Selbst am Polarkreis hält es Frauen eher als in den ostdeutschen Bundesländern. In Weißwasser wollen sie das nicht einfach so hinnehmen.
Wäre Ostdeutschland ein Staat, zählte er zu den Industrieländern mit der ältesten Bevölkerung der Welt. Nur in Japan und Italien leben mehr alte Menschen. Doch in den ostdeutschen Bundesländern kommt noch ein zweites, großes demographisches Problem hinzu: Es fehlt an jungen Frauen.
Eine der ersten Studien, die dieses Problem aufgegriffen hat, war die Untersuchung „Not am Mann“ des Berlin-Institutes für Entwicklung und Bevölkerung aus dem Jahr 2007. Die Frauendefizite seien europaweit „ohne Beispiel“, hieß es damals. „Selbst Polarkreisregionen im Norden Schwedens und Finnlands, die seit langem unter der Landflucht speziell von jungen Frauen leiden, reichen an ostdeutsche Werte nicht heran.“ Sogar an den kältesten und dunkelsten Orten der Erde blieben mehr Frauen als in Ostdeutschland. Fast zwei Jahrzehnte später ist der Männerüberschuss im Osten vielerorts immer noch überdurchschnittlich. In den ländlichen und wirtschaftlich abgehängten Gebieten Sachsen-Anhalts, Sachsens und Thüringens beträgt er teils mehr als 20 Prozent. Ihren Anfang nahm die Entwicklung mit der Wiedervereinigung. Seit 1991 sind mehr als 700.000 Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren aus dem Osten in westdeutsche Bundesländer abgewandert, darunter viele junge Frauen, die in ihrer Heimat wenig Möglichkeiten sahen, ihre Lebensziele zu verwirklichen. Frauen, die heute fehlen, um als Fachkräfte zu arbeiten, sich in der Politik zu engagieren, Familien zu gründen oder sich um ältere Menschen zu kümmern.
Weißwassers frisch gewählte Bürgermeisterin Katja Dietrich.
Katja Dietrich ist eine von denen, die nach der Jahrtausendwende in den Westen gingen. Doch anders als viele andere kehrte sie zurück. „Für mich ging es damals nicht darum, den Osten zu verlassen.Ich wollte einfach möglichst weit weg von zu Hause studieren“, sagt Dietrich. Vielleicht wäre sie als Westdeutsche damals auch in den Osten gegangen, überlegt sie bei einem Spaziergang durch das oberlausitzische Weißwasser. Hier lebt die gebürtige Dresdnerin seit 2022. Dietrich, 43 Jahre alt, ist im September zur Oberbürgermeisterin der Stadt gewählt worden, im November tritt sie ihr Amt an. Zu ihrer Entscheidung für eine Kandidatur geführt hat auch die Bewerbung eines AfD-Mannes, der kaum Bezug zur Stadt hatte. Als freie Kandidatin setzte sich die Sozialdemokratin gegen ihn und eine Mitbewerberin von der Wählervereinigung Klartext durch. Dietrich hätte nicht zurückkommen müssen in den Osten, erst recht nicht in die Oberlausitz, an den östlichsten Zipfel der Republik. Sie ist gut ausgebildet und arbeitete für die Vereinten Nationen und das Auswärtige Amt in der Entwicklungshilfe. Sie plante in Malawi, wie man Armenviertel lebenswerter macht, und half 2017 hinter der umkämpften Front im Irak beim Wiederaufbau der vom IS zerstörten Gebiete. „Es gab auch andere berufliche Optionen in Deutschland. Aber ich wollte zurück, weil ich aus der Ferne beobachten konnte, dass in Sachsen einiges schiefläuft. Und Sachsen ist mein Zuhause.“ Wer wissen will, was in Sachsenschief läuft, muss auch nach Weißwasser blicken. Wie die ganze Kohleregion Lausitz befindet sich die Stadt in einem enormen Transformationsprozess, bis 2038 soll der letzte Tagebau stillgelegt werden. Der Niedergang in der einstigen Glasbläserstadt begann wie in vielen ehemaligen Industriezentren der DDR bereits nach der Wende. „In den Neunzigern war hier nichts mit blühenden Landschaften. Abriss, zumachen, wegziehen und fertig, hieß es damals“, sagt Dietrich, als sie vor der Ruine der „Gelsdorfhütte“, eines einstigen Zentrums der Glasproduktion, haltmacht. Die Einwohnerzahl in Weißwasser hat sich seitdem mehr als halbiert. Lebten 1990 noch mehr als 35.000 Menschen in der Stadt, waren es 2023 nur noch knapp 15.000. Die Geburtenrate ist in den letzten Jahren massiv zurückgegangen. Auch die AfD ist beliebt in Weißwasser: Bei der Landtagswahl in Sachsen gaben ihr fast 39 Prozent der Wähler ihre Stimme. „Ich glaube nicht, dass es einfach ist, gegen einen AfD-Kandidaten zu gewinnen in der Region. Das war kein Selbstläufer“, sagt Dietrich. Rückenwind erhielt sie im Wahlkampf von regionalen Frauennetzwerken wie „Frauen.Wahl.Lokal Oberlausitz“, einem Bündnis, das Frauen dabei unterstützt, in der Politik aktiv zu werden. „Ich bin auch nach Weißwasser gekommen, weil es viele Frauennetzwerke gab. Man weiß, man kann hier ankommen und andere Frauen treffen, die sich politisch einsetzen.“
Sozialwissenschaftlerin Franziska Stölzel.
