Teil 1 (Ver)Kommen
„Es ist doch das Recht von Zwanzigjährigen,
frech und unverschämt zu sein
– und auch das Mindeste,
was ich von ihnen erwarte.“
(Annette Humpe)
© Anne Isensee
Auf der Toilette wird mir klar, wo ich eigentlich hingeraten bin. Ein Galgen und der dazugehörige Strick hängen über dem Spülkasten. Ich muss meine Aufregung und Wut herunterfahren. Ich warte einige Sekunden und atme tief durch. Wie bin ich eigentlich hierhergekommen und vor allen Dingen: Wie komme ich hier glimpflich wieder heraus?
Als ich im März 2019 nach Görlitz zog, hatte ich zuvor schon einige beeindruckende Menschen kennengelernt. Sie waren es, die mir die Entscheidung, zurück nach Sachsen zu ziehen, abnahmen. Während ungläubige Großstadtfreund*innen mich für verrückt hielten, weil in Görlitz nichts gehen würde, hatte ich das eindeutige Gefühl, mich in ein gemachtes Nest zu setzen und von der Arbeit Anderer zu profitieren. Kühlhaus, feministisches*forum, Rabryka, Stille Post, Camillo-Kino, ZUKUNFTSVISIONEN und Kfuenf: Alles Initiativen, die die prunkvollen und unfertigen Fassaden der Stadt mit Leben füllen. Mein euphorischer Fischaugenfokus ließ die Randerscheinungen der Region jedoch verschwimmen. Denn neben den tollen, sogenannten weichen Standortfaktoren gibt’s eben auch die harte Realität und die stößt relativ schnell auf. Subkultur hat hier eine andere Konnotation, die Betonung liegt auf Sub. Sie läuft (teilweise) unter dem Radar und sie ist (noch) in der Minderheit. Sie besteht nicht um ihrer selbst willen, sie (er)füllt eine Lücke und einen Zweck. Sie kämpft um Verständnis und Anerkennung.
Hängenbleiben
Der Entschluss der Großstadt den Rücken zu kehren, stand schon fest als ich dort ankam. Um die überwältigende Anzahl an Eindrücken, Bewegungen, Geräuschen und Kontrasten nicht verarbeiten zu müssen, legte ich mir Scheuklappen an. Dadurch wurde mein Wahrnehmungsfeld enger und die Belanglosigkeit von Leid und Alltag anderer Menschen immer größer. Dann erfüllte mich die sinnstiftende Arbeit in einem Sozialunternehmen, alte Freund*innen aus meiner Heimatstadt zogen hinterher. Ich entwickelte romantische Gefühle für das Kottbusser Tor und einen Mann. Und plötzlich gehörte ich ganze sechs Jahre lang zu den Hängengebliebenen in Berlin. Immer noch besser als hängengeblieben in Kodersdorf? Gute Frage, keine Ahnung!
Meine Arbeit ließ mich in einem Netzwerk progressiver Stadt- und Weltgestalter*innen bummeln, die mir das Gefühl gaben, dass es für jedes noch so komplexe Problem eine Lösung oder zumindest ein ganz nettes Produkt gab. Wir bestätigten uns kontinuierlich in unserer Selbstwirksamkeit. Auf Konferenzen wurden wir zum Teil junge Visionär*innen genannt. Peinlich, aber auf den Punkt. Denn man musste uns nur irgendein Schlagwort wie Feminismus, Fashion, Art, Klimawandel und Postwachstum vor die Füße werfen und wir konnten uns stundenlang gegenseitig zutexten. Trends zwischen Bienenwachstüchern, Menstruationstassen, Mietpreiserhöhungen und Ugly-Shoes stellten mich zunehmend vor die Frage: Warum tu ich mir das eigentlich an?
Die Verbreitung einer weltoffenen und diversen Szene ist natürlich ganz nett anzuschauen. Wenn ich heute meinen Freund in Berlin besuche, dann setzen wir uns oft auf eine Bank am Görlitzer Park und „gucken Leute“. In Görlitz auf dem Wilhelmsplatz geht das auch. Die Kontraste verschiedener Haarfarben und Anoraks ist zwar geringer, aber die Klientel nicht weniger interessant. Denn wir kennen diese Menschen nicht. Sie zählen nicht zu unserem State of Mind. Wir können nur mutmaßen, was sie rumtreibt. Wir sind die Minderheit und nicht andersrum.
