Aus der Lausitz ins Wendland und zurück: Sybille Tetsch ging in den 90er Jahren nach Niedersachsen, engagierte sich im Atomkraft-Widerstand. 2014 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Proschim gekommen, um sich gegen den Braunkohleabbau zu wehren. Weil beide aber nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit der Tat kämpfen wollten, eröffneten sie ihr Restaurant „Schmeckerlein“. Ein Besuch bei einer Lausitzerin, die den kulinarischen „Strukturwandel á la carte“ eingeleitet hat.
12 Grad im Februar, Nieselregen, Brandenburg. Nach Proschim soll es heute gehen. An der Bushaltestelle des Bahnhofs wartet ein Auto, „Cowboys from Hell“ steht groß auf dem Kofferraum. Gleich neben dem Autokennzeichen prangt ein kleines Schild mit der Aufschrift „DDR“. Die Ostalgie ist hier noch zu Hause.
Der Bus fährt vorbei an stehengelassenen, auseinanderfallenden Häusern. Die Fenster zieren kleine Spitzengardinen. Sie glänzen so weiß, als wären sie gerade erst gewaschen und aufgehängt worden. Ein Zeichen der Zeit. Ein Zeichen für die Menschen, die sich auf der Suche nach einer besseren Zukunft gezwungen sahen, ihrem Zuhause den Rücken zuzukehren.
Der Bus hält in Proschim, das in vielen Berichten als „das letzte Dorf“ bezeichnet wird, weil es das letzte in der Lausitz sein könnte, das von der Landkarte verschwindet. Seit Jahrzehnten sieht es sich schon durch die Braunkohle-Abbaggerung bedroht. Heute steht es immer noch.
Der Kohleausstieg ist für 2038 beschlossen, es scheint also, als wäre das kleine Lausitzer Dorf gerettet. Mittlerweile gehört es zur Stadt Welzow, „der Stadt am Tagebau“. Nur wenige Menschen, die gegangen sind, sind zurückgekommen. Eine von ihnen ist Sybille Tetsch. Sie wartet an einer kleinen Bushaltestelle. Ihre rote Regenjacke leuchtet vor dem Grau der umliegenden Häuser. Von hier sind es nur einige Meter bis zu ihrem Wohnhaus und Restaurant.
„Strukturwandel á la carte“
Seit 2015 versucht sich Sybille Tetsch gemeinsam mit ihrem Mann Alexander im selbsternannten kulinarischen Widerstand und engagiert sich in verschiedenen Lausitzer Netzwerken wie etwa den Raumpionieren oder Neopreneurs. Hier würde sie vor allem auf junge Menschen treffen, sie schätze den Austausch und die Vernetzung übers Internet.
Zum Schmeckerlein gehören neben dem Restaurant nicht nur ein Kräutergarten und ein kleiner Hofladen, sondern auch ein großer Steinbackofen im Außenbereich. Dieser Ort unterscheidet sich von denen in der Nachbarschaft. In jedem Detail des Hauses stecken Hingabe und Geschichte. Selbst im Steinofen, in dem im Sommer Flammkuchen zum „Genuss unterm Sternenhimmel“ gebacken werden, sind besondere Steine verarbeitet. So stammt der Schlussstein über der Ofentür von einem Haus, das der Braunkohle weichen musste. Der Besitzer schenkte ihn den Tetschs mit dem Wunsch, dass der Ofen nicht dasselbe Schicksal teilen sollte.
So ein Ort wie das Schmeckerlein, der zum Zusammenkommen einlädt und liebevoll gestaltet ist, ist Sybille Tetsch wichtig. So etwas habe es vorher in dieser Gegend nicht gegeben, daher seien die Leute auch angetan: „Bisher sieht man nur, dass in jedem Ort ein Bagger-Schaufelrad steht. Etwas Rostendes, Riesiges, das die Landschaft kaputt macht. Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wollen irgendwas machen, was die Leute berührt. Egal, ob das jetzt der Garten ist, um den ich mich kümmere, oder das Kochen meines Mannes. Hier fehlen Sachen, die berühren, die einfach schön sind.“
Dem Dorf etwas Neues schenken und der Braunkohle-Melancholie etwas entgegensetzen: Zwei Ziele, die Sybille Tetsch am Herzen liegen. Ein Teil ihres Wohnhauses ist zum Essbereich für den Winter umfunktioniert worden. Eine riesige Regalwand mit über 600 Kochbüchern lädt die Gäste dazu ein, zu stöbern und sich inspirieren zu lassen.
