaubt, dass das touristische Angebot in der Stadt noch ausbaufähig ist: „Vor Discover Görlitz gab es keine wirklich englischsprachigen Touren in Görlitz. Die Gästeführerausbildung gibt es nur auf Deutsch, dabei ist Görlitz schon längst ein Anziehungspunkt für den internationalen Tourismus.“

Die ungewöhnlichen Stadtführungen verdanken sich Laurens Überzeugung, dass die Region insgesamt ein paar neue Perspektiven gut gebrauchen könnte. „Meiner Meinung nach gibt es hier so viel Potenzial. Manchmal braucht es da einfach Menschen von außerhalb, die einen anderen Blick haben und neue Narrative mitbringen!“ Und gleichzeitig lädt sie ihre Mitmenschen selbst zu neuen Erfahrungen ein. Ihr Mann stammt aus einer jüdischen Familie, und das wird im Alltag auch gelebt. „An unserer Wohnungstür hängt eine Mesusa.1 Unsere Nachbarn hatten am Anfang keine Ahnung, was das ist und wozu es gut ist. Wir haben es ihnen erklärt und jetzt ist es für sie ganz normal.“

Ich für meinen Teil habe seit meinem Umzug in die Lausitz schon mehr Neues gelernt, als ich in einem weiteren halben Jahr in Berlin je hätte erfahren können. Der Perspektivwechsel von der Groß- in die Kleinstadt, der Austausch mit „Alteingesessenen“, Kindern und Jugendlichen aus der Region und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte haben mich viele meiner Überzeugungen überdenken lassen. Ich frage mich, ob dieses Einnehmen anderer Blickwinkel Frauen* leichter fällt, weil sie es gewohnt sind, stets mindestens zwei Perspektiven mitzudenken: die eigene und die patriarchale. In jedem Fall kann es nicht schaden, ab und zu die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Auch wenn sich dabei herausstellen sollte, dass sie viel komplexer ist, als wir manchmal glauben.

1 Eine Mesusa ist eine kleine Kapsel, die eine mit Worten aus der Tora beschriebenen Pergamentrolle beinhaltet und die traditionell an den Türen jüdischer Wohnungen angebracht wird.

Lauren Leidermann

… ist erreichbar unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder via facebook (@discovergoerlitz)

Anne Kleinbauer

… arbeitet bei der Hillerschen Villa (soziokulturelles Zentrum im Dreiländereck) im Bereich historisch-politische Bildung, mit einem Schwerpunkt auf jüdische Regionalgeschichte. Sie studierte Kunstgeschichte, Kulturwissenschaft und Historische Urbanistik in Berlin. Bei Fragen oder Interesse am Engagement gegen Antisemitismus schreiben Sie gerne an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

EINSAMKEIT IN ZEITEN VON CORONA

Vor ein paar Tagen las ich die Schlagzeile «Wer jetzt allein ist, wird es lange blieben» in einer deutschen Wochenzeitung.

Das klingt eindeutig, folgerichtig und so gar nicht erquickend. Die Schlagzeile wirft unweigerlich die Frage auf, wie wir als Gesellschaft Alleinsein und Einsamkeit während und nach der Bekämpfung von COVID-19 gestalten und leben wollen.

Ich habe in den letzten Tagen Menschen in Deutschland, England und der Schweiz zu dem Thema interviewt, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise vom Coronavirus betroffen sind. Diese Eindrücke, die ich unter anderem für mein Buch zum Thema Einsamkeit gesammelt habe, lassen sich am besten in den folgenden fünf Beobachtungen aufzeigen.

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Corona als Katalysator für Einsamkeit

Für Menschen, die vor dem Virus einsam waren, wirkt die soziale und politisch verhängte Isolation aufgrund des Coronavirus wie ein Katalysator. Sie fühlen sich jetzt noch einsamer, verlassen und von der Welt abgeschnitten. Ärzt*innen und Telefonseelsorge in verschiedenen Städten und Ländern schlagen Alarm: Menschen suchen Hilfe und Unterstützung, um diese für sie belastende und tendenziell traumatisierende Zeit zu überbrücken. Jetzt sind vergleichsweise mehr Leute physisch allein und einsam. Jetzt besteht die einmalige Chance, einen gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Einsamkeit anzustoßen. Nicht zuletzt, weil über die eigene Einsamkeit zu reden tendenziell immer noch mit einem Tabu behaftet ist. Gleichzeitig haben in den letzten Jahren verschiedene Studien und Forschungen gezeigt, wie schädlich langandauernde Einsamkeit und Isolation sein können.

Neue Einsamkeit?

Menschen, die vor dem Virus noch nicht mit Einsamkeit zu kämpfen hatten, sehen sich emotional mit einem neuen Alltag konfrontiert: kein Essen oder Feiern mehr mit Freunden oder im Familienkreis, kein spontaner Kinobesuch oder Wochenendausflug mit der Familie. Den gemeinsamen Kaffee mit der Freundin oder Nachbarin wird es erstmal so nicht mehr geben. Die Spielgruppe, die sich jeden Abend zum Kartenspiel in der Kneipe um die Ecke trifft, wird sich vielleicht bis auf den Sommer vertragen müssen. Die Großmutter, die sich auf ihr Enkelkind freut, sieht sich mit einer Realität konfrontiert, die für viele vor einigen Wochen noch nicht vorstellbar war: Soziale Kontakte werden virtuell aufrechterhalten und gepflegt. Einige von ihnen können da den sozialen Medien etwas Neues und Positives abgewinnen und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. So verabreden sich Familienmitglieder abends zu einem virtuellen gemeinsamen Essen, Liebespaare zum virtuellen Drink und Freund*innen zum Online-Kaffeeplausch tagsüber. Sich in diesen Tagen Rituale zu schaffen und bewusst Kontakte online zu pflegen, hilft Menschen, sich weniger einsam zu fühlen. Diese Strategie scheint für viele, mit denen ich gesprochen habe, emotional nur machbar in dem Wissen und der Hoffnung, dass der Ausnahmezustand zeitlich begrenzt ist.

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Resilienz durch vertrautes Alleinsein

Und dann gibt es die Menschen, die es beruflich oder privat gewohnt sind, viel allein zu sein, wie z. B. die Selbstständigen und die Alleinstehenden.

Die Menschen, die schon vor dem Coronavirus allein gelebt haben, viel Zeit allein verbracht haben und/oder sich mit ihrer eigenen Einsamkeit auseinandergesetzt haben, empfinden den momentanen Ausnahmezustand nicht unbedingt als  emotional völlig andere oder einschneidende Situation: Sie haben bewusst oder zwangsläufig gelernt, allein zu sein. Diesen Betroffenen scheint es leichter zu fallen, soziale Kontakte zu meiden bzw. sehr stark zu begrenzen und zu Hause zu bleiben. Diese Menschen haben eine gewisse Routine entwickelt und Alltagsabläufe und Rituale verinnerlicht, die es jetzt erleichtern, konstruktiv mit der Situation umzugehen. Dazu gehören Spaziergänge, regelmäßige Bewegung, Lesen, ausgewähltes Konsumieren von Nachrichten und sozialen Medien.

Für sie ist der jetzige Zustand eher eine logistische als eine emotional-mentale Herausforderung: So verlieren Selbstständige von heute auf morgen Aufträge, Reisen müssen umgeplant oder storniert werden und Freundschaften und Sozialkontakte müssen anders als bisher gepflegt werden. Diese Gruppe von Menschen, die resilient und konstruktiv mit dem Alleinsein umgeht, bedient sich eingeübter Rituale der Achtsamkeit, Selbstsorge und Kontaktpflege. Auf die Gesamtbevölkerung übertragen entspricht diese Gruppe wohl eher einer Minderheit.

Trautes Heim, Glück allein?

Dann gibt es Berufstätige, die meist mit ihren Familien leben, es aber nicht gewohnt sind, im Home-Office zu arbeiten. Und die Familien, die plötzlich auf begrenztem Raum Tag und Nacht miteinander verbringen.  Da ist die 25-jährige Studentin, die erst vor Kurzem wieder zu ihren Eltern und jüngeren Geschwistern ziehen musste: Sie hat ihren Stundenjob in einem Café verloren und beschreibt mit eindringlichen Worten, wie sehr sie sich nach selbstbestimmtem Alleinsein sehnt. «Wie lange ich das aushalte, weiß ich nicht…, aber irgendwie muss ich da halt durch».

Den Wunsch, ein wenig selbstbestimmte Zeit für sich allein zu haben und sich nicht ständig um die Bedürfnisse von anderen drehen zu müssen, äußern vor allem Frauen*. Das mag auch daran liegen, dass Frauen* – gerade in der jetzigen Zeit – sehr oft für die Care- und Familienarbeit verantwortlich sind oder sich verantwortlich fühlen.  Sich in dem aktuellen Ausnahmezustand bewusst abzugrenzen und Zeit für sich allein zu nehmen, scheint allen Befragten schwer zu fallen und auch irgendwie unangemessen, wie eine Interviewpartnerin mit dem Verweis auf die familiäre Arbeitsbelastung beschrieb. Den Familien, die seit längerem gelernt haben, bewusst auch Alleinzeit in ihren Familienalltag zu integrieren und zu leben, scheint dies auch in der aktuellen Situation leichter zu fallen. Und das scheint ganz unabhängig von der Größe des Wohnraumes zu sein.

Trautes Heim?

Unabhängig von der Größe des Wohnraumes ist auch eine andere soziale Dynamik zu beachten, die in den letzten Tagen aufhorchen lässt und nachdenklich stimmt. Die Häusliche Gewalt nimmt zu: Wenn Menschen und Familien die ganze Zeit zusammen sein müssen – wo es keinen Rückzugsort gibt und wo sich schon vor dem Virus Anspannungen und Stress  schnell in physischer Gewalt verwandelt haben. Frauenhäuser melden Alarm in diesen Tagen.  Aktuell ist noch nicht absehbar, welche Entwicklung diese physische Gewalt gegen Kinder, Frauen und Männer in Deutschland noch nehmen wird. Sehr viel spricht dafür, dass sie zunimmt, je länger der Zustand anhält.

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Glück allein?

Und dann gibt es Bevölkerungskreise und Regionen, über die diese Tage vergleichsweise wenig berichtet wird, die aber unter der Corona-Krise am meisten leiden. Sie  sind am stärksten betroffen, weil sie in physischer Distanz und Alleinsein nur begrenzt leben können und Gewalt und Gefahren aufgrund ihrer Lebenssituation ausgesetzt sind: Da sind die Familien, Sexarbeiter*innen, Stunden- und Tagelöhner*innen und Straßenkinder, die in den menschenunwürdigen Armutsvierteln von Bangladesch oder Indien leben, die dem Virus schutzlos ausgesetzt sind. Da sind die Geflüchteten auf dem griechischen Festland oder auf der Insel Lesbos, die auf engstem Raum, unter unhygienischen und menschenunwürdigen Bedingungen ausharren und vor sich hinvegetieren müssen. Da sind die Syrer*innen und Palästinenser*innen, die seit Jahren in einem Belagerungszustand leben – fernab des internationalen medialen Hypes und der Hysterie rund um Corona.  Eine Syrerin betont eine bittere Wahrheit und eine leise Hoffnung: «Corona macht uns alle gleich – egal ob reich oder arm. Und jetzt geht es euch so wie uns, und wir Syrer sind nicht mehr allein im Ausnahmezustand.»

Bei anderen Syrer*innen ist die Hoffnung gestorben, und es geht primär um das Warten auf den Tod:

„Wir sind von allen im Stich gelassen, sogar die NGOs haben das Lager verlassen. Wir können nur noch auf uns selbst vertrauen und versuchen, uns selbst zu helfen. Ganz dringend brauchen wir Mülltüten, Handschuhe und Wasser – jede erdenkliche Hilfe. Aber wir haben wenig Hoffnung. Ich kann nur für die syrischen Flüchtlinge sprechen: Wir warten hier darauf, wie wir sterben werden. Im Grunde verlangen wir nur, dass sich Menschen dafür interessieren. Wir vermissen das Mitgefühl, Emotionen. Was hier geschieht ist unmenschlich. Wenn andere jetzt zu Hause bleiben: Wir können das nicht. Ich lebe in einem Zelt, neben Tausenden Menschen auf engstem Raum. Wenn sich eine Krankheit ausbreitet, sind wir verloren.“

Wenn das Leben zwangsläufig auf das alltägliche physische Überleben reduziert ist, scheinen Fragen nach selbstbestimmtem Alleinsein und der Umgang mit schmerzhafter Einsamkeit eine Sequenz aus einem ganz anderen Film, wo Inhalt und Protagonist*innen aus einer längst vergangenen Zeit stammen.

Oder wie es die Syrerin betont, «für uns ist selbstbestimmtes Alleinsein ein Luxusproblem oder zumindest ein Privileg». Für viele Syrer*innen ist es dann auch eher ungewöhnlich, allein zu sein oder zu leben. Der enge Familienzusammenhalt wird gerade in psychisch schwierigen Zeiten als normal und selbstverständlich erachtet. Das Zusammensein mit der Familie und anderen ist der emotionale Kitt für den Einzelnen und die Gemeinschaft: «Ohne die Familie hätte ich den Krieg nicht überlebt». Einsamkeit entsteht primär dann, wenn Familienangehörige sterben und die Leere, die Trauer und das physische Alleinsein nicht durch andere Familienangehörige gefüllt oder abgemildert werden können.

Einsamkeit in Zeiten von Corona: Glück allein?

Wir alle gehen mit Alleinsein und Einsamkeit sehr unterschiedlich um. Soziale Extremsituationen, wie die soziale und politisch verordnete Isolation aufgrund des Coronavirus, bestärken gewisse soziale Zustände in unserer Gesellschaft, spitzten sie zum Teil dramatisch zu und stellen uns die Frage, ob und wie wir Solidarität und Gemeinschaft in unserem Umfeld und unserer Gesellschaft leben wollen.  Ob in Zeiten von auferlegter sozialer Isolation jede*r Einzelne von uns Alleinsein als Privileg ansehen und einen liebevollen und konstruktiven Umgang mit der eigenen Einsamkeit entwickeln kann, liegt an jedem*jeder einzelnen von uns. Sicher bietet sich die Chance für einen Perspektivenwechsel – was wir damit machen, liegt an uns.

 

Dr. Cordula Reimann

…ist Erwachsenbildnerin, Dozentin, Beraterin, Mediatorin und Coach. Cordula bietet Coaching und Weiterbildungen unter anderem zu den Themen „Einsamkeit/Alleinsein“, „Resilienz/Lebenskrisen“, „Trauma“, „Anderssein“,“ Kommunikation & Konflikt“ (auch online) für Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen an. Mehr Informationen unter www.corechange-coaching.ch

DER LADEN LÄUFT – DANK(E) FRAUEN!

Bestehende Ungleichheiten zwischen Geschlechtern werden während der Corona-Pandemie in einem besonderen Ausmaß sichtbar. Es sind mehrheitlich Frauen, die seit Wochen dafür sorgen, dass
„der Laden läuft“.

Nach Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, beträgt der Frauenanteil in sogenannten „systemrelevanten“ Berufsgruppen knapp 75 Prozent.

Der Laden läuft“, da sich Ärztinnen, Alten- und Krankenpflegerinnen im direkten Kontakt zu Mitmenschen einer einem erhöhten Übertragungsrisiko aussetzen. Verkäuferinnen und andere
Dienstleisterinnen haben trotz hohen Kundenkontakts oft nur behelfsmäßige Schutzausrüstungen im Betrieb. Lehrerinnen entwickeln im Eiltempo Methoden des digitalen Lernens, um das Recht auf
Bildung durchzusetzen und versuchen dabei unterschiedlichen sozialen und finanziellen Möglichkeiten von Familien gerecht zu werden. Sozialarbeiterinnen sorgen dafür, dass das Wohl von Kindern, die in
schwierigen familiären Verhältnissen leben, nicht aus dem Blick gerät.

Der Laden läuft“ und dabei stehen diese und andere Frauen, oft zusätzlich selbst als Mütter vor schwerwiegenden Herausforderungen, indem sie vor und nach der Arbeit oder parallel zum
Homeoffice die Beschulung und Betreuung der eigenen Kinder sicherstellen und Alternativen zur Freizeitgestaltung aus dem Boden stampfen. Andere Frauen kompensieren personelle und materielle
Engpässe des Gesundheits- und Pflegesystems, indem sie Pflegebedürftige oder Angehörige mit Behinderungen zunehmend selbst versorgen. Viele nähen ehrenamtlich Behelfsmasken, führen
seelsorgerische Gespräche am Telefon, um insbesondere alleinstehende Menschen vor sozialer Isolation zu bewahren. Sie übernehmen Einkäufe für Eltern, Großeltern und Menschen in der
Nachbarschaft. Neben der Lohnarbeit wird die stark angestiegene Sorgearbeit zur unausgesprochenen Selbstverständlichkeit.

Der Laden läuft“ und dabei verbindet diese Frauen, nicht nur die komplexe Leistung, die sie in diesen Tagen erbringen, sondern auch die meist schlechtere Bezahlung in sog. „Frauenberufen“. Außerdem
sind sie überdurchschnittlich oft in Teilzeit oder Minijobs beschäftigt. So bergen infolge von Unternehmens- und Geschäftsschließungen oder Betriebsbeeinträchtigungen entstandene
Einkommensverluste insbesondere für Frauen ein erhöhtes Armutsrisiko.

Der Laden läuft“, obwohl die Beschränkung von sozialen Kontakten, der starke Rückzug in das Häusliche, beengte Wohn- und Familienverhältnisse, Zukunftssorgen und der erschwerte Zugang zu
professionellen Hilfsangeboten familiäre Konflikte zuspitzen und häusliche Gewalt verstärken können. Dass das bestehende Hilfs- und Schutzangebot zur Zeit der Coronakrise im Landkreis Bautzen
funktioniert, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis einer langjährigen und ausdauernden Gleichstellungsarbeit vor Ort, die häusliche Gewalt nicht mehr als Privatsache erscheinen lässt.

Wir setzen uns weiter dafür ein, dass der Schutz für alle von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen, Männer und Kinder durch die Umsetzung der „Istanbul-Konvention“, welche bereits am 01. Februar
2018 in Deutschland in Kraft trat, zügig ausgebaut und mit den notwendigen personellen und materiellen Ressourcen ausgestattet wird.