Quo vadis?
Das gilt aber nicht nur für die Straße, sondern auch für Konferenzen und politische Austauschformate. Ende 2018 besuchte ich die Novembertagung Quo vadis Görlitz? an der HSZG. Meine Teilnahme galt als Test, ob ich mit der Hochschule und dem geplanten Masterstudium warm werden konnte. Die Thementische des World-Café-Formats waren äußerst interessant. Alle durften sich interdisziplinär über die Zukunft von Görlitz austauschen. Nur war ich die einzige junge Frau in einer Gruppe älterer Männer, die sich in einer vollkommen fehlplatzierten Diskussion verhaspelten. Als ich sie darauf hinwies und den Wunsch äußerte, vielleicht auch andere Menschen in dieser Gruppe zu Wort kommen zu lassen und zum Thema zurückzukehren, erntete ich überraschte und verärgerte Blicke, aber keine Einsicht. Ich erlaube mir hier als junge Visionärin (Triggerwarnung: Dies ist eine Zuschreibung) einen kurzen Exkurs zu alten, weißen Männern (Triggerwarnung: Dies ist eine Zuschreibung): Wir diskriminieren Sie nicht – wie häufig angenommen und vorgeworfen - aufgrund Ihrer Haut- und Haarfarbe, oder noch schlimmer, Ihrer Lebenserfahrung oder Ihres Alters. Wir weisen Sie lediglich auf Ihre bereits tauben Ohren und das fehlende Interesse an neuen und alternativen Perspektiven hin. Wer im Alter in Bewegung, offen und flexibel bleibt, wird länger leben. Das ist wissenschaftlich bewiesen. Wir tun das neben unserem Kampf um Anerkennung also auch für Sie! Und wenn wir uns schon die Mühe machen, Sie zu siezen, dann tun Sie uns doch bitte auch den Gefallen! In Ordnung?
Aber hey, fair enough, auch wir Gutfrauen und Sprachpartisaninnen sollten unsere Perspektive ändern. Genau deswegen bin ich hier gelandet. In Berlin habe ich eine Stadt konsumiert, die mich nicht braucht und die sich die ganze Zeit selbst zitiert. Ich habe Menschen Wohnraum weggenommen, die sich in Neukölln viel mehr zuhause fühlten als ich. Ich habe es dem armen Berlin übelgenommen, dass es im Vergleich zu Görlitz verstanden hat, dass Subkultur sich verkaufen lässt und damit junge, innovative oder ganz verlorene Menschen anzieht. Und dass Berlin mit dieser Dynamik den nervigen Rest an überholten, arbeitslosen und armen Menschen ganz automatisch an den Rand drängt und unsichtbar macht. Versteht mich nicht falsch: Es ist ganz wunderbar, dass die Schulden der Hauptstadt schrumpfen und dass es dort Soli-Mates, Tiny-House-Universitys und baumpflanzende Browser gibt. Aber die bringen recht wenig, wenn von Britz über Brandenburg bis nach Sachsen kaum jemand davon profitiert oder zumindest damit in Berührung kommt. Es bringt wenig und ist fast schon gefährlich, wenn immer neuere Neuköllner*innen in gemeinwohldisorientierten Läden den neusten Schrei shoppen. Und wenn diese Leute maximal übers Wochenende - falls der DJ in der Rummelsbucht nicht ganz so cool ist - irgendeinen feuchten Landidylle-Auszeit-Film schieben, der mit der Realität vor Ort absolut nichts zu tun hat.