Eine von Dietrichs Unterstützerinnen ist Franziska Stölzel. Die 30 Jahre alte Sozialwissenschaftlerin kommt aus der Region und ist geblieben. Ihren Abschluss machte sie an der Hochschule im knapp 50 Kilometer entfernten Görlitz. Sie treibt es besonders um, dass so wenige Frauen in der Kommunalpolitik sind. Im deutschlandweiten Vergleich bildet der Freistaat eines der Schlusslichter, was Frauen in Ämtern angeht. Nur schwerlich könnten sie alte Männernetzwerke durchbrechen. Auch Stölzel stieß auf Widerstände, als sie sich für ein Amt in der Politik interessierte. Sie habe sich Sprüche wie „junge Frauen wählen wir nicht“ anhören müssen. Auch „blöde Nachrichten“ auf Facebook habe sie wegen ihres politischen Engagements erhalten. Bei anderen Frauen gingen Sexismus und Bedrohungen oft unter die Gürtellinie. Doch die Sicht der Frauen in der kommunalen Politik ist wichtig, auch weil die dort gefällten Entscheidungen sie oft stärker betreffen als Männer. Forschungsergebnisse zeigen, dass Frauen öfter auf Bus und Bahn angewiesen sind, weil sie häufiger kein Auto besitzen. „Ein klassisches Thema in der Region: Straße oder Schiene? Es ist nur Geld für eine Sache da. Und wenn man schaut, wie männlich dominiert die Entscheidungsebenen sind, dann ist klar, wo die Priorität liegt“, sagt Dietrich. Nicht nur in der Politik dominiert die männliche Perspektive in der Oberlausitz, die Region ist auch wirtschaftlich technikfokussiert. Viele Frauen bevorzugen jedoch Berufe im Dienstleistungssektor. „Da kann ich den Mädchen dreimal sagen, dass sie Schweißerinnen werden können. Aber wenn ich beruflich etwas anderes machen will, sind die Ausbildungsplätze eben nicht da“, so Dietrich. Vielen jungen Frauen fehlten auch ganz banale Dinge, um sich für eine technische Ausbildung zu entscheiden, fügt Stölzel an. Da gehe es um nicht vorhandene Frauentoiletten, Umkleideräume und Duschen. „Manche sagen mir auch, ich habe keine Lust, irgendwo zu arbeiten, wo ein Erotikkalender im Spind hängt“, so die Sozialwissenschaftlerin. Am Ende des Spaziergangs durch Weißwasser kommt die Studie „Not am Mann“ zur Sprache, die Stölzel gerne zur Lektüre empfiehlt, um in die Problematik einzusteigen. „Eigentlich müsste die Studie ‚Not an der Frau‘ heißen“, findet sie, „denn es war und ist die Krise der Frauen, die sie dazu bewegt hat, den ländlichen Raum in Ostdeutschland zu verlassen.“
Ein DDR-Mosaik erinnert an die Vergangenheit
Die Soziologin Katja Salomo sieht das ähnlich: „Manchmal spricht man von einer Krise der Männlichkeit auf dem Land. Aber eigentlich ist es erst mal eher eine Krise der Frauen. Und sie ist so ausgeprägt, dass die Frauen gehen.“ Salomo ist in einem kleinen Ort in Ostsachsen aufgewachsen. Sie hat lange zur Demographie in Ostdeutschland geforscht. Das Erstarken der AfD in Ostdeutschland könnte ebenfalls ein Faktor sein, warum Frauen es sich zweimal überlegen, in ihre ländliche Heimat zurückzukehren. „Die AfD propagiert ein Frauenbild, das junge Frauen eher abschreckt“, sagt Salomo. Auch Franziska Stölzel denkt, dass die AfD-Erfolge junge Frauen davon abhalten heimzukommen. Das höre sie immer wieder im Gespräch mit Freundinnen. Bei jungen Männern hingegen kam die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg besonders gut an. Findet die AfD eine größere Zustimmung dort, wo Frauen fehlen? 