Wir möchten alle ermutigen, das Gespräch darüber wie Vereinbarkeit von Beruf – Familie – Engagement für Frauen und Männer gleichermaßen gelingen kann, gerade jetzt zu suchen. Dabei
können und sollen Ideen nicht nur für den Umgang mit der aktuellen Lage entwickelt und ausprobiert, sondern neue Möglichkeiten gerade auch für die Zeit nach der Krise zur Verfügung stehen und
intensiviert werden. Hierfür braucht es viele, v. a. auch offene und unvoreingenommene Gespräche in der Familie, im Freundeskreis, im Beruflichen und auch im Politischen.

Wir fordern, dass Frauen, die zum großen Teil das gesamtgesellschaftliche Rückgrat der gegenwärtigen Krise bilden, wahre Anerkennung und Wertschätzung für ihre täglich erbrachten Leistungen und eine
angemessene Entlohnung erhalten. Debatten zur Coronakrise sowie langfristige Maßnahmen zu deren Bewältigung müssen politisch, ökonomisch und gesellschaftlich bundesweit wie kommunal unter
frauen- und gleichstellungspolitischen Aspekten geführt werden. Dafür braucht es eine nachhaltige und langfristig gesicherte Frauen- und Gleichstellungsarbeit.

Wir setzen uns seit 30 Jahren gemeinsam mit aktiven Menschen in der Stadt und dem Landkreis Bautzen für eine geschlechtergerechte, sozialverantwortliche, demokratische und gewaltfreie Gesellschaft ein.

Danke Frauen!

 

Die Stellungnahme wurde verfasst von: Intervention gegen Häusliche GewaltFraueninitiative BautzenFrauenschutzhaus Bautzen e.V. und den Gleichstellungsbeauftragten der Stadt und des Landkreises Bautzen

Unterstützerinnen der Stellungnahme sind: Landesfrauenrat Sachsen e.V.DGB OstsachsenLAG der Frauenhäuser und Interventionsstellen Sachsen, LAG der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten SachsenDGB FrauenSächsicher Landesfrauenverband e.V. – Ortsgruppe Bautzener Land und das Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz

Kontakte:

Gleichstellungsbeauftragte Landkreis Batuten

Ina Körner

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Telefon 03591 5251-87600

Gleichstellungsbeauftrage Stadt Bautzen

Andrea Spee-Keller

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Telefon 03591 534-290

BE-DEUTUNGEN, UM-DEUTUNGEN UND FLÜGE AUF DEM BESEN

Über die Tradition des Hexenverbrennens und eine andere Art, die Walpurgisnacht zu zelebrieren

Oh, wie schön ist es zu fliegen
Um zwei Uhr in der Früh’.
Um zwei Uhr in der Früh’
Oh, wie schön ist es zu fliegen!

(Liedtext von „la bruja“, Eugenia León)

Es ist der Abend zum ersten Mai. Jetzt ist es abends wieder länger hell. Endlich trifft man sich nicht nur punktuell bei der Bäckerei, sondern kommt draußen auf der Straße wieder zusammen. Auf diesen Moment haben alle gewartet! Der Frühling steht schon in der Blüte und die Sonnenwärme ist sogar auf den Nasenspitzen bemerkbar. Gemeinsam als Dorfgemeinschaft in der Sonne zusammen zu sein, das ist gesellschaftlicher Kitt für das ganze Dorf. So bunt die Lausitz im Frühling aufblüht, so divers sind auch ihre Bräuche. Jährlich finden am 30. April in zahlreichen Dörfern Feste statt, bei denen ein großes Feuer angezündet wird. Die Tradition trägt in vielen Dörfern seit Jahren den Namen „Hexenbrennen“. Es gibt Bratwurst und Bierchen von der Freiwilligen Feuerwehr und dann das Riesenfeuer. Es ist nicht irgendein Feuer, sondern eine wirklich feurige Angelegenheit. Auf den großen Holzhaufen ist oftmals eine Hexenfigur draufgesteckt. Und diese Hexe soll dann auch mit dem Feuer in Flammen aufgehen. Was hat die Hexe mit der Bratwurst und der Nacht des 30. April eigentlich zu tun?

In diesem Artikel gehen wir dem Brennen der Hexen am 30. April auf die Spur. Warum soll gerade eine Frauen*figur auf dem „Scheiterhaufen“ brennen? Was zählt ist, dass das Dorf zusammenkommt. Aber muss dafür eine Hexe angezündet werden?

Die Hexe war’s – und dafür soll sie brennen

In Göda bei Bautzen wird im theatralischen Erzählen die Hexe angeklagt und muss im Feuer büßen. „Die Hexe war‘s – und dafür soll sie brennen“ (Sachsenhits, 2011). Ich frage mich, was hat sie denn verbrochen? Ich habe nachgeforscht und bin auf viele Geschichten über den 30. April gestoßen. Zum Beispiel wurde in der nord- und mitteleuropäischen Tradition am 30. April die Heiligsprechung der heiligen Walpurga gefeiert. Und das sogar bis ins Mittelalter. Auch bekannt als Tanz in den Mai, der als moderne Feierlichkeit privat und kommerziell den 1. Mai zum arbeitsfreien Feiertag gemacht hat. Hexenbrennen, Tanz in den Mai, Walpurgisnacht oder auch Beltane zeigen uns viele Perspektiven auf, die bei dem Frühlingsfest in der Nacht vom 30. April in den 1. Mai Bedeutung haben. Einer der Bräuche besagt, dass der Gang zwischen zwei Walpurgisfeuern eine Reinigung ist. Die Wurzeln dieser Überlieferung weisen auf die Bedeutung der Walpurga hin, die an Walpurgis als Schutzheilige für Seuchen und Krankheiten angerufen wurde. Das sind doch eigentlich sehr positive Blickwinkel auf die Walpurgis, die als Hexe auf dem Feuer verbrannt werden soll!

Eine Schutzpatronin zu verbrennen, ist das nicht sogar gefährlich, wenn es diese nicht mehr gibt? Wer soll dann für den Schutz vor Krankheiten und Seuchen angerufen werden? Vor allem zu Zeiten von COVID-19?

Historiker*innen erklären, dass die Umdeutung der Bräuche auf die rigorose Christianisierung zurück geht, die dazu führte, dass die alten heidnischen Bräuche verdammt wurden. Wissenschaftler*innen haben sogar Quellen über matriarchalische Gesellschaftsstrukturen im ländlichen Brauchtum gefunden. Inwieweit werden patriarchale Strukturen reproduziert, wie zum Beispiel bei Aussagen wie „Und nun macht das Feuer an, wie stets unsere Väter es auch getan“ (Sachsenhits, 2011)? Können die Wissenschaftler*innen Antworten bezüglich der negativen Sicht auf die Schutzpatronin und auf den frauenfeindlichen Ansatz des Hexenbrennen geben?

Die Ursprünge der Walpurgisnacht der nord- und osteuropäischen Tradition sollen im Harz liegen. Aus der vorchristlichen Zeit gibt es Überlieferungen, dass in der Harzregion ein Frühlingsfest als ein Freudenfest zum Ende des Winters gefeiert wurde. Mit Verkleidung und Masken wurden die Wintergeister vertrieben. Und dazu wurde auch ein großes Feuer entfacht. Vor mehr als 1000 Jahren wurde dieses bedeutsame Fest mit der Christianisierung verändert. Der Name Walpurga, deren Leben in keinem Zusammenhang mit Hexen und dem Teufel stand, bezieht sich für die Harzer auf die heilige Walpurga, die sie zur Schutzpatronin der Seefahrt ernannten (Harzlife, 1999-2020). Also wieder die Frage, warum die Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen muss? Marie Hecht (2019) schreibt über die Legitimation in der frühen Neuzeit, in der rund 60.000 Hinrichtungen von sogenannten Frauen* mit Kräuterwissen allein im europäischen Raum stattgefunden haben. Bereits in den 70er Jahren versuchte die Frauenbewegung den Begriff „Hexe“ wieder positiv zu besetzten. Wie kann dem Anliegen symbolischer Hinrichtungen im Rahmen des „Hexenbrennens“ Gehör vermacht werden?

Hauptschurkin war die ungehorsame Ehefrau

Vandana Shiva (2010:21) benennt die Hexenverfolgung als ein Auslöschen von medizinischem Wissen über das Frauen* verfügt haben. Neben der Überlieferung, Walpurgis der Schutzpatronin, ist der 30. April als Beltane (Fruchtbarkeitsfest) zum Sommeranfang in Irland bekannt. Der Winter wird endgültig verabschiedet und auf den Feldern sprießt es schon oder es wird fleißig gesät. Beltane ist das Fest der Lebensfreude und der Fruchtbarkeit, das dafür sorgt, dass das Leben weiter bestehen kann. Wenn wir weiter forschen, wird das Fruchtbarkeitsfest auch als Geschlechtsakt der Natur beschrieben. Es ist regelrecht beobachtbar wie die Blüten und Blätter aus den Knospen explodieren. Der Geschlechtsakt wurde unter den Einflüssen der katholischen Kirche, zumindest vor der Ehe, als Sünde, also als etwas Verbotenes deklariert – und bis heute werden Frauen* dafür verurteilt, wenn sie eine Abtreibung vornehmen möchten. Wenn ein Rezept mit dem Kräuterwissen der Hebammen zur Abtreibung gemischt wurde, dann führte dies zur Todesstrafe. Hier griff das römische Recht der katholischen Kirche. Bis heute besteht der feministische Kampf darin, dass jede Frau* ein Recht hat, über den eigenen Körper zu entscheiden. #MyBodyMyChoice weist darauf hin, dass jede Frau* selbst entscheiden kann, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch aus welchen Gründen auch immer vornimmt. Schon der Slogan der feministischen Kämpfe in den 70er Jahren «Wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet» spricht von der Kritik an patriarchalen Strukturen. Die Domestizierung der Frauen* in Europa im 16. und 17. Jahrhundert führte zur Abwertung der Frau* als Arbeitskraft und ihre Autonomie gegenüber den Männern wurde abgeschlagen.

„Frauen wurden beschuldigt, unvernünftig, eitel, wild und verschwenderisch zu sein. In besonderem Maße kritisiert wurde die weibliche Zunge, das Instrument der Aufsässigkeit. Die Hauptschurkin war jedoch die ungehorsame Ehefrau“ (Frederici, 2015:129). Hier finden wir Erklärungen für die Abnahme der Frauenrechte im privaten und öffentlichen Raum und Verurteilungen Frauen* gegenüber. Silvia Frederici beschreibt in ihrem Buch „Caliban und die Hexe“ (2015), weshalb die Körperpolitik grundlegend für eine positive Aufwertung des weiblichen Körpers ist. Für den Aufbau der kapitalistischen Gesellschaft steht die Förderung des Bevölkerungswachstums als Reproduktion von Arbeitskräften im Vordergrund. Daraus erklärt sich, warum sich der Frauen*körper als Reproduktionsmaschine und zur Domestizierung angeeignet wurde. In einer Gesellschaft, in der Frauen* die sozialen Drähte zusammenhalten, gehört aufgrund dieser historischen Verflechtungen zu der Entscheidung für sich selbst wirklich viel Mut. Bis heute funktioniert das Vorurteil, dass Hexen böse sind – ein Bild, das bis heute fortwirkt und selbstbewusste und wissende Frauen* negativ darstellt. Dies unterstützt die bisher patriarchale Machtstellung in der Gesellschaft. Und umso komplexer sind die Memorien, Verstrickungen und ja, auch Verurteilungen, wenn eine Hexenfigur, eine Hebamme, eine Walpurga an Beltane einfach auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll.

Ein Dorf in der Lausitz verarbeitet dieses Thema besonders kreativ

In Großhennersdorf trägt das lebensfrohe Spektakel am 30. April den Namen „Walpurgis“. Dort gibt es ein magisches Kinder- und Familienprogramm mit Hexenküche. Initiiert wurde diese besondere, mittlerweile schon seit mehr als 25 Jahren gefeierte Tradition von Mechthild Roth, der Leiterin der Theaterpädagogischen Werkstatt des soziokulturellen Vereins Hillersche Villa e. V. in Zittau. Mechthild erzählt mir über die feurigen Walpurgis-Feierlichkeiten in Großhennersdorf.

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Um 17.17 Uhr werden in Großhennersdorf auf besondere Art und Weise die Besen geschwungen. Gemeinsam mit einer Gruppe von Ehrenamtlichen wurde für den 30. April alles geplant, vorbereitet und mit der freiwilligen Feuerwehr und dem Karnevalsclub koordiniert. Anliegen in Großhennersdorf ist es, am 30. April keine Hexe zu verbrennen. Mechthild ist damit vor 25 Jahren an die Feuerwehr herangetreten. Und sie konnten sich gemeinsam darauf einigen, den Themen rund um „Hexen“ Sichtbarkeit zu geben. In Großhennersdorf werden Bratwürste und Bier verkauft, ohne dass eine Hexe aufgrund eines Urteils auf den Scheiterhaufen kommt. Das erwarten die Menschen, die hier zum Fest kommen, auch gar nicht. Die Besucher*innen kommen auf unterschiedlichen Wegen zum bunten Mitmach-Angebot für Groß und Klein. Geboten sind vielfältige Attraktionen wie Schminken und Kostümgestaltung. Friseurinnen vom örtlichen Salon Dutschke sorgen für ausgefallene Frisuren. Verkleiden mit einem selbst gestalteten Kostüm gehört zum feurigen Fest, sowie Musik der “Saltarello“ Frauen*band. Nicht zu vergessen ist das Bauen von Krachinstrumenten für den Umzug und die Hexenküche. Auch kreatives Handarbeiten wie Filzen und Figurenbau dürfen nicht fehlen. Wer will, kann sich seinen eigenen Besen binden und damit im Hexenparcours das Fliegen trainieren.

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Sonst wäre das mit dem Hexenfeeling nur halb so wahrhaftig. Höhepunkt ist die zuvor einstudierte Performance. Zu guter Letzt wird von der freiwilligen Feuerwehr ein wunderschönes großes Feuer entfacht. Karnevalsclub und Sportverein beteiligen sich mit Tanzeinlagen und helfen tatkräftig beim Getränkeverkauf. Senior*innen aus dem Ort verwöhnen die Gäste mit Selbstgebackenem. Hier verdient eigentlich niemensch Geld. Im Mittelpunkt steht die Beteiligung. Es geht darum, als Dorf ein Event gemeinsam zu gestalten. Diese besondere Art und Weise, die Walpurgisnacht zu feiern, ist einmalig in der Lausitz. Und das verspricht einen großen Zulauf. Die Rauchzeichen wurden vernommen und ja, es hat sich herumgesprochen. Das Hexenfest in Großhennersdorf ist etwas Besonderes und hebt sich von den üblichen Festen ab. Vor allem das Programm, welches von einem eingespielten Team im Detail ausgetüftelt und vorbereitet wird, hat sich bewährt. Zielgruppe ist die ganze Familie!

Hier zählen ein kreativer Geist und die Motivation der Besucher*innen. Schließlich ist die Vorbereitung auf ehrenamtlicher Basis, neben Beruf, Kinderbetreuung, Haushalt etc. ein großer Aufwand. Das Team besteht zufälligerweise nur aus Frauen*. Oder gibt es keine Zufälle? Das weiß vielleicht nur die Walpurga…

Auf jeden Fall ist es viel und unbezahlte Arbeit von Personen, die als Care-Arbeit meistens sowieso unbezahlt von Müttern und Frauen* geleistet wird. Mechthild erzählt: „Als wir damals angefangen haben war es überhaupt nicht üblich, dass am 30. April was gemacht wird. Wir – ein paar Frauen* und Mütter – hatten einfach Lust, was Verrücktes zu machen. Ein wildes chaotisches Fest zu feiern. Wir haben nicht viel nachgedacht, wir haben einfach gemacht!“ Und was die Frauen* vor über zwanzig Jahren geschaffen haben, hat heute mit der grundlegenden wichtigen Umdeutung des Verbrennens von Hexen zu tun. Bier und Bratwurst (mittlerweile auch beliebte, vegetarische Grillspieße) als Einnahmequelle bleiben bestehen. Und gleichzeitig wurde das Gedenken an Walpurga mit einer ganz neuen Metapher gefüllt. Hier wird die Initiative der Frauen* sichtbar. Eine grundlegende kulturelle Arbeit für die Region gewinnt an Bedeutung! Das Hexenfest in Großhennersdorf für Groß und Klein, das ist also ganz fein.

Ob das Zurückbesinnen auf die Bedeutung des 30. April wohl weitere Vereine und Dörfer zu einem neuen Umgang mit ihren Traditionen inspiriert? Vielleicht werden die Feuer Walpurga zukünftig ehren und neue, kreative Möglichkeiten des Zusammenlebens in der Dorfgemeinschaft geschaffen – von Frauen*, Männern und auch Menschen diverser Geschlechter. Vielleicht gemeinsam mit ein paar Hexen, die womöglich in der Lausitz unterwegs sind?

Quellenangaben:

Frederici, Silvia (2015)

Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Mandelbaum, Budapest.

Harzlife. (1999-2020)

Walpurgisnacht. Geschichte und Hintergrundwissen.

https://www.harzlife.de/event/walpurgis-info.html

Hecht, Marie (2019)

Wer hat die Macht. Am Donnerstag ist Halloween. Eine Suche nach den Hexen unserer Zeit.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1127898.halloween-wer-hat-die-macht.html

Leon, Eugenia (2015)

„La Bruja“

https://www.youtube.com/watch?v=IEkbsgcoys4

Sachsenhits, Filmproduktion & Medienverlag , Niesky

www.sachsenhits.com Kanal: Bautzen entdecken (2011)

https://www.youtube.com/watch?v=FRlmUA-cLS8

Shiva, Vandana (2010)

Staying Alive. QOman, Ecology and Survival in India. Woman Unlimited. Neu Delhi.

Liviana Bath

… ist Sozial- und Kulturanthropologin und studierte im M.A. Genderstudies. Sie lebt zwischen dem Dreiländereck (PL, CZ und D) in Zittau und in Berlin. Als Referentin der machtkritischen Bildungsarbeit, Theaterpädagogin und Autorin arbeitet sie seit vielen Jahren in Lanteinamerika und Europaweit.