Reinplautzen
Zugegebenermaßen, das war ein bisschen zu doll und gemein. Kurzum, ich hatte keine Lust mehr. Ich bin verkommen. Ich wollte raus. Ich wünschte mir, dass das wenig Gute dieser Stadt – die alternativen Ideen für das Gemeinwohl, die gefeierte Vielfalt - nicht mehr großstädtische Eigenheiten blieben. Dass sie einen Diskurs mit dem vermeintlich Fremden und Entfernten suchten. Warum trauen sich denn Social Entrepeneur*innen nicht nach Niesky, Forst und Ziempel-Tauer, wenn sie doch die Welt verändern wollen? Im Strukturwandel wartet eine ganze Reihe Veränderungen, die gestaltet werden wollen. Die Annahme, diese Menschen würden nicht kommen, weil ihnen die Party und der Späti fehlen, greift zu kurz. Ich glaube, sie bleiben da, wo sie sind, weil sie nicht mehr die gleiche Sprache wie die Menschen vor Ort sprechen wollen (und können). Die junge und großstädtische Art neigt dazu, irgendwo reinzuplautzen, alles neu zu erfinden und weder vorsichtig noch neugierig zu erforschen, was eigentlich schon da ist. Einfach mal (ab)warten oder geduldig sein sind keine Großstadttugenden. Also bitte liebe Menschen, wenn ihr euch doch in die Lausitz traut: Ihr müsst das Rad nicht komplett neu erfinden. Hier sind schon viele tolle Ideen und Netzwerke, an die ihr mit eurem Wunsch nach Selbstverwirklichung ganz einfach andocken könnt.
Das Grandiose nach der Ankunft: (Fast) alle freuen sich, dass ihr da seid. An eurem Umzugstag werden euch spontan Nachbar*innen helfen, die ihr noch nie zuvor gesehen habt. Vom Bürgerbüro bis zur Hausverwaltung heißen euch alle herzlich willkommen und hegen Interesse an eurem Werdegang. Nach ein paar Wortfetzen in der Kneipe werden euch wie von selbst geliehenes Werkzeug, Hilfe beim Löcher bohren oder Jobangebote zufliegen. Und innerhalb von fünf Stunden mobilisieren sich in einer Telegramgruppe zwölf wildfremde Frauen, die sich mit euch zum AfD Frauenstammtisch trauen. Hier erlebt ihr echte Sister- und Neighbourhood! Ehrlich, ich bin total begeistert!
(Fehl-) Elan
Nunja, jetzt bin ich hier gelandet. Wut statt Begeisterung auf dem Klo, mit Galgen, Strick und lustigem Spruch an der Wand. In einer fremden Stadt als außerirdische Großstädterin mit dem offensichtlich falschen Humor auf dem lokalen Frauenstammtisch der AfD. Zehn Tage nach meinem Umzug verstehe ich, was dieser Stadt nach der Bürgermeister*innenwahl blühen könnte. Zehn Tage nach meinem Umzug wird mir erst wirklich bewusst, dass das Gefühl, Teil einer lokalen Minderheit zu sein, mich nicht nur im Engagement bestärkt, sondern mir auch wirklich Angst macht. Dass die verschwommenen Randerscheinungen meines Fischauges ganz plötzlich zentral und real werden. Und dass das Einzige was ich als zugezogenes Alien leisten kann, eine neugierige und langsame Erforschung ist. Und dabei stolpere ich über meinen eigenen (Fehl)Elan, über Argumente und Rückschlüsse, die überhaupt keinen Sinn ergeben, über Wut und Verdruss, über Sympathien für die falschen Frauen. Ich atme tief durch und ziehe am Strick. Er gehört nicht zur Klospülung. Ich führe mir vor Augen, weswegen ich hierhergekommen bin. Ich bin keine Maria, ich bringe keine Wahrheit, ich stürze mich in die Kontroverse und in tausend Widersprüche. Sie sind die einzigen Triebfedern für Veränderung und haben mich hierhergezogen. Mal sehen, wie lange ich im Vergleich zu all den anderen geduldigen Lausitzerinnen aushalte. Ich schlage die Tür auf und sehe sie vor mir. An einem Tisch, eindringlich, gestikulierend, augenverdrehend und mit der zarten Hoffnung, dass all das Aufeinanderprallen irgendetwas bringt. Ich setze mich hin und höre zu.
Lisa W...
Anne Isensee...
... ist Animatorin und Regisseurin für Animations-Kurzfilme und Musik Videos aus Berlin. Sie studierte Animation an der Filmuniversität Babelsberg und der École nationale supérieure des arts décoratifs Paris. Seit 2020 studiert sie als Fulbright-Stipendiantin an der School of Visual Arts New York im Master Computer Arts. Ihre Kurzfilme "Megatrick", "Ich Will" und "1 Flasche Wein" werden auf Internationalen Festivals gezeigt.
https://www.anneisensee.com/ | https://vimeo.com/user41831769