2007 gab es noch keine AfD, sondern nur rechtsextremistische Kleinstparteien wie die NPD. Doch bereits damals stellten Forscher fest: Wo junge Frauen gehen, wird tendenziell mehr rechtsradikal gewählt. Auch weil die Männer in diesen Orten keine Partnerin fanden. „Es ist zu simpel zu sagen, Männer wählen rechtsextreme Parteien, weil sie keine Frauen haben“, sagt allerdings Katja Salomo. Die Soziologin untersuchte in einer Studie die demographischen Entwicklungen in Thüringen. Menschen in Regionen mit vielen alten Bewohnern und wenig jüngeren Frauen fühlten sich oft „abgehängt“. In diesen Gegenden seien fremdenfeindliche, nationalistische und demokratieskeptische Einstellungen weiterverbreitet als in anderen Teilen Deutschlands. „Dass vor allem auch junge Männer rechtsextreme Parteien wählen, ist kein speziell ostdeutsches Phänomen“, stellt Salomo fest. Über Manfluencer in den sozialen Medien kämen Jugendliche weltweit mit problematischen Männlichkeitsbildern in Berührung. Und deren Vorstellungen überschnitten sich oft mit dem Männerbild der Rechtsextremen. Beide Sphären stellten die Gleichberechtigung von Frauen infrage. „Wenn man weniger Kontakt zu jungen, progressiven Frauen hat, werden die eigenen Diskussionsnetzwerke und -inhalte homogener“, sagt Salomo. Das ist für sie eine Erklärung dafür, warum Männer in diesen ländlichen Gebieten anfällig für solche Ideologien sind. Auch die Landflucht ist kein rein ostdeutsches Phänomen. Doch es verstärkt sich dadurch, dass im Osten prozentual mehr als doppelt so viele Menschen auf dem Land leben als im Westen.
„Ich bin nicht pessimistisch, aber in den kommenden Jahren wird sich das demographische Problem nicht lösen“, sagt Julia Gabler von der Hochschule Zittau/Görlitz. Vielmehr sollte man überlegen, wie man diese Entwicklung politisch gestaltet, sagt die Sozialforscherin. Gabler stammt aus Rostock und lebt seit 2013 in Görlitz. Sie forscht nicht nur in der Region, sondern setzt sich auch aktiv in Frauennetzwerken ein. Anfang Oktober organisierte sie mit anderen eine Strukturwandelkonferenz zum Thema „Geschlechtergerechtigkeit in Transformationsprozessen“. „Ich war ein wenig verwundert, wie wenig männliche regionalpolitische Vertreter sich dort blicken lassen haben“, sagt Gabler. Sie stellt immer wieder fest, dass Männer anders auf die Probleme schauen als Frauen. Männer schauen etwa vor allem darauf, wie viele Arbeitsplätze man schaffen kann oder wie hoch die Investitionssummen sind, die in die Region fließen. Den erhofften Erfolg habe das allerdings nicht gebracht, meint Gabler. Gerade junge Frauen verließen die Gegend trotzdem. Mit dem zunehmenden Fachkräftemangel habe sich die Blickrichtung aber endlich mehr auf die sogenannten weichen Standortfaktoren verlagert, die auch die Lebensqualität in der Region berücksichtigen. „Nicht nur der Arbeitsplatz ist wichtig, sondern auch das Umfeld muss attraktiv sein, um mit den urbanen Räumen konkurrieren zu können.“ Im Strukturwandel sieht Gabler die Chance, Standortfaktoren wie Bildung oder Freizeitangebote gleichwertig mit der Frage der Schaffung von Arbeitsplätzen zu behandeln. Auch damit weniger junge Frauen ihre Koffer packen, um in den Städten ihr Glück zu suchen. Manchmal fragen Bürgermeister die Forscherin, was sie denn machen sollen, um die Frauen in ihre Orte zurückzuholen.Gabler antwortet dann: „Ein paar Frauen sind doch noch da, oder? Gehen Sie doch mal mit ihnen einen Kaffee trinken und hören ihnen zu.“
Dieser Beitrag stammt aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 27.10.2024
Text: Jannis Holl
Fotos: Robert Gommlich