GLANZ OHNE GOLD

Ein Buch mit Geschichten von Frauen aus dem Land Brandenburg

Über Geld spricht Mann nicht?

Wir schon. Die Idee zu diesem Buch entstand, als sich Frauen aus dem Management dreier Verbände, dem Brandenburger Landfrauenverband (BLV), dem Arbeitslosenverband (ALV) und dem Demokratischen Frauenbund, Landesverband Brandenburg (dfb) trafen und gemeinsam überlegten, wie frau das Thema »Armut« in Brandenburg angehen könnte. Wir wollten es nicht abstrakt in Zahlen haben. Wir wollten auch nicht jammern oder auf Schuldige zeigen. Wir wissen, dass in Brandenburg viele starke Frauen leben, die es nicht leicht hatten und haben, aber die sich trotz der schweren Bedingungen nicht unterkriegen lassen. Sie finden sich in unseren Verbänden. Ihnen geben wir mit diesem Buch eine Stimme.

Das Projekt, in dem das Buch entstand, heißt folgerichtig:

»Wir brechen das Schweigen. Brandenburger Frauen sprechen über Armut.«

© Lisa Smith

Fünfzehn Frauen – 5 Frauen aus jedem Verband – quer durch Brandenburg erzählten uns ihre Geschichten. Sie handeln von ihrem Leben in der DDR und nach der Wende sowie von ihrem Widerstand gegen die vielfältigen Armutsprobleme heute aber auch von ihren Erfolgen. Wir nennen sie unsere »Geschichtengeberinnen«. Sie leben in Prenzlau, Wittenberg und Neuruppin, in Strausberg und Beeskow, in Spremberg und vielen weiteren schönen Ortschaften quer durch das Land. Den Geschichtengeberinnen gilt unsere größte Anerkennung. Wir danken ihnen aus tiefstem Herzen. Ohne die Förderung der Landesgleichstellungsbeauftragten Monika von der Lippe wäre dieses Buch jedoch nicht zustande gekommen. Ihr gilt deshalb ebenfalls unser herzlicher Dank.

Nachdem die Geschichten erzählt und transkribiert waren, setzten wir uns in einem Team zu viert immer wieder zusammen, entwickelten die Texte in unterschiedlichen Erzählformen, entwarfen die Bilder und gestalteten Satz und Layout. Dabei ist mehr als nur die Aneinanderreihung von Geschichten entstanden und das spürten unsere ersten Zuhörerinnen in den Lesungen, die wir noch vor dem Shutdown wegen der Coronakrise halten konnten. Wir können es kaum erwarten, wieder in die Welt zu ziehen und den Geschichten Flügel zu schenken.

© Lisa Smith

Wenn Sie glauben, dass Sie im Buch jammervolle Geschichten über Armut oder statistisch genaue Biografien finden, können wir Sie diesbezüglich beruhigen. Wenn Sie aber glauben, es kommen wilde Krimis, Märchen, Abenteuer und Fabeln von Ritterinnen, Löwinnen, Truckfahrerinnen und Gazellen oder gar ein Theaterstück – dann liegen Sie genau richtig! Jede unserer Geschichtenerzählerinnen durfte sich ein Genre aussuchen und so haben wir ihre Biografien in vielfältige spannende und fantasievolle Formate gegossen. Nun stehen in unserem Buch: drei Kriminalfälle, drei Abenteuer, ein Theaterstück, ein Essay, eine Erzählung, ein Brief, eine Utopie und zwei Fabeln. Entdecken Sie sich selbst, gestatten Sie sich die passende Portion Wut über die Situationen der Frauen und staunen Sie über die Kraft, die sich in jeder Geschichte findet.

Mit unserem Buch werden wir also, sobald es geht, wieder unterwegs sein und mit Menschen ins Gespräch kommen, die ähnliche Geschichten haben und die unter den Folgen und Erscheinungen von Armut leiden. Gemeinsam diskutieren wir über Wege aus der Armut, über Gerechtigkeit, Gemeinschaft und über gesellschaftliche Notwendigkeiten. Wir werden uns mit den Geschichten unserer starken Frauen den Mut machen, Dinge zu bewegen, die dem guten Leben aller dienlich sind. Freuen Sie sich auf Lesungen vor Ort!

Kontakt und Ansprechpartnerin:
Nadja Cirulies (Projektleitung) per E-Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Logo Verbundprojekt

Tarnkappen für Powerfrauen

Sitzen schon wieder nur Männer auf dem Podium?

Vielleicht täte es eine Tarnkappe, um eingeladen zu werden?

Liebe Powerfrauen, versteckt Euch nicht. Bitte bleibt wie ihr seid!

Bild: Sabine Euler | https://www.sabine-euler.de

BACK TO THE LAUSITZ

Wie war es für Euch, in die Lausitz zurück zu kommen?

Was gefällt Euch hier gut?

Und was ist so richtig blöd?

Was würdet ihr gern ändern?

Sabine Euler schildert uns in ihrer Karikatur, wie es sich manchmal anfühlen kann, als junge, gut ausgebildete Frau in die Oberlausitz zurückzukehren.

Was ist Eure Meinung?

Schreibt uns an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder auf Facebook an https://www.facebook.com/FwieKraft/

JETZT VERFÜGBAR: „FRAUEN ALS WIRTSCHAFTSFAKTOR FÜR DIE LAUSITZ“

Endlich ist es so weit: Unser Statuspapier „Frauen als Wirtschaftsfaktor für die Lausitz – Perspektiven von Frauen auf den Strukturwandel in der Lausitz“ ist jetzt veröffentlicht.

F wie Kraft beschäftigt sich seit 2016 mit weiblichen Gestaltungspotentialen in der Lausitz und fördert den beachtlichen Wissensschatz der Lausitzer Frauen zutage. Deutlich sichtbar wurde dabei immer wieder der Wunsch von Frauen, in der Region zu bleiben. Frauen sind die soziale Gruppe in der Lausitz, die alle Bereiche regionaler Entwicklung thematisieren und sie nicht nach „Ressorts“ voneinander abkoppeln. Sie machen Schnittstellen sichtbar, die für die Entwicklung der Lebens-und Arbeitsqualität dieser Region nützlich sind. Fragt man die Frauen in der Lausitz, so finden sich zahllose Beispiele für Ideen, Initiativen und Zukunftsperspektiven, die sie in der Lausitz angehen und thematisieren. Frauen in der Lausitz gehen mit gutem Beispiel voran und versuchen, dem drohenden „Verfall der Region“ und der damit einhergehenden Melancholie, Resignation und Ratlosigkeit etwas Kreatives und Sinnstiftendes entgegenzusetzen.

Die Lausitz befindet sich seit Jahrzehnten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Dieser umfasst alle gesellschaftlichen Bereiche von der Wirtschaft, den Siedlungs-und Sozialstrukturen über die Verwaltung und Politik bis zu den Kulturen und Identitäten der Bewohner*innen. Dabei steht die Lausitz ohnehin schon vor erheblichen Problemen, bspw. die hohe Abwanderungsrate gut ausgebildeter Frauen. Ursachen für diese Problematik sind u. a. in der vorherrschenden industriellen Wirtschaftsstruktur zu finden. Diese spiegelt sich auch in den aktuellen Debatten zum Strukturwandel in der Lausitz wieder, welche sich vor allem auf den Wegfall und Ersatz von Jobs in vorrangig männerdominierte Berufsfelder und Arbeitsmarktsektoren. Die Diskussion zum Strukturwandel konzentriert sich auf industrienahe Themen und vernachlässigt Forschungs-und Entwicklungsfragen, die das breite Spektrum regionaler Bedarfe und Möglichkeiten adressieren. Wir begreifen den Strukturwandel vielmehr als Chance, nicht nur neue Perspektiven für die Beschäftigten im Braunkohle-Sektor zu entwickeln, sondern auch den multidimensionalen, wirtschaftlich-sozialen und infrastrukturellen Problemen zu begegnen, vor welchen die Lausitz steht.

Gemeinsam mit den Frauen in der Lausitz wollen wir die wirtschaftlichen, soziogeographischen und soziodemographischen Verschiebungen und weitgreifenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen mit nachhaltiger und geschlechtersensibler Perspektive gestalten. Zugespitzt resümieren wir: Die Krise der industriellen Männerberufe und der (geschlechterunsymmetrischen) Abwanderung und die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft können nicht allein von Männern gelöst werden. Es mangelt an Aufmerksamkeit für (traditionell) weibliche Themen-und Tätigkeitsfelder, wie der Pflegebranche, dem Kultur-und Bildungssektor sowie auf zivilgesellschaftliche, regionalspezifische und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Themenfelder. F wie Kraft möchte Mut machen, Aktivitäten von Frauen aufzuspüren, zu unterstützen und ihnen Verantwortung im Strukturwandel zu übertragen.

Macht Euch dieser Auszug Lust, mehr zu unseren Erfahrungen, Thesen und Empfehlungen zu lesen?

Unser Statuspapier ist jetzt online verfügbar: Zusammen mit vielen weiteren spannenden Studien, Projektskizzen und Broschüren auf den Seiten der Zukunftswerkstatt Lausitz oder direkt zum Downloaden.

Habt ihr Fragen zum Papier? Möchtet ihr mit uns darüber diskutieren? Habt ihr Lust, Euch gemeinsam mit uns für mehr Frauenpower im Strukturwandel einzusetzen? Dann schreibt uns an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.! Wir freuen uns auf Eure Ideen und Perspektiven!

AUFMERKSAM HINSCHAUEN UND HINHÖREN

Vor mehr als einem Jahr haben zwei Frauen im Landkreis Görlitz gesagt:

Jetzt reicht´s!

Es braucht für die Arbeit zum Thema sexualisierte Gewalt und die Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung eine höhere Sichtbarkeit. Gesagt – getan. Diana Mehmel und Antje Schulz gründeten mit weiteren engagierten Menschen am 25.03.2019 den Verein Trude e.V. – Verein gegen sexualisierte Gewalt und für sexuelle Selbstbestimmung. Trude e.V. erhielt in einer unglaublichen Geschwindigkeit die Eintragung ins Registergericht, den Freistellungsbescheid vom Finanzamt und die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe im Landkreis Görlitz. Für die Akteur*innen auch ein Beweis dafür, dass Unterstützung da ist.

Ein Rückblick

Diana Mehmel und Antje Schulz sind schon seit vielen Jahren im Landkreis Görlitz unterwegs. Sie veranstalteten unzählige sexualpädagogische und resilienzstärkende Projekte für Kinder und Jugendliche, berieten Fachkräfte in Verdachtsfällen sexueller Grenzverletzungen jeglicher Art, waren Ansprechpersonen für Betroffene sexualisierter Gewalt und gaben Eltern Auskunft über sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Nachfrage nach diesen Angeboten stieg stetig und sprengte den Rahmen ihres eigentlichen Arbeitsfeldes. Die Entscheidung, ihren gemeinsamen Arbeitsplatz zu verlassen und sich ausschließlich den Themen Verringerung sexualisierter Gewalt und Stärkung sexueller Selbstbestimmung zuzuwenden, war wohlüberlegt. Anträge für ein Modellprojekt der Bundeskoordinierung für spezialisierte Fachberatungsstellen (BKSF) und beim Landkreis Görlitz waren gestellt. Es zeigte sich bald, dass für 2020 keine Fördermittel für Trude e.V. zur Verfügung stehen würden und der Verein stellte sich mit seinem Vorstand auf ehrenamtliches Arbeiten ein.

Die Heilpädagogin und Systemische Therapeutin Diana Mehmel und die Sozial-  und Sexualpädagogin Antje Schulz engagieren sich als ehrenamtlich Mitarbeitende in allen relevanten Gremien und Netzwerken der Region und in der sachsenweit agierenden LAG „Prävention und Intervention Sexualisierter Gewalt“. Der Verein ist Mitglied der Vollversammlung der BKSF und des Jugendrings Oberlausitz e.V.

Was will Trude e.V.?

Der Verein setzt sich dafür ein, dass sexualisierte Gewalt sowohl als Thema in einzelnen Einrichtungen, als auch als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt und sichtbar gemacht wird. Die Komplexität sexualisierter Gewalt erfordert als mutigen ersten Schritt ein HINschauen und ein HINhören. Es braucht Wissen über Täter*innenstrategien und über den Umgang mit vermuteter und bestätigter sexualisierter Gewalt. Besonders Fachkräfte und Eltern haben sich in den letzten Jahren Bildungsangebote dazu abgeholt. Für die Mitarbeitenden ist es dabei selbstverständlich sich ebenso für die Prävention sexualisierter Gewalt einzusetzen. Sexualpädagogische altersentsprechende und themenangepasste Angebote besonders für Kinder und Jugendliche stehen hier im Mittelpunkt. Grundsätzlich gehören alle Formen und Angebote der sexuellen Bildung für Trude e.V. zur wichtigen präventiven Arbeit gegen sexualisierte Gewalt. Das sind bspw. persönlichkeitsstärkende Projekte für Kitakinder, sexualpädagogische Projekte an Grundschulen, Förderschulen und weiterführenden Schulen. Auch offene Gesprächsrunden in Kinder- und Jugendtreffs und Wohngruppen sind Möglichkeiten, die Themen der Zielgruppen aufzugreifen. Hier kann die Chance wahrgenommen werden, direkt in der Arbeit mit jungen Menschen die sexuelle Selbstbestimmung zu fördern. Im Fokus steht dabei immer, Kinder und Jugendliche über ihre Rechte aufzuklären, auch gegenüber Erwachsenen.

Sexuelle Grenzverletzungen, Übergriffe und Gewalt passieren in den unterschiedlichsten Formen jeden Tag und überall. Noch immer, und das liegt in der Natur sexualisierter Gewalt, wird fast gar nicht darüber gesprochen.

Zu oft haben Diana Mehmel und Antje Schulz gehört: „Das gibt´s bei uns nicht“. Von den Aussagen betroffener Menschen haben wir gelernt, welche Angebote und Bedingungen gebraucht werden, damit sich ein Kind, was sexualisierte Gewalt erfahren muss oder musste, öffnen kann. Das und andere wichtige Aspekte der Arbeit möchte Trude e.V. mit anderen teilen. Die Mitarbeitenden, die Vorstandsmenschen und die Mitglieder werden dies immer wieder und auch ungefragt tun.

Sexualisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe und sexuelle Grenzverletzungen zeigen sich in verschiedensten Formen. Das können Blicke sein, Worte (auch in digitalen Medien) und körperliche Gewalttätigkeit – um nur einige zu nennen.

Von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen erhalten bei Trude e.V. kostenfreie Beratung.

Weitere Angebote, wie beispielsweise Projekte für Kinder und Jugendliche, Fachberatungen und Elternabende sind mit Kosten verbunden. Inhalte und Umfang können vorabgesprochen und gemeinsam geplant werden.

Die ehrenamtlichen Akteur*innen arbeiten zur Zeit intensiv an der Antragstellung für weitere Fördermittel und hoffen damit, Trude e.V. mit ihren Angeboten als feste Größe im Landkreis Görlitz und darüber hinaus zu etablieren.

Im Moment bietet Trude e.V. telefonische und digitale Kontaktaufnahme und Beratung an.

Trude e.V. freut sich über interessierte Menschen, die mit uns in Kontakt kommen wollen, Verständnisfragen haben oder sich als Mitglied engagieren wollen.

Für mehr Informationen kann gern unsere Internetseite genutzt werden:

www.trude-im-internet.de.

Für jegliche Anfragen zum Verein, zu Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt, Fachfragen und Beratungswünschen erreichen Sie die Ansprechpersonen wie folgt:

Diana Mehmel (Dipl.Heilpädagogin, Systemische Familientherapeutin, Traumapädagogin i.A.)

Email:     Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Tel.         0152 24260349 (dienstags  9 – 13 Uhr)

Antje Schulz (Dipl. Sozialpädagogin, Sexualpädagogin, Systemische Beraterin)

Email.     Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Tel.         0176 66210787 (donnerstags  13 – 17 Uhr)

DIE STILLE REVOLUTION

Ich suche Frauen, die gerne für Frauen etwas bewegen möchten, die sich in den weit gefassten Begriff der „Frauenarbeit“ einbringen möchten. Was dieser Begriff für mich bedeutet, möchte ich hier gerne für den Anfang kurz aufzählen. Ich möchte das Selbstwertgefühl von Frauen stärken; die innere Heilerin wieder aktivieren; Frauen helfen, für sich selbst zu sorgen und wieder Verantwortung für sich selbst zu übernehmen; eine Rückverbindung zu den Ahninnen schaffen; Frauen ihren Körper wieder nahe bringen; die eigene Potenz wieder wahrnehmbar machen; Frauen ihre eigenen Bedürfnisse bewusst machen; Aufklärungsarbeit auf allen Ebenen leisten (auch und gerade für junge Mädchen): Körperlich – dein Segen Menstruation. Emotional – Gefühle wieder spüren und zulassen zu lernen. Geistig – Heilung durch das Erkennen der Eigenmacht. Seelisch – Rückverbindung zu den eigenen Wurzeln und zu jahrtausendealter weiblicher Kultur.

Um das zu erreichen, möchte ich eine Institution aufbauen – ein Zentrum für weibliche Kultur und Spiritualität, wo all das Platz hat und verwirklicht werden kann.

Gerne möchte ich mich nun vorstellen:

Mein Name ist Elisabeth Noack, schon frühzeitig habe ich mich für Heilkunde interessiert, auch wenn mein erster und zweiter Bildungsweg mich in andere Richtungen führten. Auf meinen Reisen wurde dann durch zahlreiche Kontakte und Erfahrungen der Wunsch in mir wieder stärker, mich nun endlich auf die Suche zu machen, nach dem was uns heilt und ganz macht. So begann ich meine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Der Grund, warum ich mich im Anschluss der Frauenheilkunde (mit Schwerpunkt auf der Bearbeitung innerer Themen) verschrieb, hängt mit meiner eigenen Geschichte zusammen.