Ein Restaurant wie das Schmeckerlein habe in Proschim so niemand erwartet. Dass das Konzept aufgehen wird, erst recht nicht. Viele zweifelten die Idee der Tetschs an. Sybille Tetsch erinnert sich, dass sie sich nach ihrer Rückkehr mit der Resignation und der Ideenlosigkeit der Menschen des überalterten Ortes konfrontiert sah. Das Restaurant sei trotz vieler Stimmen, die nicht an seinen Erfolg geglaubt haben, ein beliebter Treffpunkt geworden. Die Tische sind am Vormittag zwar noch leer, aber für den Abend ist die Gastronomin bereits ausgebucht. Alle sind willkommen, auch die Leute aus dem Kohletagebau: „Wenn das Restaurant geöffnet ist, dann findet das Thema Braunkohle eigentlich nicht statt, weil wir alle Menschen ansprechen wollen: Die, die in der Kohle arbeiten und diejenigen, die dagegen sind. Und obwohl alle hier unseren Standpunkt kennen, scheint es zu funktionieren. Wir wünschen uns, dass sich die Menschen wieder mit Respekt behandeln.“
Mit ihrem Konzept führt Tetsch Menschen an einen Tisch, die vielleicht schon länger nicht mehr miteinander gesprochen haben. Das sei im Dorf nach ihren Beobachtungen ohnehin ein großes Problem: „Dadurch, dass die Menschen hier jetzt schon mehrfach umgesiedelt werden sollten und durch diesen Umstand in Kohlebefürworter und Kohlegegner gespalten sind, haben die Leute sich nicht mehr gegrüßt. Sie haben die Straßenseite gewechselt – in einem 300-Seelendorf. Das ist wirklich ein Kommunikationsproblem. Viele Themen werden totgeschwiegen und kommen nicht auf den Tisch. Die setzen sich nicht zusammen und sagen: Lasst uns doch mal darüber reden.“
Verrückte Ideen braucht‘s
Dass die Leute im Dorf nur selten miteinander reden, liegt laut Tetsch auch daran, dass die meisten sich nur um sich selbst kümmern würden. Da scheint es nachvollziehbar, dass sie sich anfangs nicht ganz angekommen fühlte. Zwar habe sie den Eindruck, dass das Dorf derzeit wieder etwas zusammenwachse und man versuche, alte Traditionen wieder gemeinsam zu erleben, aber Tetsch macht deutlich: „Ich würde es mir noch bunter wünschen, und dass hier mal wirklich verrückte Ideen umgesetzt werden.“
Das betrifft in ihren Augen auch das große, allumfassende Thema Strukturwandel.
Wenn sie von der Lausitzer Natur spricht, dem Potential, das hier noch schlummert, dann überschlagen sich ihre Worte fast beim Erzählen. Dann sprudeln die Träume und Vorschläge nur so aus ihr heraus – was man hier noch alles machen könnte! Warum nicht Sägewerke, die das viele Holz aus den umliegenden Wäldern verarbeiten könnten.
Sie glaube nicht an den aufgesetzten Strukturwandel. Und auch das Wort mag Sybille Tetsch nicht: „Ich finde, der Strukturbruch ist mit der Wende passiert, als hier die ganzen Kraftwerke zugemacht worden und die jungen Leute abgewandert sind. Da hat kein Mensch von Strukturwandel gesprochen.“
Sie glaube viel mehr daran, dass es den sich langsam entwickelnden Strukturwandel „von unten“ geben müsse. „Das ist sicherlich nicht ganz einfach in einer Gegend, wo die Leute lange Zeit gesagt bekamen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Ich denke aber, dass sich die Menschen mit einem Landstrich und mit dem, was sie tun, identifizieren müssen. Und wenn vieles von außen aufgesetzt wird, könnte es schwierig werden“, meint sie. Mit dem Schmeckerlein versucht sie, ihren Beitrag zu leisten. Einen, der Mut braucht und Menschen, die Lust haben, neue Projekte zu starten, sich auszuprobieren. Sie möchte Menschen zusammenbringen, die an der Verwirklichung solcher Projekte arbeiten. Deswegen will Sybille Tetsch auch als Vorbild dienen und sich mit dem Schmeckerlein als Botschafterin verstanden wissen. Ihre Message: Probiert Eure verrückten Ideen doch einfach mal aus. Ein Künstler*innenhaus könnte sie sich vorstellen, ein Projekt, das junge Menschen fördert und aufs Land bringt. Ihre Hoffnung sei auch, dass Menschen zurückkommen und das Vakuum in der Lausitz als Chance sehen.