Als mein Zyklus vor vielen Jahren einsetzte, hatte ich – wie die meisten jungen Mädchen damals und leider auch heute noch – nicht wirklich eine Ahnung davon, was da genau passierte. Ich bin zwar aufgeklärt worden und wusste zumindest, was körperlich geschah, doch das Mysterium um das weibliche Blut lag für mich vollkommen im Dunkeln. Meine Mutter hätte es mir erzählt, hätte sie es selbst gewusst. Ich verstand nicht, was passierte, empfand mich als unpässlich in einer Welt, in der nur Leistung zählt und lehnte mein Blut als abstoßend und störend ab, soweit, dass mein Zyklus fast zum Stillstand kam. Es kam mir nicht ungelegen, ich kam viel herum und fühlte mich durch meinen meist abwesenden Zyklus frei und ungebunden.

Nach vielen Jahren der „Sorgenfreiheit“ hatte ich aber immer mehr das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlt, dass ich in meinem Selbst nicht „ganz“ bin. Eine Frauenärztin legte mir dann einmal ans Herz, dass, wenn ich doch mal Kinder haben wöllte, ein regelmäßiger Zyklus wichtig ist. Aus meiner heutigen Perspektive betrachtet, ist die Menstruation nicht nur für Kinderwunsch wichtig, sondern als Lehrmeisterin für das komplette Frau-Sein geradezu essentiell! Ich machte mich auf die Suche nach meiner Weiblichkeit, die ich bisher weder verstanden noch überhaupt wahrgenommen hatte – ich war der Meinung, dass „Brüste und eine Gebärmutter“ ausreichten, sich als Frau zu definieren. Durch meine Suche wurde mir bewusst, dass, wenn ich Weiblichkeit in all ihrer Komplexität verstehen und ich mich in meinem Körper zu Hause fühlen wollte, die Menstruation der Schlüssel zu diesem Raum war.

Seit dem ersten Buch zu diesem Thema („Das Schwarzmondtabu“ von Jutta Voss, ein schmerzhaftes und aufrüttelndes, aber auch sehr kraftvolles Buch) sind viele Jahre vergangen und mir fiel auf, dass, je tiefer ich in diesen roten Strom eintauchte, umso größer seine Dimensionen wurden, umso mehr wuchs er zu einem Ozean an Wissen, Bewusstsein und weiblicher Identität.

Dieses Wissen darf uns nicht mehr fehlen. In einer Zukunft, die ich mir vorstelle, kennen junge Frauen die Vorgänge ihres Körpers, sie sind vorbereitet, wenn die Menarche einsetzt. Sie lehnen sich nicht ab, sondern schöpfen aus ihrem Sein ihre volle Kraft. Sie lieben ihren Körper, ihren Zyklus und sie fühlen sich verbunden mit allem was ist. Frauen sind sich wieder ihrer wundervollen, wilden Weiblichkeit bewusst und leben frei. Sie unterstützen sich gegenseitig und stärken ihre Gemeinschaft und ihr Umfeld, weil sie aus ihrer Mitte heraus agieren, weil sie im Gleichgewicht sind.

Uns Frauen wurde jahrhundertlang gesagt, wir seien nur für Andere da. Doch es beginnt immer am eigenen Mittelpunkt. Wenn innen keine Liebe ist, kann sie nicht nach Außen strahlen. Nur wenn ich mich selbst tragen kann, ist auch Kraft für Andere da. Und dieser Mittelpunkt, der so lange vernachlässigt wurde, sitzt genau in unserem Schoß. Der rote Faden führt zurück ins Labyrinth und sagt uns jeden Monat neu, wohin die Reise gehen muss, damit Heilung stattfinden kann – Heilung für uns selbst und auch für die Welt.

Diese Reise nenne ich die stille Revolution, eine Revolution von innen heraus. In meinen Augen ist sie die einzige, welche das bestehende System nachhaltig verändern kann und wird. Jede Frau, die ihre Kraft kennt, wird Verantwortung für sich selbst und das Außen übernehmen, was unserer patriarchalischen Welt nur guttun kann. Jede Frau, die Gewalttaten gegen sich nicht mehr duldet und anzeigt, verleiht anderen Opfern Mut und eine Stimme. Jede Frau, die sich selbst die Liebe gibt, nach der sie sich sehnt, bringt auch ihre Umwelt zum Strahlen. Jede Frau, die ganz bei sich ist, ihrer inneren Stimme vertraut und ihr Selbst lebt, schlägt Wellen. Jede Frau, die verbunden ist mit ihren Wurzeln und ihrer eigenen Spiritualität, ist ohne Angst und damit unaufhaltsam. Das geht von jeder Einzelnen aus und wird dadurch allumfassend.

Dieses Thema ist essentiell, nicht nur auf individueller und gemeinschaftlich weiblicher, sondern auf globaler Ebene. Und das macht es auch zu einem politischen Thema.

Eine Sache ist mir dabei noch wichtig. Mir geht es nicht darum, Männer abzuwerten oder ein Feindbild aus ihnen zu machen, mir geht es auch nicht um Gleichstellung, denn wir sind nicht gleich. Meine Arbeit ist nicht gegen Männer gerichtet, sondern einfach nur für Frauen. Der heutige Mann agiert nicht männlich, sondern patriarchal und diese Rolle hat auch ihn tief verletzt und geschädigt. Bei vielen setzt bereits eine Rückbesinnung auf andere Werte ein. Doch dies voranzutreiben und diese Wunden zu heilen ist weder mein Weg noch meine Aufgabe.

Wir Frauen sind es, die in den letzten Jahrhunderten sowohl körperlich als auch seelisch viel gelitten und ertragen haben und um zu überleben, uns selbst verleugnen und aufgeben mussten. Das ist der Grund, warum Frauen bei mir an erster Stelle stehen.

Und damit zurück zu meinem Anliegen:

Ich möchte einen Ort für Frauen entstehen lassen, ein Zentrum von Frauen für Frauen, wo genau das gelebt und gestaltet werden soll, was meiner Meinung nach Weiblichkeit ausmacht: Verbindung und Austausch, Kreativität, Gemeinschaft und Lernen, Frauenmagie, Genuss und Sinnlichkeit, Festlichkeiten und vieles mehr – einen Ort um sich selbst als weibliches Wesen neu oder wieder zu entdecken und wahrzunehmen. Ein Zentrum für Meditation, Heilung, Entwicklung, Ritual, Bewegung, Rückzug und Rückverbindung – einen Ort, der es möglich macht, dass Frauenkraft im Außen wieder manifest wird.

Einzelne Elemente sollen dabei sein: ein kleines Ladencafé mit inkludierter Bibliothek, Räume für Gruppenveranstaltungen, Heilpraktiken, Mondkreise und Rote Zelte, Yoga und andere Arten der Bewegung, Workshops, Retreats und gerne mehr.

Auf diesem Wege suche ich Frauen, die diese Vision teilen und die Lust haben, diesen Weg mit zu gestalten und so einen Ort für Weiblichkeit zu schaffen. Gerne nehme ich auch einfach nur Ideen, Hinweise und Tipps zu Umsetzung, Finanzierung oder potentiellen Mitstreiterinnen dankbar entgegen.

Wer mit Elisabeth in Kontakt treten möchte, kann eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. schreiben oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. kontaktieren.

WAS WIR HIER BRAUCHEN IST ETWAS, DAS BERÜHRT

Aus der Lausitz ins Wendland und zurück: Sybille Tetsch ging in den 90er Jahren nach Niedersachsen, engagierte sich im Atomkraft-Widerstand. 2014 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Proschim gekommen, um sich gegen den Braunkohleabbau zu wehren. Weil beide aber nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit der Tat kämpfen wollten, eröffneten sie ihr Restaurant „Schmeckerlein“. Ein Besuch bei einer Lausitzerin, die den kulinarischen „Strukturwandel á la carte“ eingeleitet hat. 

12 Grad im Februar, Nieselregen, Brandenburg. Nach Proschim soll es heute gehen. An der Bushaltestelle des Bahnhofs wartet ein Auto, „Cowboys from Hell“ steht groß auf dem Kofferraum. Gleich neben dem Autokennzeichen prangt ein kleines Schild mit der Aufschrift „DDR“. Die Ostalgie ist hier noch zu Hause.

Der Bus fährt vorbei an stehengelassenen, auseinanderfallenden Häusern. Die Fenster zieren kleine Spitzengardinen. Sie glänzen so weiß, als wären sie gerade erst gewaschen und aufgehängt worden. Ein Zeichen der Zeit. Ein Zeichen für die Menschen, die sich auf der Suche nach einer besseren Zukunft gezwungen sahen, ihrem Zuhause den Rücken zuzukehren.

Der Bus hält in Proschim, das in vielen Berichten als „das letzte Dorf“ bezeichnet wird, weil es das letzte in der Lausitz sein könnte, das von der Landkarte verschwindet. Seit Jahrzehnten sieht es sich schon durch die Braunkohle-Abbaggerung bedroht. Heute steht es immer noch.

Der Kohleausstieg ist für 2038 beschlossen, es scheint also, als wäre das kleine Lausitzer Dorf gerettet. Mittlerweile gehört es zur Stadt Welzow, „der Stadt am Tagebau“. Nur wenige Menschen, die gegangen sind, sind zurückgekommen. Eine von ihnen ist Sybille Tetsch. Sie wartet an einer kleinen Bushaltestelle. Ihre rote Regenjacke leuchtet vor dem Grau der umliegenden Häuser. Von hier sind es nur einige Meter bis zu ihrem Wohnhaus und Restaurant.

Sybille Tetsch in ihrem Element

„Strukturwandel á la carte“

Seit 2015 versucht sich Sybille Tetsch gemeinsam mit ihrem Mann Alexander im selbsternannten kulinarischen Widerstand und engagiert sich in verschiedenen Lausitzer Netzwerken wie etwa den Raumpionieren oder Neopreneurs. Hier würde sie vor allem auf junge Menschen treffen, sie schätze den Austausch und die Vernetzung übers Internet.

Zum Schmeckerlein gehören neben dem Restaurant nicht nur ein Kräutergarten und ein kleiner Hofladen, sondern auch ein großer Steinbackofen im Außenbereich. Dieser Ort unterscheidet sich von denen in der Nachbarschaft. In jedem Detail des Hauses stecken Hingabe und Geschichte. Selbst im Steinofen, in dem im Sommer Flammkuchen zum „Genuss unterm Sternenhimmel“ gebacken werden, sind besondere Steine verarbeitet. So stammt der Schlussstein über der Ofentür von einem Haus, das der Braunkohle weichen musste. Der Besitzer schenkte ihn den Tetschs mit dem Wunsch, dass der Ofen nicht dasselbe Schicksal teilen sollte.

So ein Ort wie das Schmeckerlein, der zum Zusammenkommen einlädt und liebevoll gestaltet ist, ist Sybille Tetsch wichtig. So etwas habe es vorher in dieser Gegend nicht gegeben, daher seien die Leute auch angetan: „Bisher sieht man nur, dass in jedem Ort ein Bagger-Schaufelrad steht. Etwas Rostendes, Riesiges, das die Landschaft kaputt macht. Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wollen irgendwas machen, was die Leute berührt. Egal, ob das jetzt der Garten ist, um den ich mich kümmere, oder das Kochen meines Mannes. Hier fehlen Sachen, die berühren, die einfach schön sind.“

Dem Dorf etwas Neues schenken und der Braunkohle-Melancholie etwas entgegensetzen: Zwei Ziele, die Sybille Tetsch am Herzen liegen. Ein Teil ihres Wohnhauses ist zum Essbereich für den Winter umfunktioniert worden. Eine riesige Regalwand mit über 600 Kochbüchern lädt die Gäste dazu ein, zu stöbern und sich inspirieren zu lassen.

Ein Restaurant wie das Schmeckerlein habe in Proschim so niemand erwartet. Dass das Konzept aufgehen wird, erst recht nicht. Viele zweifelten die Idee der Tetschs an. Sybille Tetsch erinnert sich, dass sie sich nach ihrer Rückkehr mit der Resignation und der Ideenlosigkeit der Menschen des überalterten Ortes konfrontiert sah. Das Restaurant sei trotz vieler Stimmen, die nicht an seinen Erfolg geglaubt haben, ein beliebter Treffpunkt geworden. Die Tische sind am Vormittag zwar noch leer, aber für den Abend ist die Gastronomin bereits ausgebucht. Alle sind willkommen, auch die Leute aus dem Kohletagebau: „Wenn das Restaurant geöffnet ist, dann findet das Thema Braunkohle eigentlich nicht statt, weil wir alle Menschen ansprechen wollen: Die, die in der Kohle arbeiten und diejenigen, die dagegen sind. Und obwohl alle hier unseren Standpunkt kennen, scheint es zu funktionieren. Wir wünschen uns, dass sich die Menschen wieder mit Respekt behandeln.“

Mit ihrem Konzept führt Tetsch Menschen an einen Tisch, die vielleicht schon länger nicht mehr miteinander gesprochen haben. Das sei im Dorf nach ihren Beobachtungen ohnehin ein großes Problem: „Dadurch, dass die Menschen hier jetzt schon mehrfach umgesiedelt werden sollten und durch diesen Umstand in Kohlebefürworter und Kohlegegner gespalten sind, haben die Leute sich nicht mehr gegrüßt. Sie haben die Straßenseite gewechselt – in einem 300-Seelendorf. Das ist wirklich ein Kommunikationsproblem. Viele Themen werden totgeschwiegen und kommen nicht auf den Tisch. Die setzen sich nicht zusammen und sagen: Lasst uns doch mal darüber reden.“

Verrückte Ideen braucht‘s

Dass die Leute im Dorf nur selten miteinander reden, liegt laut Tetsch auch daran, dass die meisten sich nur um sich selbst kümmern würden. Da scheint es nachvollziehbar, dass sie sich anfangs nicht ganz angekommen fühlte. Zwar habe sie den Eindruck, dass das Dorf derzeit wieder etwas zusammenwachse und man versuche, alte Traditionen wieder gemeinsam zu erleben, aber Tetsch macht deutlich: „Ich würde es mir noch bunter wünschen, und dass hier mal wirklich verrückte Ideen umgesetzt werden.“

Das betrifft in ihren Augen auch das große, allumfassende Thema Strukturwandel.
Wenn sie von der Lausitzer Natur spricht, dem Potential, das hier noch schlummert, dann überschlagen sich ihre Worte fast beim Erzählen. Dann sprudeln die Träume und Vorschläge nur so aus ihr heraus – was man hier noch alles machen könnte! Warum nicht Sägewerke, die das viele Holz aus den umliegenden Wäldern verarbeiten könnten.

Sie glaube nicht an den aufgesetzten Strukturwandel. Und auch das Wort mag Sybille Tetsch nicht: „Ich finde, der Strukturbruch ist mit der Wende passiert, als hier die ganzen Kraftwerke zugemacht worden und die jungen Leute abgewandert sind. Da hat kein Mensch von Strukturwandel gesprochen.“

Sie glaube viel mehr daran, dass es den sich langsam entwickelnden Strukturwandel „von unten“ geben müsse. „Das ist sicherlich nicht ganz einfach in einer Gegend, wo die Leute lange Zeit gesagt bekamen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Ich denke aber, dass sich die Menschen mit einem Landstrich und mit dem, was sie tun, identifizieren müssen. Und wenn vieles von außen aufgesetzt wird, könnte es schwierig werden“, meint sie. Mit dem Schmeckerlein versucht sie, ihren Beitrag zu leisten. Einen, der Mut braucht und Menschen, die Lust haben, neue Projekte zu starten, sich auszuprobieren. Sie möchte Menschen zusammenbringen, die an der Verwirklichung solcher Projekte arbeiten. Deswegen will Sybille Tetsch auch als Vorbild dienen und sich mit dem Schmeckerlein als Botschafterin verstanden wissen. Ihre Message: Probiert Eure verrückten Ideen doch einfach mal aus. Ein Künstler*innenhaus könnte sie sich vorstellen, ein Projekt, das junge Menschen fördert und aufs Land bringt. Ihre Hoffnung sei auch, dass Menschen zurückkommen und das Vakuum in der Lausitz als Chance sehen.

Tetsch macht sich auch Sorgen darum, dass sich immer mehr Menschen rechtspopulistisch äußern und die AfD wählen: „Dass die Leute sich damit selber schaden, das sehen sie nicht. Ein 30-jähriger Arzt, den wir brauchen, der kommt nicht hier her, wenn hier die AfD im Stadtparlament sitzt oder den Bürgermeister stellt. Aber das ist den Leuten nicht klar.”

Wenn das schlimmer werden sollte, würden sie und ihr Mann vielleicht sogar wieder weggehen.

"Frauen kämpfen auch deshalb mehr um ihre Rechte, weil denen nichts in den Schoß gefallen ist. Die müssen kämpfen.“

Eine Frau in der Lausitz

Es scheint fast so, als ließe Sybille Tetsch sich von niemandem beirren, erst recht nicht von Männern. Mit ihrem Mann hat sie zwar schon in Niedersachsen zusammengearbeitet, aber abhängig hätte sie sich da nie gefühlt. Es wird deutlich, dass sie sich als Team verstehen. Aber wie war es für die Proschimerin als Frau in der Lausitz vor ihrem Weggang in den Westen?

Kurz vor der Wende begann sie eine Ausbildung zur „Revierförsterin“. Dass sie dort vor allem mit Männern zusammenarbeiten würde, stellte für sie gar kein Problem dar: “Ich habe immer lieber mit Männern gearbeitet. Ich mochte es auch, körperlich schwere Arbeit zu leisten. Ich wurde da akzeptiert. Das wird aber auch ein Unterschied zwischen Ost und West sein, denn die Männer im Osten waren ja auch so sozialisiert und es gewöhnt, dass da immer Frauen mit im Betrieb gearbeitet haben. Als ich mal auf einer Recyclinganlage gearbeitet habe, da hat auch keiner gefragt. Wenn da keiner da war, dann musste ich den wartenden LKW mit unserem Radlader beladen. Am Anfang haben die von dem Fuhrunternehmen vielleicht noch geguckt, weil sie Angst hatten, dass ich den LKW kaputt mache, aber das ging nicht anders.”

Allerdings wurden die Frauen nach der Wende in der Forstwirtschaft nicht mehr gebraucht. Doch auch diese Ansage verwandelte Sybille Tetsch damals in Tatendrang und begann ein Studium in Halle zur Umweltschutztechnikerin. Und ganz nebenbei war sie im Jahr 1994 Gründungsmitglied der Landfrauen in Proschim.

Frauenvereine für den Zusammenhalt

Der Landfrauenverband ist ein Verein, der zeigt, wie wichtig die Bedeutung der Frau auf dem Land überhaupt ist. Frau Tetsch erzählt, dass der Verein der Landfrauen sich gegründet habe, als das Dorf Proschim zum ersten Mal gesagt bekam, dass es stehen bleiben dürfe. Eine Bäuerin aus dem Dorf sei zu einem Treffen der Landfrauen in den alten Bundesländern gefahren und entschloss sich, so einen Verein auch in Proschim zu gründen. Der Grundgedanke dahinter: Frauen zusammenbringen. Vor allem Frauen, die nach der Wende arbeitslos geworden waren. Letztlich entwickelte sich aus einer kleinen Gruppe schließlich ein großer Orts-Landfrauenverband. Sybille Tetsch resümiert: „Ich glaube, dass die Landfrauen es damals geschafft haben, das zerrissene Dorf wieder zu einen. Als die Männer vielleicht noch nicht wieder miteinander gesprochen haben, haben sie gesagt: Jetzt machen wir ein Grillfest, jetzt machen wir etwas Schönes zusammen und sie haben die Männer mitgenommen und sie wieder zusammengebracht.“

Ihre Hoffnung setzt Sybille Tetsch auch in die jungen Frauen, etwa solche, die sich aktiv bei Fridays for Future einsetzen. Ihrer Meinung nach denken Frauen zukunftsorientierter als Männer: „Frauen kämpfen für die Zukunft, weil sie an die nächste Generation denken. Männer wollen den Status quo halten, wenn man so will. Sie wollen ihre derzeitige Macht sichern.“

Sybille Tetsch ist so eine Kämpferin. Und eine Ideengeberin, die viel Hoffnung darin setzt, dass irgendwann jemand ihrem Beispiel folgt und aus einer kleinen Idee etwas Schönes in Proschim schafft. Und wer weiß, vielleicht steht ja dann eines Tages – ein paar Häuser weiter vom Schmeckerlein – eine Ideenschmiede für Künstler*innen.

F WIE FRAGEBOGEN

Engagierte Lausitzerinnen stellen sich bei „F wie Kraft“ vor. Dieses Mal ist es…

Wie heißt du?

Tina Hentschel

Zweiter Vorname?

Den haben mir meine Eltern scheinbar noch nicht verraten.

Was fällt dir leichter: Ankommen oder Aufbrechen?

Aufbrechen ohne Anzukommen! Ich habe einen wahnsinnigen Gestaltungsdrang in mir, unsere Heimat voranzubringen und für unsere Kinder und Enkel (Oh, klingt das alt!) für die Zukunft auf feste Beine zu stellen. Immer wieder Aufbrechen also, Neues wagen, über Grenzen gehen und denken, ohne aber Anzukommen und sich auszuruhen, bequem einzurichten oder gar stehen zu bleiben. Wir leben in einer spannenden Zeit, da braucht es unseren weiblich feinfühligen und taktvoll mutigen Blick.

Wovon lebst du?

Vor allem von der Liebe und Zuneigung mir nahe stehender Menschen und einem tiefen christlichen Glauben an das Gute im Menschen. Das ist für mich auch beruflich, u. a. bei Gericht als „Anwältin für Kinder“ eine Basis, auf der ich versuche für die Kleinsten etwas zu bewirken. Um die Probleme der Menschen zu verstehen und auch Schwächen zu akzeptieren sowie positiv in Stärken umwandeln zu können, brauche ich diese Gewissheit, an die Liebe zu glauben – in so vielen verschiedenen Ausprägungen.

F wie Frau, L wie …?

Leidenschaft – als Ehefrau, Freundin, Geliebte, Weltentdeckerin, Familienmanagerin, Mutter mit großem Herz und starken Nerven, Berufstätige, Vordenkerin.

Was findet man in deiner Tasche?

Pssssst, großes Frauengeheimnis! Wir können doch der Männerwelt nicht die Tiefen unserer (Taschen)-Seele offenbaren. Aber so viel will verraten sein: fast alles, was Frau, Berufstätige und Mutter braucht.

Wie lebst du in zehn Jahren?

Da habe ich hoffentlich noch genauso viel Leidenschaft, Dinge anzupacken und den Mut, unbequem ehrlich und direkt zu sein. Mit der heute großen Hoffnung, dass unsere Kinder dann meinen, wir haben zumindest einiges in ihrem Leben richtig gemacht und auf einen guten Weg gebracht. Mit diesem Anspruch an mich selbst stehe ich jeden Morgen auf und meistere jeden sonnigen oder noch so wolkigen Tag.

Hast du einen Plan B?

Davonlaufen? Eingraben? Auswandern? Nein, im Ernst: es werden sich immer auch neue Türen öffnen, wenn sich bei bestimmten Plänen, die wir uns ausgemalt haben, eine Tür vielleicht schließt. Ich habe den festen Glauben, dass wir den großen ganzen Plan unseres Lebens sowieso nicht verstehen werden. Es ist aber beruhigend, dass es diesen bestimmt in irgendeiner Schublade dort oben gibt. Auch in Tiefen des Lebens vertraue ich darauf, an diesen zu wachsen, mit Kraft und neuer Erfahrung etwas Positives  rausziehen zu können. Das ist im ersten Moment des Scheiterns nicht immer schmerzfrei, aber wohl ganz einfach Teil unseres Lebens. Und Pläne B, C bis Z finde ich eigentlich noch viel spannender. Was da wohl alles noch auf mich zukommt …

Welches Buch liegt neben deinem Bett?

Ich habe unlängst eine Studie zum Thema Gehirnforschung gelesen. Demnach können wir uns selbst positiver „programmieren“, wenn wir jeden Tag 10 Dinge aufschreiben, für die wir dankbar sind, die uns gut gelungen sind und Freude bereiten würden. Daher liegt mein Positiv-Buch direkt griffbereit neben meinem Bett.

Wo fühlst du dich am lebendigsten?

Das sind so manch kleine Dinge unseres Lebens: mit dem Tretboot raus mitten auf den See fahren und ins kühle Nass rutschen, im Regen tanzen, laut singend durchs Haus wirbeln, mit Freundinnen den kalorienreichsten, aber leckersten Schokokuchen genießen, auf hohen Dächern die Weite unserer Heimat und manche Ferne bestaunen, ins kalte Gebirgswasser springen, auf dem Barfußweg jeden Zentimeter meiner Füße spüren, in die Sterne schauen und träumen, Schaumtürme in der Badewanne bauen, auf High Heels über unwegsame Pflastersteine das Leben jonglieren und in Herausforderungen stürzen, die andere für unmöglich erklären.

Wovon hast du zuletzt geträumt?

Vom Alltag eines kleinen Jungen, den ich beruflich begleiten durfte. Solche Träume, Dinge die uns nah gehen, machen uns letztlich in sozialen Berufen erst menschlich und lebendig. Andere Schicksale bewegen uns, wir nehmen Anteil an diesen und helfen mit großem Herz. Davon gibt es beeindruckend viele Menschen, die im Kleinen jeden Tag die Welt etwas reicher machen.

Tina Hentschel – Büro für Familienrecht und Mediation – Kids 1st Mediator

Mehr zu Tina Hentschel erfährt man auf ihrer Facebookseite

DER LADEN LÄUFT – DANK(E) FRAUEN!

Bestehende Ungleichheiten zwischen Geschlechtern werden während der Corona-Pandemie in einem besonderen Ausmaß sichtbar. Es sind mehrheitlich Frauen, die seit Wochen dafür sorgen, dass
„der Laden läuft“.

Nach Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, beträgt der Frauenanteil in sogenannten „systemrelevanten“ Berufsgruppen knapp 75 Prozent.

Der Laden läuft“, da sich Ärztinnen, Alten- und Krankenpflegerinnen im direkten Kontakt zu Mitmenschen einer einem erhöhten Übertragungsrisiko aussetzen. Verkäuferinnen und andere
Dienstleisterinnen haben trotz hohen Kundenkontakts oft nur behelfsmäßige Schutzausrüstungen im Betrieb. Lehrerinnen entwickeln im Eiltempo Methoden des digitalen Lernens, um das Recht auf
Bildung durchzusetzen und versuchen dabei unterschiedlichen sozialen und finanziellen Möglichkeiten von Familien gerecht zu werden. Sozialarbeiterinnen sorgen dafür, dass das Wohl von Kindern, die in
schwierigen familiären Verhältnissen leben, nicht aus dem Blick gerät.

Der Laden läuft“ und dabei stehen diese und andere Frauen, oft zusätzlich selbst als Mütter vor schwerwiegenden Herausforderungen, indem sie vor und nach der Arbeit oder parallel zum
Homeoffice die Beschulung und Betreuung der eigenen Kinder sicherstellen und Alternativen zur Freizeitgestaltung aus dem Boden stampfen. Andere Frauen kompensieren personelle und materielle
Engpässe des Gesundheits- und Pflegesystems, indem sie Pflegebedürftige oder Angehörige mit Behinderungen zunehmend selbst versorgen. Viele nähen ehrenamtlich Behelfsmasken, führen
seelsorgerische Gespräche am Telefon, um insbesondere alleinstehende Menschen vor sozialer Isolation zu bewahren. Sie übernehmen Einkäufe für Eltern, Großeltern und Menschen in der
Nachbarschaft. Neben der Lohnarbeit wird die stark angestiegene Sorgearbeit zur unausgesprochenen Selbstverständlichkeit.

Der Laden läuft“ und dabei verbindet diese Frauen, nicht nur die komplexe Leistung, die sie in diesen Tagen erbringen, sondern auch die meist schlechtere Bezahlung in sog. „Frauenberufen“. Außerdem
sind sie überdurchschnittlich oft in Teilzeit oder Minijobs beschäftigt. So bergen infolge von Unternehmens- und Geschäftsschließungen oder Betriebsbeeinträchtigungen entstandene
Einkommensverluste insbesondere für Frauen ein erhöhtes Armutsrisiko.

Der Laden läuft“, obwohl die Beschränkung von sozialen Kontakten, der starke Rückzug in das Häusliche, beengte Wohn- und Familienverhältnisse, Zukunftssorgen und der erschwerte Zugang zu
professionellen Hilfsangeboten familiäre Konflikte zuspitzen und häusliche Gewalt verstärken können. Dass das bestehende Hilfs- und Schutzangebot zur Zeit der Coronakrise im Landkreis Bautzen
funktioniert, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis einer langjährigen und ausdauernden Gleichstellungsarbeit vor Ort, die häusliche Gewalt nicht mehr als Privatsache erscheinen lässt.

Wir setzen uns weiter dafür ein, dass der Schutz für alle von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen, Männer und Kinder durch die Umsetzung der „Istanbul-Konvention“, welche bereits am 01. Februar
2018 in Deutschland in Kraft trat, zügig ausgebaut und mit den notwendigen personellen und materiellen Ressourcen ausgestattet wird.

Wir möchten alle ermutigen, das Gespräch darüber wie Vereinbarkeit von Beruf – Familie – Engagement für Frauen und Männer gleichermaßen gelingen kann, gerade jetzt zu suchen. Dabei
können und sollen Ideen nicht nur für den Umgang mit der aktuellen Lage entwickelt und ausprobiert, sondern neue Möglichkeiten gerade auch für die Zeit nach der Krise zur Verfügung stehen und
intensiviert werden. Hierfür braucht es viele, v. a. auch offene und unvoreingenommene Gespräche in der Familie, im Freundeskreis, im Beruflichen und auch im Politischen.

Wir fordern, dass Frauen, die zum großen Teil das gesamtgesellschaftliche Rückgrat der gegenwärtigen Krise bilden, wahre Anerkennung und Wertschätzung für ihre täglich erbrachten Leistungen und eine
angemessene Entlohnung erhalten. Debatten zur Coronakrise sowie langfristige Maßnahmen zu deren Bewältigung müssen politisch, ökonomisch und gesellschaftlich bundesweit wie kommunal unter
frauen- und gleichstellungspolitischen Aspekten geführt werden. Dafür braucht es eine nachhaltige und langfristig gesicherte Frauen- und Gleichstellungsarbeit.

Wir setzen uns seit 30 Jahren gemeinsam mit aktiven Menschen in der Stadt und dem Landkreis Bautzen für eine geschlechtergerechte, sozialverantwortliche, demokratische und gewaltfreie Gesellschaft ein.

Danke Frauen!

 

Die Stellungnahme wurde verfasst von: Intervention gegen Häusliche GewaltFraueninitiative BautzenFrauenschutzhaus Bautzen e.V. und den Gleichstellungsbeauftragten der Stadt und des Landkreises Bautzen

Unterstützerinnen der Stellungnahme sind: Landesfrauenrat Sachsen e.V.DGB OstsachsenLAG der Frauenhäuser und Interventionsstellen Sachsen, LAG der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten SachsenDGB FrauenSächsicher Landesfrauenverband e.V. – Ortsgruppe Bautzener Land und das Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz

Kontakte:

Gleichstellungsbeauftragte Landkreis Batuten

Ina Körner

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Telefon 03591 5251-87600

Gleichstellungsbeauftrage Stadt Bautzen

Andrea Spee-Keller

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Telefon 03591 534-290

BE-DEUTUNGEN, UM-DEUTUNGEN UND FLÜGE AUF DEM BESEN

Über die Tradition des Hexenverbrennens und eine andere Art, die Walpurgisnacht zu zelebrieren

Oh, wie schön ist es zu fliegen
Um zwei Uhr in der Früh’.
Um zwei Uhr in der Früh’
Oh, wie schön ist es zu fliegen!

(Liedtext von „la bruja“, Eugenia León)

Es ist der Abend zum ersten Mai. Jetzt ist es abends wieder länger hell. Endlich trifft man sich nicht nur punktuell bei der Bäckerei, sondern kommt draußen auf der Straße wieder zusammen. Auf diesen Moment haben alle gewartet! Der Frühling steht schon in der Blüte und die Sonnenwärme ist sogar auf den Nasenspitzen bemerkbar. Gemeinsam als Dorfgemeinschaft in der Sonne zusammen zu sein, das ist gesellschaftlicher Kitt für das ganze Dorf. So bunt die Lausitz im Frühling aufblüht, so divers sind auch ihre Bräuche. Jährlich finden am 30. April in zahlreichen Dörfern Feste statt, bei denen ein großes Feuer angezündet wird. Die Tradition trägt in vielen Dörfern seit Jahren den Namen „Hexenbrennen“. Es gibt Bratwurst und Bierchen von der Freiwilligen Feuerwehr und dann das Riesenfeuer. Es ist nicht irgendein Feuer, sondern eine wirklich feurige Angelegenheit. Auf den großen Holzhaufen ist oftmals eine Hexenfigur draufgesteckt. Und diese Hexe soll dann auch mit dem Feuer in Flammen aufgehen. Was hat die Hexe mit der Bratwurst und der Nacht des 30. April eigentlich zu tun?

In diesem Artikel gehen wir dem Brennen der Hexen am 30. April auf die Spur. Warum soll gerade eine Frauen*figur auf dem „Scheiterhaufen“ brennen? Was zählt ist, dass das Dorf zusammenkommt. Aber muss dafür eine Hexe angezündet werden?

Die Hexe war’s – und dafür soll sie brennen

In Göda bei Bautzen wird im theatralischen Erzählen die Hexe angeklagt und muss im Feuer büßen. „Die Hexe war‘s – und dafür soll sie brennen“ (Sachsenhits, 2011). Ich frage mich, was hat sie denn verbrochen? Ich habe nachgeforscht und bin auf viele Geschichten über den 30. April gestoßen. Zum Beispiel wurde in der nord- und mitteleuropäischen Tradition am 30. April die Heiligsprechung der heiligen Walpurga gefeiert. Und das sogar bis ins Mittelalter. Auch bekannt als Tanz in den Mai, der als moderne Feierlichkeit privat und kommerziell den 1. Mai zum arbeitsfreien Feiertag gemacht hat. Hexenbrennen, Tanz in den Mai, Walpurgisnacht oder auch Beltane zeigen uns viele Perspektiven auf, die bei dem Frühlingsfest in der Nacht vom 30. April in den 1. Mai Bedeutung haben. Einer der Bräuche besagt, dass der Gang zwischen zwei Walpurgisfeuern eine Reinigung ist. Die Wurzeln dieser Überlieferung weisen auf die Bedeutung der Walpurga hin, die an Walpurgis als Schutzheilige für Seuchen und Krankheiten angerufen wurde. Das sind doch eigentlich sehr positive Blickwinkel auf die Walpurgis, die als Hexe auf dem Feuer verbrannt werden soll!

Eine Schutzpatronin zu verbrennen, ist das nicht sogar gefährlich, wenn es diese nicht mehr gibt? Wer soll dann für den Schutz vor Krankheiten und Seuchen angerufen werden? Vor allem zu Zeiten von COVID-19?

Historiker*innen erklären, dass die Umdeutung der Bräuche auf die rigorose Christianisierung zurück geht, die dazu führte, dass die alten heidnischen Bräuche verdammt wurden. Wissenschaftler*innen haben sogar Quellen über matriarchalische Gesellschaftsstrukturen im ländlichen Brauchtum gefunden. Inwieweit werden patriarchale Strukturen reproduziert, wie zum Beispiel bei Aussagen wie „Und nun macht das Feuer an, wie stets unsere Väter es auch getan“ (Sachsenhits, 2011)? Können die Wissenschaftler*innen Antworten bezüglich der negativen Sicht auf die Schutzpatronin und auf den frauenfeindlichen Ansatz des Hexenbrennen geben?