Tetsch macht sich auch Sorgen darum, dass sich immer mehr Menschen rechtspopulistisch äußern und die AfD wählen: „Dass die Leute sich damit selber schaden, das sehen sie nicht. Ein 30-jähriger Arzt, den wir brauchen, der kommt nicht hier her, wenn hier die AfD im Stadtparlament sitzt oder den Bürgermeister stellt. Aber das ist den Leuten nicht klar.”
Wenn das schlimmer werden sollte, würden sie und ihr Mann vielleicht sogar wieder weggehen.
Eine Frau in der Lausitz
Es scheint fast so, als ließe Sybille Tetsch sich von niemandem beirren, erst recht nicht von Männern. Mit ihrem Mann hat sie zwar schon in Niedersachsen zusammengearbeitet, aber abhängig hätte sie sich da nie gefühlt. Es wird deutlich, dass sie sich als Team verstehen. Aber wie war es für die Proschimerin als Frau in der Lausitz vor ihrem Weggang in den Westen?
Kurz vor der Wende begann sie eine Ausbildung zur „Revierförsterin“. Dass sie dort vor allem mit Männern zusammenarbeiten würde, stellte für sie gar kein Problem dar: “Ich habe immer lieber mit Männern gearbeitet. Ich mochte es auch, körperlich schwere Arbeit zu leisten. Ich wurde da akzeptiert. Das wird aber auch ein Unterschied zwischen Ost und West sein, denn die Männer im Osten waren ja auch so sozialisiert und es gewöhnt, dass da immer Frauen mit im Betrieb gearbeitet haben. Als ich mal auf einer Recyclinganlage gearbeitet habe, da hat auch keiner gefragt. Wenn da keiner da war, dann musste ich den wartenden LKW mit unserem Radlader beladen. Am Anfang haben die von dem Fuhrunternehmen vielleicht noch geguckt, weil sie Angst hatten, dass ich den LKW kaputt mache, aber das ging nicht anders.”
Allerdings wurden die Frauen nach der Wende in der Forstwirtschaft nicht mehr gebraucht. Doch auch diese Ansage verwandelte Sybille Tetsch damals in Tatendrang und begann ein Studium in Halle zur Umweltschutztechnikerin. Und ganz nebenbei war sie im Jahr 1994 Gründungsmitglied der Landfrauen in Proschim.
Frauenvereine für den Zusammenhalt
Der Landfrauenverband ist ein Verein, der zeigt, wie wichtig die Bedeutung der Frau auf dem Land überhaupt ist. Frau Tetsch erzählt, dass der Verein der Landfrauen sich gegründet habe, als das Dorf Proschim zum ersten Mal gesagt bekam, dass es stehen bleiben dürfe. Eine Bäuerin aus dem Dorf sei zu einem Treffen der Landfrauen in den alten Bundesländern gefahren und entschloss sich, so einen Verein auch in Proschim zu gründen. Der Grundgedanke dahinter: Frauen zusammenbringen. Vor allem Frauen, die nach der Wende arbeitslos geworden waren. Letztlich entwickelte sich aus einer kleinen Gruppe schließlich ein großer Orts-Landfrauenverband. Sybille Tetsch resümiert: „Ich glaube, dass die Landfrauen es damals geschafft haben, das zerrissene Dorf wieder zu einen. Als die Männer vielleicht noch nicht wieder miteinander gesprochen haben, haben sie gesagt: Jetzt machen wir ein Grillfest, jetzt machen wir etwas Schönes zusammen und sie haben die Männer mitgenommen und sie wieder zusammengebracht.“
Ihre Hoffnung setzt Sybille Tetsch auch in die jungen Frauen, etwa solche, die sich aktiv bei Fridays for Future einsetzen. Ihrer Meinung nach denken Frauen zukunftsorientierter als Männer: „Frauen kämpfen für die Zukunft, weil sie an die nächste Generation denken. Männer wollen den Status quo halten, wenn man so will. Sie wollen ihre derzeitige Macht sichern.“
Sybille Tetsch ist so eine Kämpferin. Und eine Ideengeberin, die viel Hoffnung darin setzt, dass irgendwann jemand ihrem Beispiel folgt und aus einer kleinen Idee etwas Schönes in Proschim schafft. Und wer weiß, vielleicht steht ja dann eines Tages – ein paar Häuser weiter vom Schmeckerlein – eine Ideenschmiede für Künstler*innen.