Die Ursprünge der Walpurgisnacht der nord- und osteuropäischen Tradition sollen im Harz liegen. Aus der vorchristlichen Zeit gibt es Überlieferungen, dass in der Harzregion ein Frühlingsfest als ein Freudenfest zum Ende des Winters gefeiert wurde. Mit Verkleidung und Masken wurden die Wintergeister vertrieben. Und dazu wurde auch ein großes Feuer entfacht. Vor mehr als 1000 Jahren wurde dieses bedeutsame Fest mit der Christianisierung verändert. Der Name Walpurga, deren Leben in keinem Zusammenhang mit Hexen und dem Teufel stand, bezieht sich für die Harzer auf die heilige Walpurga, die sie zur Schutzpatronin der Seefahrt ernannten (Harzlife, 1999-2020). Also wieder die Frage, warum die Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen muss? Marie Hecht (2019) schreibt über die Legitimation in der frühen Neuzeit, in der rund 60.000 Hinrichtungen von sogenannten Frauen* mit Kräuterwissen allein im europäischen Raum stattgefunden haben. Bereits in den 70er Jahren versuchte die Frauenbewegung den Begriff „Hexe“ wieder positiv zu besetzten. Wie kann dem Anliegen symbolischer Hinrichtungen im Rahmen des „Hexenbrennens“ Gehör vermacht werden?

Hauptschurkin war die ungehorsame Ehefrau

Vandana Shiva (2010:21) benennt die Hexenverfolgung als ein Auslöschen von medizinischem Wissen über das Frauen* verfügt haben. Neben der Überlieferung, Walpurgis der Schutzpatronin, ist der 30. April als Beltane (Fruchtbarkeitsfest) zum Sommeranfang in Irland bekannt. Der Winter wird endgültig verabschiedet und auf den Feldern sprießt es schon oder es wird fleißig gesät. Beltane ist das Fest der Lebensfreude und der Fruchtbarkeit, das dafür sorgt, dass das Leben weiter bestehen kann. Wenn wir weiter forschen, wird das Fruchtbarkeitsfest auch als Geschlechtsakt der Natur beschrieben. Es ist regelrecht beobachtbar wie die Blüten und Blätter aus den Knospen explodieren. Der Geschlechtsakt wurde unter den Einflüssen der katholischen Kirche, zumindest vor der Ehe, als Sünde, also als etwas Verbotenes deklariert – und bis heute werden Frauen* dafür verurteilt, wenn sie eine Abtreibung vornehmen möchten. Wenn ein Rezept mit dem Kräuterwissen der Hebammen zur Abtreibung gemischt wurde, dann führte dies zur Todesstrafe. Hier griff das römische Recht der katholischen Kirche. Bis heute besteht der feministische Kampf darin, dass jede Frau* ein Recht hat, über den eigenen Körper zu entscheiden. #MyBodyMyChoice weist darauf hin, dass jede Frau* selbst entscheiden kann, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch aus welchen Gründen auch immer vornimmt. Schon der Slogan der feministischen Kämpfe in den 70er Jahren «Wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet» spricht von der Kritik an patriarchalen Strukturen. Die Domestizierung der Frauen* in Europa im 16. und 17. Jahrhundert führte zur Abwertung der Frau* als Arbeitskraft und ihre Autonomie gegenüber den Männern wurde abgeschlagen.

„Frauen wurden beschuldigt, unvernünftig, eitel, wild und verschwenderisch zu sein. In besonderem Maße kritisiert wurde die weibliche Zunge, das Instrument der Aufsässigkeit. Die Hauptschurkin war jedoch die ungehorsame Ehefrau“ (Frederici, 2015:129). Hier finden wir Erklärungen für die Abnahme der Frauenrechte im privaten und öffentlichen Raum und Verurteilungen Frauen* gegenüber. Silvia Frederici beschreibt in ihrem Buch „Caliban und die Hexe“ (2015), weshalb die Körperpolitik grundlegend für eine positive Aufwertung des weiblichen Körpers ist. Für den Aufbau der kapitalistischen Gesellschaft steht die Förderung des Bevölkerungswachstums als Reproduktion von Arbeitskräften im Vordergrund. Daraus erklärt sich, warum sich der Frauen*körper als Reproduktionsmaschine und zur Domestizierung angeeignet wurde. In einer Gesellschaft, in der Frauen* die sozialen Drähte zusammenhalten, gehört aufgrund dieser historischen Verflechtungen zu der Entscheidung für sich selbst wirklich viel Mut. Bis heute funktioniert das Vorurteil, dass Hexen böse sind – ein Bild, das bis heute fortwirkt und selbstbewusste und wissende Frauen* negativ darstellt. Dies unterstützt die bisher patriarchale Machtstellung in der Gesellschaft. Und umso komplexer sind die Memorien, Verstrickungen und ja, auch Verurteilungen, wenn eine Hexenfigur, eine Hebamme, eine Walpurga an Beltane einfach auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll.

Ein Dorf in der Lausitz verarbeitet dieses Thema besonders kreativ

In Großhennersdorf trägt das lebensfrohe Spektakel am 30. April den Namen „Walpurgis“. Dort gibt es ein magisches Kinder- und Familienprogramm mit Hexenküche. Initiiert wurde diese besondere, mittlerweile schon seit mehr als 25 Jahren gefeierte Tradition von Mechthild Roth, der Leiterin der Theaterpädagogischen Werkstatt des soziokulturellen Vereins Hillersche Villa e. V. in Zittau. Mechthild erzählt mir über die feurigen Walpurgis-Feierlichkeiten in Großhennersdorf.

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Um 17.17 Uhr werden in Großhennersdorf auf besondere Art und Weise die Besen geschwungen. Gemeinsam mit einer Gruppe von Ehrenamtlichen wurde für den 30. April alles geplant, vorbereitet und mit der freiwilligen Feuerwehr und dem Karnevalsclub koordiniert. Anliegen in Großhennersdorf ist es, am 30. April keine Hexe zu verbrennen. Mechthild ist damit vor 25 Jahren an die Feuerwehr herangetreten. Und sie konnten sich gemeinsam darauf einigen, den Themen rund um „Hexen“ Sichtbarkeit zu geben. In Großhennersdorf werden Bratwürste und Bier verkauft, ohne dass eine Hexe aufgrund eines Urteils auf den Scheiterhaufen kommt. Das erwarten die Menschen, die hier zum Fest kommen, auch gar nicht. Die Besucher*innen kommen auf unterschiedlichen Wegen zum bunten Mitmach-Angebot für Groß und Klein. Geboten sind vielfältige Attraktionen wie Schminken und Kostümgestaltung. Friseurinnen vom örtlichen Salon Dutschke sorgen für ausgefallene Frisuren. Verkleiden mit einem selbst gestalteten Kostüm gehört zum feurigen Fest, sowie Musik der “Saltarello“ Frauen*band. Nicht zu vergessen ist das Bauen von Krachinstrumenten für den Umzug und die Hexenküche. Auch kreatives Handarbeiten wie Filzen und Figurenbau dürfen nicht fehlen. Wer will, kann sich seinen eigenen Besen binden und damit im Hexenparcours das Fliegen trainieren.

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Sonst wäre das mit dem Hexenfeeling nur halb so wahrhaftig. Höhepunkt ist die zuvor einstudierte Performance. Zu guter Letzt wird von der freiwilligen Feuerwehr ein wunderschönes großes Feuer entfacht. Karnevalsclub und Sportverein beteiligen sich mit Tanzeinlagen und helfen tatkräftig beim Getränkeverkauf. Senior*innen aus dem Ort verwöhnen die Gäste mit Selbstgebackenem. Hier verdient eigentlich niemensch Geld. Im Mittelpunkt steht die Beteiligung. Es geht darum, als Dorf ein Event gemeinsam zu gestalten. Diese besondere Art und Weise, die Walpurgisnacht zu feiern, ist einmalig in der Lausitz. Und das verspricht einen großen Zulauf. Die Rauchzeichen wurden vernommen und ja, es hat sich herumgesprochen. Das Hexenfest in Großhennersdorf ist etwas Besonderes und hebt sich von den üblichen Festen ab. Vor allem das Programm, welches von einem eingespielten Team im Detail ausgetüftelt und vorbereitet wird, hat sich bewährt. Zielgruppe ist die ganze Familie!

Hier zählen ein kreativer Geist und die Motivation der Besucher*innen. Schließlich ist die Vorbereitung auf ehrenamtlicher Basis, neben Beruf, Kinderbetreuung, Haushalt etc. ein großer Aufwand. Das Team besteht zufälligerweise nur aus Frauen*. Oder gibt es keine Zufälle? Das weiß vielleicht nur die Walpurga…

Auf jeden Fall ist es viel und unbezahlte Arbeit von Personen, die als Care-Arbeit meistens sowieso unbezahlt von Müttern und Frauen* geleistet wird. Mechthild erzählt: „Als wir damals angefangen haben war es überhaupt nicht üblich, dass am 30. April was gemacht wird. Wir – ein paar Frauen* und Mütter – hatten einfach Lust, was Verrücktes zu machen. Ein wildes chaotisches Fest zu feiern. Wir haben nicht viel nachgedacht, wir haben einfach gemacht!“ Und was die Frauen* vor über zwanzig Jahren geschaffen haben, hat heute mit der grundlegenden wichtigen Umdeutung des Verbrennens von Hexen zu tun. Bier und Bratwurst (mittlerweile auch beliebte, vegetarische Grillspieße) als Einnahmequelle bleiben bestehen. Und gleichzeitig wurde das Gedenken an Walpurga mit einer ganz neuen Metapher gefüllt. Hier wird die Initiative der Frauen* sichtbar. Eine grundlegende kulturelle Arbeit für die Region gewinnt an Bedeutung! Das Hexenfest in Großhennersdorf für Groß und Klein, das ist also ganz fein.

Ob das Zurückbesinnen auf die Bedeutung des 30. April wohl weitere Vereine und Dörfer zu einem neuen Umgang mit ihren Traditionen inspiriert? Vielleicht werden die Feuer Walpurga zukünftig ehren und neue, kreative Möglichkeiten des Zusammenlebens in der Dorfgemeinschaft geschaffen – von Frauen*, Männern und auch Menschen diverser Geschlechter. Vielleicht gemeinsam mit ein paar Hexen, die womöglich in der Lausitz unterwegs sind?

Quellenangaben:

Frederici, Silvia (2015)

Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Mandelbaum, Budapest.

Harzlife. (1999-2020)

Walpurgisnacht. Geschichte und Hintergrundwissen.

https://www.harzlife.de/event/walpurgis-info.html

Hecht, Marie (2019)

Wer hat die Macht. Am Donnerstag ist Halloween. Eine Suche nach den Hexen unserer Zeit.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1127898.halloween-wer-hat-die-macht.html

Leon, Eugenia (2015)

„La Bruja“

https://www.youtube.com/watch?v=IEkbsgcoys4

Sachsenhits, Filmproduktion & Medienverlag , Niesky

www.sachsenhits.com Kanal: Bautzen entdecken (2011)

https://www.youtube.com/watch?v=FRlmUA-cLS8

Shiva, Vandana (2010)

Staying Alive. QOman, Ecology and Survival in India. Woman Unlimited. Neu Delhi.

Liviana Bath

… ist Sozial- und Kulturanthropologin und studierte im M.A. Genderstudies. Sie lebt zwischen dem Dreiländereck (PL, CZ und D) in Zittau und in Berlin. Als Referentin der machtkritischen Bildungsarbeit, Theaterpädagogin und Autorin arbeitet sie seit vielen Jahren in Lanteinamerika und Europaweit.

GLANZ OHNE GOLD

Ein Buch mit Geschichten von Frauen aus dem Land Brandenburg

Über Geld spricht Mann nicht?

Wir schon. Die Idee zu diesem Buch entstand, als sich Frauen aus dem Management dreier Verbände, dem Brandenburger Landfrauenverband (BLV), dem Arbeitslosenverband (ALV) und dem Demokratischen Frauenbund, Landesverband Brandenburg (dfb) trafen und gemeinsam überlegten, wie frau das Thema »Armut« in Brandenburg angehen könnte. Wir wollten es nicht abstrakt in Zahlen haben. Wir wollten auch nicht jammern oder auf Schuldige zeigen. Wir wissen, dass in Brandenburg viele starke Frauen leben, die es nicht leicht hatten und haben, aber die sich trotz der schweren Bedingungen nicht unterkriegen lassen. Sie finden sich in unseren Verbänden. Ihnen geben wir mit diesem Buch eine Stimme.

Das Projekt, in dem das Buch entstand, heißt folgerichtig:

»Wir brechen das Schweigen. Brandenburger Frauen sprechen über Armut.«

© Lisa Smith

Fünfzehn Frauen – 5 Frauen aus jedem Verband – quer durch Brandenburg erzählten uns ihre Geschichten. Sie handeln von ihrem Leben in der DDR und nach der Wende sowie von ihrem Widerstand gegen die vielfältigen Armutsprobleme heute aber auch von ihren Erfolgen. Wir nennen sie unsere »Geschichtengeberinnen«. Sie leben in Prenzlau, Wittenberg und Neuruppin, in Strausberg und Beeskow, in Spremberg und vielen weiteren schönen Ortschaften quer durch das Land. Den Geschichtengeberinnen gilt unsere größte Anerkennung. Wir danken ihnen aus tiefstem Herzen. Ohne die Förderung der Landesgleichstellungsbeauftragten Monika von der Lippe wäre dieses Buch jedoch nicht zustande gekommen. Ihr gilt deshalb ebenfalls unser herzlicher Dank.

Nachdem die Geschichten erzählt und transkribiert waren, setzten wir uns in einem Team zu viert immer wieder zusammen, entwickelten die Texte in unterschiedlichen Erzählformen, entwarfen die Bilder und gestalteten Satz und Layout. Dabei ist mehr als nur die Aneinanderreihung von Geschichten entstanden und das spürten unsere ersten Zuhörerinnen in den Lesungen, die wir noch vor dem Shutdown wegen der Coronakrise halten konnten. Wir können es kaum erwarten, wieder in die Welt zu ziehen und den Geschichten Flügel zu schenken.

© Lisa Smith

Wenn Sie glauben, dass Sie im Buch jammervolle Geschichten über Armut oder statistisch genaue Biografien finden, können wir Sie diesbezüglich beruhigen. Wenn Sie aber glauben, es kommen wilde Krimis, Märchen, Abenteuer und Fabeln von Ritterinnen, Löwinnen, Truckfahrerinnen und Gazellen oder gar ein Theaterstück – dann liegen Sie genau richtig! Jede unserer Geschichtenerzählerinnen durfte sich ein Genre aussuchen und so haben wir ihre Biografien in vielfältige spannende und fantasievolle Formate gegossen. Nun stehen in unserem Buch: drei Kriminalfälle, drei Abenteuer, ein Theaterstück, ein Essay, eine Erzählung, ein Brief, eine Utopie und zwei Fabeln. Entdecken Sie sich selbst, gestatten Sie sich die passende Portion Wut über die Situationen der Frauen und staunen Sie über die Kraft, die sich in jeder Geschichte findet.

Mit unserem Buch werden wir also, sobald es geht, wieder unterwegs sein und mit Menschen ins Gespräch kommen, die ähnliche Geschichten haben und die unter den Folgen und Erscheinungen von Armut leiden. Gemeinsam diskutieren wir über Wege aus der Armut, über Gerechtigkeit, Gemeinschaft und über gesellschaftliche Notwendigkeiten. Wir werden uns mit den Geschichten unserer starken Frauen den Mut machen, Dinge zu bewegen, die dem guten Leben aller dienlich sind. Freuen Sie sich auf Lesungen vor Ort!

Kontakt und Ansprechpartnerin:
Nadja Cirulies (Projektleitung) per E-Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

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Tarnkappen für Powerfrauen

Sitzen schon wieder nur Männer auf dem Podium?

Vielleicht täte es eine Tarnkappe, um eingeladen zu werden?

Liebe Powerfrauen, versteckt Euch nicht. Bitte bleibt wie ihr seid!

Bild: Sabine Euler | https://www.sabine-euler.de

BACK TO THE LAUSITZ

Wie war es für Euch, in die Lausitz zurück zu kommen?

Was gefällt Euch hier gut?

Und was ist so richtig blöd?

Was würdet ihr gern ändern?

Sabine Euler schildert uns in ihrer Karikatur, wie es sich manchmal anfühlen kann, als junge, gut ausgebildete Frau in die Oberlausitz zurückzukehren.

Was ist Eure Meinung?

Schreibt uns an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder auf Facebook an https://www.facebook.com/FwieKraft/

JETZT VERFÜGBAR: „FRAUEN ALS WIRTSCHAFTSFAKTOR FÜR DIE LAUSITZ“

Endlich ist es so weit: Unser Statuspapier „Frauen als Wirtschaftsfaktor für die Lausitz – Perspektiven von Frauen auf den Strukturwandel in der Lausitz“ ist jetzt veröffentlicht.

F wie Kraft beschäftigt sich seit 2016 mit weiblichen Gestaltungspotentialen in der Lausitz und fördert den beachtlichen Wissensschatz der Lausitzer Frauen zutage. Deutlich sichtbar wurde dabei immer wieder der Wunsch von Frauen, in der Region zu bleiben. Frauen sind die soziale Gruppe in der Lausitz, die alle Bereiche regionaler Entwicklung thematisieren und sie nicht nach „Ressorts“ voneinander abkoppeln. Sie machen Schnittstellen sichtbar, die für die Entwicklung der Lebens-und Arbeitsqualität dieser Region nützlich sind. Fragt man die Frauen in der Lausitz, so finden sich zahllose Beispiele für Ideen, Initiativen und Zukunftsperspektiven, die sie in der Lausitz angehen und thematisieren. Frauen in der Lausitz gehen mit gutem Beispiel voran und versuchen, dem drohenden „Verfall der Region“ und der damit einhergehenden Melancholie, Resignation und Ratlosigkeit etwas Kreatives und Sinnstiftendes entgegenzusetzen.

Die Lausitz befindet sich seit Jahrzehnten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Dieser umfasst alle gesellschaftlichen Bereiche von der Wirtschaft, den Siedlungs-und Sozialstrukturen über die Verwaltung und Politik bis zu den Kulturen und Identitäten der Bewohner*innen. Dabei steht die Lausitz ohnehin schon vor erheblichen Problemen, bspw. die hohe Abwanderungsrate gut ausgebildeter Frauen. Ursachen für diese Problematik sind u. a. in der vorherrschenden industriellen Wirtschaftsstruktur zu finden. Diese spiegelt sich auch in den aktuellen Debatten zum Strukturwandel in der Lausitz wieder, welche sich vor allem auf den Wegfall und Ersatz von Jobs in vorrangig männerdominierte Berufsfelder und Arbeitsmarktsektoren. Die Diskussion zum Strukturwandel konzentriert sich auf industrienahe Themen und vernachlässigt Forschungs-und Entwicklungsfragen, die das breite Spektrum regionaler Bedarfe und Möglichkeiten adressieren. Wir begreifen den Strukturwandel vielmehr als Chance, nicht nur neue Perspektiven für die Beschäftigten im Braunkohle-Sektor zu entwickeln, sondern auch den multidimensionalen, wirtschaftlich-sozialen und infrastrukturellen Problemen zu begegnen, vor welchen die Lausitz steht.

Gemeinsam mit den Frauen in der Lausitz wollen wir die wirtschaftlichen, soziogeographischen und soziodemographischen Verschiebungen und weitgreifenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen mit nachhaltiger und geschlechtersensibler Perspektive gestalten. Zugespitzt resümieren wir: Die Krise der industriellen Männerberufe und der (geschlechterunsymmetrischen) Abwanderung und die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft können nicht allein von Männern gelöst werden. Es mangelt an Aufmerksamkeit für (traditionell) weibliche Themen-und Tätigkeitsfelder, wie der Pflegebranche, dem Kultur-und Bildungssektor sowie auf zivilgesellschaftliche, regionalspezifische und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Themenfelder. F wie Kraft möchte Mut machen, Aktivitäten von Frauen aufzuspüren, zu unterstützen und ihnen Verantwortung im Strukturwandel zu übertragen.

Macht Euch dieser Auszug Lust, mehr zu unseren Erfahrungen, Thesen und Empfehlungen zu lesen?

Unser Statuspapier ist jetzt online verfügbar: Zusammen mit vielen weiteren spannenden Studien, Projektskizzen und Broschüren auf den Seiten der Zukunftswerkstatt Lausitz oder direkt zum Downloaden.

Habt ihr Fragen zum Papier? Möchtet ihr mit uns darüber diskutieren? Habt ihr Lust, Euch gemeinsam mit uns für mehr Frauenpower im Strukturwandel einzusetzen? Dann schreibt uns an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.! Wir freuen uns auf Eure Ideen und Perspektiven!

AUFMERKSAM HINSCHAUEN UND HINHÖREN

Vor mehr als einem Jahr haben zwei Frauen im Landkreis Görlitz gesagt:

Jetzt reicht´s!

Es braucht für die Arbeit zum Thema sexualisierte Gewalt und die Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung eine höhere Sichtbarkeit. Gesagt – getan. Diana Mehmel und Antje Schulz gründeten mit weiteren engagierten Menschen am 25.03.2019 den Verein Trude e.V. – Verein gegen sexualisierte Gewalt und für sexuelle Selbstbestimmung. Trude e.V. erhielt in einer unglaublichen Geschwindigkeit die Eintragung ins Registergericht, den Freistellungsbescheid vom Finanzamt und die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe im Landkreis Görlitz. Für die Akteur*innen auch ein Beweis dafür, dass Unterstützung da ist.

Ein Rückblick

Diana Mehmel und Antje Schulz sind schon seit vielen Jahren im Landkreis Görlitz unterwegs. Sie veranstalteten unzählige sexualpädagogische und resilienzstärkende Projekte für Kinder und Jugendliche, berieten Fachkräfte in Verdachtsfällen sexueller Grenzverletzungen jeglicher Art, waren Ansprechpersonen für Betroffene sexualisierter Gewalt und gaben Eltern Auskunft über sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Nachfrage nach diesen Angeboten stieg stetig und sprengte den Rahmen ihres eigentlichen Arbeitsfeldes. Die Entscheidung, ihren gemeinsamen Arbeitsplatz zu verlassen und sich ausschließlich den Themen Verringerung sexualisierter Gewalt und Stärkung sexueller Selbstbestimmung zuzuwenden, war wohlüberlegt. Anträge für ein Modellprojekt der Bundeskoordinierung für spezialisierte Fachberatungsstellen (BKSF) und beim Landkreis Görlitz waren gestellt. Es zeigte sich bald, dass für 2020 keine Fördermittel für Trude e.V. zur Verfügung stehen würden und der Verein stellte sich mit seinem Vorstand auf ehrenamtliches Arbeiten ein.

Die Heilpädagogin und Systemische Therapeutin Diana Mehmel und die Sozial-  und Sexualpädagogin Antje Schulz engagieren sich als ehrenamtlich Mitarbeitende in allen relevanten Gremien und Netzwerken der Region und in der sachsenweit agierenden LAG „Prävention und Intervention Sexualisierter Gewalt“. Der Verein ist Mitglied der Vollversammlung der BKSF und des Jugendrings Oberlausitz e.V.

Was will Trude e.V.?

Der Verein setzt sich dafür ein, dass sexualisierte Gewalt sowohl als Thema in einzelnen Einrichtungen, als auch als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt und sichtbar gemacht wird. Die Komplexität sexualisierter Gewalt erfordert als mutigen ersten Schritt ein HINschauen und ein HINhören. Es braucht Wissen über Täter*innenstrategien und über den Umgang mit vermuteter und bestätigter sexualisierter Gewalt. Besonders Fachkräfte und Eltern haben sich in den letzten Jahren Bildungsangebote dazu abgeholt. Für die Mitarbeitenden ist es dabei selbstverständlich sich ebenso für die Prävention sexualisierter Gewalt einzusetzen. Sexualpädagogische altersentsprechende und themenangepasste Angebote besonders für Kinder und Jugendliche stehen hier im Mittelpunkt. Grundsätzlich gehören alle Formen und Angebote der sexuellen Bildung für Trude e.V. zur wichtigen präventiven Arbeit gegen sexualisierte Gewalt. Das sind bspw. persönlichkeitsstärkende Projekte für Kitakinder, sexualpädagogische Projekte an Grundschulen, Förderschulen und weiterführenden Schulen. Auch offene Gesprächsrunden in Kinder- und Jugendtreffs und Wohngruppen sind Möglichkeiten, die Themen der Zielgruppen aufzugreifen. Hier kann die Chance wahrgenommen werden, direkt in der Arbeit mit jungen Menschen die sexuelle Selbstbestimmung zu fördern. Im Fokus steht dabei immer, Kinder und Jugendliche über ihre Rechte aufzuklären, auch gegenüber Erwachsenen.

Sexuelle Grenzverletzungen, Übergriffe und Gewalt passieren in den unterschiedlichsten Formen jeden Tag und überall. Noch immer, und das liegt in der Natur sexualisierter Gewalt, wird fast gar nicht darüber gesprochen.

Zu oft haben Diana Mehmel und Antje Schulz gehört: „Das gibt´s bei uns nicht“. Von den Aussagen betroffener Menschen haben wir gelernt, welche Angebote und Bedingungen gebraucht werden, damit sich ein Kind, was sexualisierte Gewalt erfahren muss oder musste, öffnen kann. Das und andere wichtige Aspekte der Arbeit möchte Trude e.V. mit anderen teilen. Die Mitarbeitenden, die Vorstandsmenschen und die Mitglieder werden dies immer wieder und auch ungefragt tun.

Sexualisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe und sexuelle Grenzverletzungen zeigen sich in verschiedensten Formen. Das können Blicke sein, Worte (auch in digitalen Medien) und körperliche Gewalttätigkeit – um nur einige zu nennen.

Von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen erhalten bei Trude e.V. kostenfreie Beratung.

Weitere Angebote, wie beispielsweise Projekte für Kinder und Jugendliche, Fachberatungen und Elternabende sind mit Kosten verbunden. Inhalte und Umfang können vorabgesprochen und gemeinsam geplant werden.

Die ehrenamtlichen Akteur*innen arbeiten zur Zeit intensiv an der Antragstellung für weitere Fördermittel und hoffen damit, Trude e.V. mit ihren Angeboten als feste Größe im Landkreis Görlitz und darüber hinaus zu etablieren.

Im Moment bietet Trude e.V. telefonische und digitale Kontaktaufnahme und Beratung an.

Trude e.V. freut sich über interessierte Menschen, die mit uns in Kontakt kommen wollen, Verständnisfragen haben oder sich als Mitglied engagieren wollen.

Für mehr Informationen kann gern unsere Internetseite genutzt werden:

www.trude-im-internet.de.

Für jegliche Anfragen zum Verein, zu Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt, Fachfragen und Beratungswünschen erreichen Sie die Ansprechpersonen wie folgt:

Diana Mehmel (Dipl.Heilpädagogin, Systemische Familientherapeutin, Traumapädagogin i.A.)

Email:     Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Tel.         0152 24260349 (dienstags  9 – 13 Uhr)

Antje Schulz (Dipl. Sozialpädagogin, Sexualpädagogin, Systemische Beraterin)

Email.     Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Tel.         0176 66210787 (donnerstags  13 – 17 Uhr)

DIE STILLE REVOLUTION

Ich suche Frauen, die gerne für Frauen etwas bewegen möchten, die sich in den weit gefassten Begriff der „Frauenarbeit“ einbringen möchten. Was dieser Begriff für mich bedeutet, möchte ich hier gerne für den Anfang kurz aufzählen. Ich möchte das Selbstwertgefühl von Frauen stärken; die innere Heilerin wieder aktivieren; Frauen helfen, für sich selbst zu sorgen und wieder Verantwortung für sich selbst zu übernehmen; eine Rückverbindung zu den Ahninnen schaffen; Frauen ihren Körper wieder nahe bringen; die eigene Potenz wieder wahrnehmbar machen; Frauen ihre eigenen Bedürfnisse bewusst machen; Aufklärungsarbeit auf allen Ebenen leisten (auch und gerade für junge Mädchen): Körperlich – dein Segen Menstruation. Emotional – Gefühle wieder spüren und zulassen zu lernen. Geistig – Heilung durch das Erkennen der Eigenmacht. Seelisch – Rückverbindung zu den eigenen Wurzeln und zu jahrtausendealter weiblicher Kultur.

Um das zu erreichen, möchte ich eine Institution aufbauen – ein Zentrum für weibliche Kultur und Spiritualität, wo all das Platz hat und verwirklicht werden kann.

Gerne möchte ich mich nun vorstellen:

Mein Name ist Elisabeth Noack, schon frühzeitig habe ich mich für Heilkunde interessiert, auch wenn mein erster und zweiter Bildungsweg mich in andere Richtungen führten. Auf meinen Reisen wurde dann durch zahlreiche Kontakte und Erfahrungen der Wunsch in mir wieder stärker, mich nun endlich auf die Suche zu machen, nach dem was uns heilt und ganz macht. So begann ich meine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Der Grund, warum ich mich im Anschluss der Frauenheilkunde (mit Schwerpunkt auf der Bearbeitung innerer Themen) verschrieb, hängt mit meiner eigenen Geschichte zusammen.

Als mein Zyklus vor vielen Jahren einsetzte, hatte ich – wie die meisten jungen Mädchen damals und leider auch heute noch – nicht wirklich eine Ahnung davon, was da genau passierte. Ich bin zwar aufgeklärt worden und wusste zumindest, was körperlich geschah, doch das Mysterium um das weibliche Blut lag für mich vollkommen im Dunkeln. Meine Mutter hätte es mir erzählt, hätte sie es selbst gewusst. Ich verstand nicht, was passierte, empfand mich als unpässlich in einer Welt, in der nur Leistung zählt und lehnte mein Blut als abstoßend und störend ab, soweit, dass mein Zyklus fast zum Stillstand kam. Es kam mir nicht ungelegen, ich kam viel herum und fühlte mich durch meinen meist abwesenden Zyklus frei und ungebunden.

Nach vielen Jahren der „Sorgenfreiheit“ hatte ich aber immer mehr das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlt, dass ich in meinem Selbst nicht „ganz“ bin. Eine Frauenärztin legte mir dann einmal ans Herz, dass, wenn ich doch mal Kinder haben wöllte, ein regelmäßiger Zyklus wichtig ist. Aus meiner heutigen Perspektive betrachtet, ist die Menstruation nicht nur für Kinderwunsch wichtig, sondern als Lehrmeisterin für das komplette Frau-Sein geradezu essentiell! Ich machte mich auf die Suche nach meiner Weiblichkeit, die ich bisher weder verstanden noch überhaupt wahrgenommen hatte – ich war der Meinung, dass „Brüste und eine Gebärmutter“ ausreichten, sich als Frau zu definieren. Durch meine Suche wurde mir bewusst, dass, wenn ich Weiblichkeit in all ihrer Komplexität verstehen und ich mich in meinem Körper zu Hause fühlen wollte, die Menstruation der Schlüssel zu diesem Raum war.

Seit dem ersten Buch zu diesem Thema („Das Schwarzmondtabu“ von Jutta Voss, ein schmerzhaftes und aufrüttelndes, aber auch sehr kraftvolles Buch) sind viele Jahre vergangen und mir fiel auf, dass, je tiefer ich in diesen roten Strom eintauchte, umso größer seine Dimensionen wurden, umso mehr wuchs er zu einem Ozean an Wissen, Bewusstsein und weiblicher Identität.

Dieses Wissen darf uns nicht mehr fehlen. In einer Zukunft, die ich mir vorstelle, kennen junge Frauen die Vorgänge ihres Körpers, sie sind vorbereitet, wenn die Menarche einsetzt. Sie lehnen sich nicht ab, sondern schöpfen aus ihrem Sein ihre volle Kraft. Sie lieben ihren Körper, ihren Zyklus und sie fühlen sich verbunden mit allem was ist. Frauen sind sich wieder ihrer wundervollen, wilden Weiblichkeit bewusst und leben frei. Sie unterstützen sich gegenseitig und stärken ihre Gemeinschaft und ihr Umfeld, weil sie aus ihrer Mitte heraus agieren, weil sie im Gleichgewicht sind.

Uns Frauen wurde jahrhundertlang gesagt, wir seien nur für Andere da. Doch es beginnt immer am eigenen Mittelpunkt. Wenn innen keine Liebe ist, kann sie nicht nach Außen strahlen. Nur wenn ich mich selbst tragen kann, ist auch Kraft für Andere da. Und dieser Mittelpunkt, der so lange vernachlässigt wurde, sitzt genau in unserem Schoß. Der rote Faden führt zurück ins Labyrinth und sagt uns jeden Monat neu, wohin die Reise gehen muss, damit Heilung stattfinden kann – Heilung für uns selbst und auch für die Welt.

Diese Reise nenne ich die stille Revolution, eine Revolution von innen heraus. In meinen Augen ist sie die einzige, welche das bestehende System nachhaltig verändern kann und wird. Jede Frau, die ihre Kraft kennt, wird Verantwortung für sich selbst und das Außen übernehmen, was unserer patriarchalischen Welt nur guttun kann. Jede Frau, die Gewalttaten gegen sich nicht mehr duldet und anzeigt, verleiht anderen Opfern Mut und eine Stimme. Jede Frau, die sich selbst die Liebe gibt, nach der sie sich sehnt, bringt auch ihre Umwelt zum Strahlen. Jede Frau, die ganz bei sich ist, ihrer inneren Stimme vertraut und ihr Selbst lebt, schlägt Wellen. Jede Frau, die verbunden ist mit ihren Wurzeln und ihrer eigenen Spiritualität, ist ohne Angst und damit unaufhaltsam. Das geht von jeder Einzelnen aus und wird dadurch allumfassend.

Dieses Thema ist essentiell, nicht nur auf individueller und gemeinschaftlich weiblicher, sondern auf globaler Ebene. Und das macht es auch zu einem politischen Thema.

Eine Sache ist mir dabei noch wichtig. Mir geht es nicht darum, Männer abzuwerten oder ein Feindbild aus ihnen zu machen, mir geht es auch nicht um Gleichstellung, denn wir sind nicht gleich. Meine Arbeit ist nicht gegen Männer gerichtet, sondern einfach nur für Frauen. Der heutige Mann agiert nicht männlich, sondern patriarchal und diese Rolle hat auch ihn tief verletzt und geschädigt. Bei vielen setzt bereits eine Rückbesinnung auf andere Werte ein. Doch dies voranzutreiben und diese Wunden zu heilen ist weder mein Weg noch meine Aufgabe.

Wir Frauen sind es, die in den letzten Jahrhunderten sowohl körperlich als auch seelisch viel gelitten und ertragen haben und um zu überleben, uns selbst verleugnen und aufgeben mussten. Das ist der Grund, warum Frauen bei mir an erster Stelle stehen.

Und damit zurück zu meinem Anliegen:

Ich möchte einen Ort für Frauen entstehen lassen, ein Zentrum von Frauen für Frauen, wo genau das gelebt und gestaltet werden soll, was meiner Meinung nach Weiblichkeit ausmacht: Verbindung und Austausch, Kreativität, Gemeinschaft und Lernen, Frauenmagie, Genuss und Sinnlichkeit, Festlichkeiten und vieles mehr – einen Ort um sich selbst als weibliches Wesen neu oder wieder zu entdecken und wahrzunehmen. Ein Zentrum für Meditation, Heilung, Entwicklung, Ritual, Bewegung, Rückzug und Rückverbindung – einen Ort, der es möglich macht, dass Frauenkraft im Außen wieder manifest wird.

Einzelne Elemente sollen dabei sein: ein kleines Ladencafé mit inkludierter Bibliothek, Räume für Gruppenveranstaltungen, Heilpraktiken, Mondkreise und Rote Zelte, Yoga und andere Arten der Bewegung, Workshops, Retreats und gerne mehr.

Auf diesem Wege suche ich Frauen, die diese Vision teilen und die Lust haben, diesen Weg mit zu gestalten und so einen Ort für Weiblichkeit zu schaffen. Gerne nehme ich auch einfach nur Ideen, Hinweise und Tipps zu Umsetzung, Finanzierung oder potentiellen Mitstreiterinnen dankbar entgegen.

Wer mit Elisabeth in Kontakt treten möchte, kann eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. schreiben oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. kontaktieren.

WAS WIR HIER BRAUCHEN IST ETWAS, DAS BERÜHRT

Aus der Lausitz ins Wendland und zurück: Sybille Tetsch ging in den 90er Jahren nach Niedersachsen, engagierte sich im Atomkraft-Widerstand. 2014 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Proschim gekommen, um sich gegen den Braunkohleabbau zu wehren. Weil beide aber nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit der Tat kämpfen wollten, eröffneten sie ihr Restaurant „Schmeckerlein“. Ein Besuch bei einer Lausitzerin, die den kulinarischen „Strukturwandel á la carte“ eingeleitet hat. 

12 Grad im Februar, Nieselregen, Brandenburg. Nach Proschim soll es heute gehen. An der Bushaltestelle des Bahnhofs wartet ein Auto, „Cowboys from Hell“ steht groß auf dem Kofferraum. Gleich neben dem Autokennzeichen prangt ein kleines Schild mit der Aufschrift „DDR“. Die Ostalgie ist hier noch zu Hause.

Der Bus fährt vorbei an stehengelassenen, auseinanderfallenden Häusern. Die Fenster zieren kleine Spitzengardinen. Sie glänzen so weiß, als wären sie gerade erst gewaschen und aufgehängt worden. Ein Zeichen der Zeit. Ein Zeichen für die Menschen, die sich auf der Suche nach einer besseren Zukunft gezwungen sahen, ihrem Zuhause den Rücken zuzukehren.

Der Bus hält in Proschim, das in vielen Berichten als „das letzte Dorf“ bezeichnet wird, weil es das letzte in der Lausitz sein könnte, das von der Landkarte verschwindet. Seit Jahrzehnten sieht es sich schon durch die Braunkohle-Abbaggerung bedroht. Heute steht es immer noch.

Der Kohleausstieg ist für 2038 beschlossen, es scheint also, als wäre das kleine Lausitzer Dorf gerettet. Mittlerweile gehört es zur Stadt Welzow, „der Stadt am Tagebau“. Nur wenige Menschen, die gegangen sind, sind zurückgekommen. Eine von ihnen ist Sybille Tetsch. Sie wartet an einer kleinen Bushaltestelle. Ihre rote Regenjacke leuchtet vor dem Grau der umliegenden Häuser. Von hier sind es nur einige Meter bis zu ihrem Wohnhaus und Restaurant.

Sybille Tetsch in ihrem Element

„Strukturwandel á la carte“

Seit 2015 versucht sich Sybille Tetsch gemeinsam mit ihrem Mann Alexander im selbsternannten kulinarischen Widerstand und engagiert sich in verschiedenen Lausitzer Netzwerken wie etwa den Raumpionieren oder Neopreneurs. Hier würde sie vor allem auf junge Menschen treffen, sie schätze den Austausch und die Vernetzung übers Internet.

Zum Schmeckerlein gehören neben dem Restaurant nicht nur ein Kräutergarten und ein kleiner Hofladen, sondern auch ein großer Steinbackofen im Außenbereich. Dieser Ort unterscheidet sich von denen in der Nachbarschaft. In jedem Detail des Hauses stecken Hingabe und Geschichte. Selbst im Steinofen, in dem im Sommer Flammkuchen zum „Genuss unterm Sternenhimmel“ gebacken werden, sind besondere Steine verarbeitet. So stammt der Schlussstein über der Ofentür von einem Haus, das der Braunkohle weichen musste. Der Besitzer schenkte ihn den Tetschs mit dem Wunsch, dass der Ofen nicht dasselbe Schicksal teilen sollte.

So ein Ort wie das Schmeckerlein, der zum Zusammenkommen einlädt und liebevoll gestaltet ist, ist Sybille Tetsch wichtig. So etwas habe es vorher in dieser Gegend nicht gegeben, daher seien die Leute auch angetan: „Bisher sieht man nur, dass in jedem Ort ein Bagger-Schaufelrad steht. Etwas Rostendes, Riesiges, das die Landschaft kaputt macht. Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wollen irgendwas machen, was die Leute berührt. Egal, ob das jetzt der Garten ist, um den ich mich kümmere, oder das Kochen meines Mannes. Hier fehlen Sachen, die berühren, die einfach schön sind.“

Dem Dorf etwas Neues schenken und der Braunkohle-Melancholie etwas entgegensetzen: Zwei Ziele, die Sybille Tetsch am Herzen liegen. Ein Teil ihres Wohnhauses ist zum Essbereich für den Winter umfunktioniert worden. Eine riesige Regalwand mit über 600 Kochbüchern lädt die Gäste dazu ein, zu stöbern und sich inspirieren zu lassen.

Ein Restaurant wie das Schmeckerlein habe in Proschim so niemand erwartet. Dass das Konzept aufgehen wird, erst recht nicht. Viele zweifelten die Idee der Tetschs an. Sybille Tetsch erinnert sich, dass sie sich nach ihrer Rückkehr mit der Resignation und der Ideenlosigkeit der Menschen des überalterten Ortes konfrontiert sah. Das Restaurant sei trotz vieler Stimmen, die nicht an seinen Erfolg geglaubt haben, ein beliebter Treffpunkt geworden. Die Tische sind am Vormittag zwar noch leer, aber für den Abend ist die Gastronomin bereits ausgebucht. Alle sind willkommen, auch die Leute aus dem Kohletagebau: „Wenn das Restaurant geöffnet ist, dann findet das Thema Braunkohle eigentlich nicht statt, weil wir alle Menschen ansprechen wollen: Die, die in der Kohle arbeiten und diejenigen, die dagegen sind. Und obwohl alle hier unseren Standpunkt kennen, scheint es zu funktionieren. Wir wünschen uns, dass sich die Menschen wieder mit Respekt behandeln.“

Mit ihrem Konzept führt Tetsch Menschen an einen Tisch, die vielleicht schon länger nicht mehr miteinander gesprochen haben. Das sei im Dorf nach ihren Beobachtungen ohnehin ein großes Problem: „Dadurch, dass die Menschen hier jetzt schon mehrfach umgesiedelt werden sollten und durch diesen Umstand in Kohlebefürworter und Kohlegegner gespalten sind, haben die Leute sich nicht mehr gegrüßt. Sie haben die Straßenseite gewechselt – in einem 300-Seelendorf. Das ist wirklich ein Kommunikationsproblem. Viele Themen werden totgeschwiegen und kommen nicht auf den Tisch. Die setzen sich nicht zusammen und sagen: Lasst uns doch mal darüber reden.“

Verrückte Ideen braucht‘s

Dass die Leute im Dorf nur selten miteinander reden, liegt laut Tetsch auch daran, dass die meisten sich nur um sich selbst kümmern würden. Da scheint es nachvollziehbar, dass sie sich anfangs nicht ganz angekommen fühlte. Zwar habe sie den Eindruck, dass das Dorf derzeit wieder etwas zusammenwachse und man versuche, alte Traditionen wieder gemeinsam zu erleben, aber Tetsch macht deutlich: „Ich würde es mir noch bunter wünschen, und dass hier mal wirklich verrückte Ideen umgesetzt werden.“

Das betrifft in ihren Augen auch das große, allumfassende Thema Strukturwandel.
Wenn sie von der Lausitzer Natur spricht, dem Potential, das hier noch schlummert, dann überschlagen sich ihre Worte fast beim Erzählen. Dann sprudeln die Träume und Vorschläge nur so aus ihr heraus – was man hier noch alles machen könnte! Warum nicht Sägewerke, die das viele Holz aus den umliegenden Wäldern verarbeiten könnten.

Sie glaube nicht an den aufgesetzten Strukturwandel. Und auch das Wort mag Sybille Tetsch nicht: „Ich finde, der Strukturbruch ist mit der Wende passiert, als hier die ganzen Kraftwerke zugemacht worden und die jungen Leute abgewandert sind. Da hat kein Mensch von Strukturwandel gesprochen.“

Sie glaube viel mehr daran, dass es den sich langsam entwickelnden Strukturwandel „von unten“ geben müsse. „Das ist sicherlich nicht ganz einfach in einer Gegend, wo die Leute lange Zeit gesagt bekamen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Ich denke aber, dass sich die Menschen mit einem Landstrich und mit dem, was sie tun, identifizieren müssen. Und wenn vieles von außen aufgesetzt wird, könnte es schwierig werden“, meint sie. Mit dem Schmeckerlein versucht sie, ihren Beitrag zu leisten. Einen, der Mut braucht und Menschen, die Lust haben, neue Projekte zu starten, sich auszuprobieren. Sie möchte Menschen zusammenbringen, die an der Verwirklichung solcher Projekte arbeiten. Deswegen will Sybille Tetsch auch als Vorbild dienen und sich mit dem Schmeckerlein als Botschafterin verstanden wissen. Ihre Message: Probiert Eure verrückten Ideen doch einfach mal aus. Ein Künstler*innenhaus könnte sie sich vorstellen, ein Projekt, das junge Menschen fördert und aufs Land bringt. Ihre Hoffnung sei auch, dass Menschen zurückkommen und das Vakuum in der Lausitz als Chance sehen.

Tetsch macht sich auch Sorgen darum, dass sich immer mehr Menschen rechtspopulistisch äußern und die AfD wählen: „Dass die Leute sich damit selber schaden, das sehen sie nicht. Ein 30-jähriger Arzt, den wir brauchen, der kommt nicht hier her, wenn hier die AfD im Stadtparlament sitzt oder den Bürgermeister stellt. Aber das ist den Leuten nicht klar.”

Wenn das schlimmer werden sollte, würden sie und ihr Mann vielleicht sogar wieder weggehen.

"Frauen kämpfen auch deshalb mehr um ihre Rechte, weil denen nichts in den Schoß gefallen ist. Die müssen kämpfen.“

Eine Frau in der Lausitz

Es scheint fast so, als ließe Sybille Tetsch sich von niemandem beirren, erst recht nicht von Männern. Mit ihrem Mann hat sie zwar schon in Niedersachsen zusammengearbeitet, aber abhängig hätte sie sich da nie gefühlt. Es wird deutlich, dass sie sich als Team verstehen. Aber wie war es für die Proschimerin als Frau in der Lausitz vor ihrem Weggang in den Westen?

Kurz vor der Wende begann sie eine Ausbildung zur „Revierförsterin“. Dass sie dort vor allem mit Männern zusammenarbeiten würde, stellte für sie gar kein Problem dar: “Ich habe immer lieber mit Männern gearbeitet. Ich mochte es auch, körperlich schwere Arbeit zu leisten. Ich wurde da akzeptiert. Das wird aber auch ein Unterschied zwischen Ost und West sein, denn die Männer im Osten waren ja auch so sozialisiert und es gewöhnt, dass da immer Frauen mit im Betrieb gearbeitet haben. Als ich mal auf einer Recyclinganlage gearbeitet habe, da hat auch keiner gefragt. Wenn da keiner da war, dann musste ich den wartenden LKW mit unserem Radlader beladen. Am Anfang haben die von dem Fuhrunternehmen vielleicht noch geguckt, weil sie Angst hatten, dass ich den LKW kaputt mache, aber das ging nicht anders.”

Allerdings wurden die Frauen nach der Wende in der Forstwirtschaft nicht mehr gebraucht. Doch auch diese Ansage verwandelte Sybille Tetsch damals in Tatendrang und begann ein Studium in Halle zur Umweltschutztechnikerin. Und ganz nebenbei war sie im Jahr 1994 Gründungsmitglied der Landfrauen in Proschim.

Frauenvereine für den Zusammenhalt

Der Landfrauenverband ist ein Verein, der zeigt, wie wichtig die Bedeutung der Frau auf dem Land überhaupt ist. Frau Tetsch erzählt, dass der Verein der Landfrauen sich gegründet habe, als das Dorf Proschim zum ersten Mal gesagt bekam, dass es stehen bleiben dürfe. Eine Bäuerin aus dem Dorf sei zu einem Treffen der Landfrauen in den alten Bundesländern gefahren und entschloss sich, so einen Verein auch in Proschim zu gründen. Der Grundgedanke dahinter: Frauen zusammenbringen. Vor allem Frauen, die nach der Wende arbeitslos geworden waren. Letztlich entwickelte sich aus einer kleinen Gruppe schließlich ein großer Orts-Landfrauenverband. Sybille Tetsch resümiert: „Ich glaube, dass die Landfrauen es damals geschafft haben, das zerrissene Dorf wieder zu einen. Als die Männer vielleicht noch nicht wieder miteinander gesprochen haben, haben sie gesagt: Jetzt machen wir ein Grillfest, jetzt machen wir etwas Schönes zusammen und sie haben die Männer mitgenommen und sie wieder zusammengebracht.“

Ihre Hoffnung setzt Sybille Tetsch auch in die jungen Frauen, etwa solche, die sich aktiv bei Fridays for Future einsetzen. Ihrer Meinung nach denken Frauen zukunftsorientierter als Männer: „Frauen kämpfen für die Zukunft, weil sie an die nächste Generation denken. Männer wollen den Status quo halten, wenn man so will. Sie wollen ihre derzeitige Macht sichern.“

Sybille Tetsch ist so eine Kämpferin. Und eine Ideengeberin, die viel Hoffnung darin setzt, dass irgendwann jemand ihrem Beispiel folgt und aus einer kleinen Idee etwas Schönes in Proschim schafft. Und wer weiß, vielleicht steht ja dann eines Tages – ein paar Häuser weiter vom Schmeckerlein – eine Ideenschmiede für Künstler*innen.

F WIE FRAGEBOGEN

Engagierte Lausitzerinnen stellen sich bei „F wie Kraft“ vor. Dieses Mal ist es…

Wie heißt du?

Tina Hentschel

Zweiter Vorname?

Den haben mir meine Eltern scheinbar noch nicht verraten.

Was fällt dir leichter: Ankommen oder Aufbrechen?

Aufbrechen ohne Anzukommen! Ich habe einen wahnsinnigen Gestaltungsdrang in mir, unsere Heimat voranzubringen und für unsere Kinder und Enkel (Oh, klingt das alt!) für die Zukunft auf feste Beine zu stellen. Immer wieder Aufbrechen also, Neues wagen, über Grenzen gehen und denken, ohne aber Anzukommen und sich auszuruhen, bequem einzurichten oder gar stehen zu bleiben. Wir leben in einer spannenden Zeit, da braucht es unseren weiblich feinfühligen und taktvoll mutigen Blick.

Wovon lebst du?

Vor allem von der Liebe und Zuneigung mir nahe stehender Menschen und einem tiefen christlichen Glauben an das Gute im Menschen. Das ist für mich auch beruflich, u. a. bei Gericht als „Anwältin für Kinder“ eine Basis, auf der ich versuche für die Kleinsten etwas zu bewirken. Um die Probleme der Menschen zu verstehen und auch Schwächen zu akzeptieren sowie positiv in Stärken umwandeln zu können, brauche ich diese Gewissheit, an die Liebe zu glauben – in so vielen verschiedenen Ausprägungen.

F wie Frau, L wie …?

Leidenschaft – als Ehefrau, Freundin, Geliebte, Weltentdeckerin, Familienmanagerin, Mutter mit großem Herz und starken Nerven, Berufstätige, Vordenkerin.

Was findet man in deiner Tasche?

Pssssst, großes Frauengeheimnis! Wir können doch der Männerwelt nicht die Tiefen unserer (Taschen)-Seele offenbaren. Aber so viel will verraten sein: fast alles, was Frau, Berufstätige und Mutter braucht.

Wie lebst du in zehn Jahren?

Da habe ich hoffentlich noch genauso viel Leidenschaft, Dinge anzupacken und den Mut, unbequem ehrlich und direkt zu sein. Mit der heute großen Hoffnung, dass unsere Kinder dann meinen, wir haben zumindest einiges in ihrem Leben richtig gemacht und auf einen guten Weg gebracht. Mit diesem Anspruch an mich selbst stehe ich jeden Morgen auf und meistere jeden sonnigen oder noch so wolkigen Tag.

Hast du einen Plan B?

Davonlaufen? Eingraben? Auswandern? Nein, im Ernst: es werden sich immer auch neue Türen öffnen, wenn sich bei bestimmten Plänen, die wir uns ausgemalt haben, eine Tür vielleicht schließt. Ich habe den festen Glauben, dass wir den großen ganzen Plan unseres Lebens sowieso nicht verstehen werden. Es ist aber beruhigend, dass es diesen bestimmt in irgendeiner Schublade dort oben gibt. Auch in Tiefen des Lebens vertraue ich darauf, an diesen zu wachsen, mit Kraft und neuer Erfahrung etwas Positives  rausziehen zu können. Das ist im ersten Moment des Scheiterns nicht immer schmerzfrei, aber wohl ganz einfach Teil unseres Lebens. Und Pläne B, C bis Z finde ich eigentlich noch viel spannender. Was da wohl alles noch auf mich zukommt …

Welches Buch liegt neben deinem Bett?

Ich habe unlängst eine Studie zum Thema Gehirnforschung gelesen. Demnach können wir uns selbst positiver „programmieren“, wenn wir jeden Tag 10 Dinge aufschreiben, für die wir dankbar sind, die uns gut gelungen sind und Freude bereiten würden. Daher liegt mein Positiv-Buch direkt griffbereit neben meinem Bett.

Wo fühlst du dich am lebendigsten?

Das sind so manch kleine Dinge unseres Lebens: mit dem Tretboot raus mitten auf den See fahren und ins kühle Nass rutschen, im Regen tanzen, laut singend durchs Haus wirbeln, mit Freundinnen den kalorienreichsten, aber leckersten Schokokuchen genießen, auf hohen Dächern die Weite unserer Heimat und manche Ferne bestaunen, ins kalte Gebirgswasser springen, auf dem Barfußweg jeden Zentimeter meiner Füße spüren, in die Sterne schauen und träumen, Schaumtürme in der Badewanne bauen, auf High Heels über unwegsame Pflastersteine das Leben jonglieren und in Herausforderungen stürzen, die andere für unmöglich erklären.

Wovon hast du zuletzt geträumt?

Vom Alltag eines kleinen Jungen, den ich beruflich begleiten durfte. Solche Träume, Dinge die uns nah gehen, machen uns letztlich in sozialen Berufen erst menschlich und lebendig. Andere Schicksale bewegen uns, wir nehmen Anteil an diesen und helfen mit großem Herz. Davon gibt es beeindruckend viele Menschen, die im Kleinen jeden Tag die Welt etwas reicher machen.

Tina Hentschel – Büro für Familienrecht und Mediation – Kids 1st Mediator

Mehr zu Tina Hentschel erfährt man auf ihrer Facebookseite

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