Wer beim Thema Selbstfürsorge jetzt schon nicht weiterlesen will, sollte es sich wirklich anders überlegen. Die Leipziger Autorin Svenja Gräfen versteht es in ihrem neuen Buch „Radikale Selbstfürsorge jetzt – eine feministische Perspektive“, die Leser:innen auf humorvolle und verständnisvolle Weise mitzunehmen auf einen Weg, den wir in dieser Pandemie wirklich gebrauchen können: Einen Weg hin zu mehr Selbstverständnis, zur Anerkennung der eigenen Bedürfnisse. Dabei erzählt sie von ihren Erfahrungen und Aha-Momenten, beleuchtet auch kritische Seiten der Selbstfürsorge-Industrie und zeigt, wie der Begriff ganz grundsätzlich neu verstanden werden kann.
Ann-Kathrin Canjé hat sie für FwieKraft zu ihrem neuen Buch interviewt.
Zu Beginn der Klassiker: Wie kam die Idee zu diesem Buch?
Ich habe mich immer schwer getan mit dem Thema, auch weil mir die feministische Perspektive darauf gefehlt hat. Dann habe ich mich aufgrund diverser, persönlicher Krisen auf verschiedenen Ebenen mit dem ganzen großen Thema Selbstfürsorge auseinandergesetzt. Viel gelesen, viel gelernt, viel darüber mit Freund:innen gesprochen. Irgendwann hatte ich nicht nur die Idee, sondern auch einfach das Bedürfnis, das alles aufzuschreiben, um es zu sammeln, um es festzuhalten, auch für mich selbst. Ich habe beim Schreiben dann relativ schnell gemerkt: Okay, das könnte auch für meine Freund:innen und im Grunde auch für viele andere Menschen interessant und hilfreich sein. So kam ich auf die Idee.
Warum ist es so schwer, mit der Selbstfürsorge anzufangen und warum sträuben sich so viele Menschen noch dagegen?
Ich glaube, ein Hauptgrund könnte sein, dass es ja mit Verletzlichkeit zu tun hat, also damit, sich auch eine Schwäche einzugestehen oder überhaupt, dass man Bedürfnisse hat, die vielleicht nicht gestillt sind. Es geht einfach um mehr als so ein „sich-pampern“, etwas betäuben, damit man sich eben nicht mit etwas auseinandersetzen muss. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, dass man sich auch mit Dingen auseinandersetzen muss, die unangenehm sein können. Es ist anstrengend, es kostet super viel Energie, etwas zu verändern, auch wenn es nur so Dinge sind, wie aus Gewohnheit jeden Abend lange vorm Fernseher zu sitzen und dann abends nicht einschlafen zu können. Wenn man das eine gewisse Zeit gemacht hat, dann ist es einfach so doll im Gehirn drin, dass es anstrengend ist, das zu ändern. Ich glaube, das schreckt ganz einfach ab.
Wie hast Du es selbst geschafft, Selbstfürsorge als etwas Hilfreiches anzuerkennen? Als etwas, das wir brauchen, das uns gut tut – und wegzukommen von der Ablehnung, die etwa beim Wort „Self Care“ kommt?
Erstmal so ein bisschen aus der Not heraus, weil es mir wirklich nicht gut ging. Ich stand gefühlt vor einem Burn Out und habe mich dann gezwungenermaßen mit dem Thema beschäftigt. Ich habe erstmal gesucht, was ich tun könnte, um mir zu helfen, weil es so einfach nicht weiter gehen konnte. Durch diesen Prozess und auch durch die Lektüre bestimmter Bücher, also Self-Help Literatur und auch zum Teil durch spirituelle Bücher habe ich dann irgendwann gemerkt: Okay, was ich suche, kann ich mir im Endeffekt erstmal nur selbst geben.
Ich hatte sehr lange die Erwartung, dass ich mir das aus dem Außen ziehen kann. Aus beruflichen Erfolgen oder einer bestimmten Follower:innenanzahl. Ich dachte, dass mir das dann so die Leichtigkeit, die Erfüllung gibt, nach der ich suche. Aber: Pustekuchen. Das war so der Moment, in dem ich realisiert habe: Ne, erstmal muss ich irgendwie mit mir selbst klar kommen. Es reicht nicht, diese Dinge zu tun, die dann so als „Self Care“ gelabelt sind, sondern ich muss da einfach etwas tiefer graben, mich mit Glaubenssätzen und Denkmustern auseinandersetzen.
© Paula Kittelmann
Du lädst in Deinem Buch auch dazu ein, sich darauf einzulassen, mit Dingen mal neu anzufangen, neue Gewohnheiten kennenzulernen, neue Rituale zu entdecken. Gibt es etwas, mit dem Du 2021 auch zum ersten Mal neu angefangen hast?
Da muss ich fast passen oder enttäuschen, weil dieses Jahr bei mir absurderweise bis jetzt von sehr viel Arbeit geprägt gewesen ist. Aber: Auch wenn ich viel zu tun hatte, weil eben das Buch zu finalisieren war, ich parallel noch an anderen Projekten gearbeitet habe und noch arbeite, versuche ich mir mehr und mehr Zwischendurch-Auszeiten zu gönnen. Ich glaube es fällt mir inzwischen auch leichter, mal so eine To-Do-Liste gehen zu lassen. Das ist eine Sache, die ich immer noch übe, auch 2021.
Dein Buch trägt den Untertitel „eine feministische Perspektive“. Wie kann Selbstfürsorge denn Deiner Meinung nach feministisch sein?
Also erstmal ist es natürlich ein bisschen die Vorrausetzung für gesellschaftliches, politisches Engagement, dass ich auf mich aufpasse, mit meinen Kräften, mit meiner Energie haushalte und mich um mich selbst kümmere. Ansonsten laufe ich Gefahr, auszubrennen und gar nichts mehr machen zu können. Allein daher sollte es Bestandteil sein von Feminismus, von Aktivismus, dass ich mich eben auch um mich selbst kümmere. Dass ich nicht nur gucke: Wie kann ich die Missstände, die Strukturen, die Welt verändern und zu einem sicheren und besseren Ort machen, sondern dazu gehört auf jeden Fall auch, dass ich nett zu mir selbst bin, dass ich auf meine Bedürfnisse achte und schaue: Wie viel kann ich denn gerade überhaupt geben?
Zum anderen ist es natürlich auch so eine Art von Rebellion, wenn eben Selbstfürsorge nicht als Ausrede dafür gilt, dass ich irgendwelche teuren Kosmetikprodukte konsumiere oder als Selbstoptimierungsmaßnahme verstehe, damit ich noch produktiver sein und noch mehr arbeiten kann im Kapitalismus, sondern einfach als Selbstzweck.
Also dass ich jetzt nicht sage: Ich mache eine Pause, damit ich danach noch mehr leisten kann, sondern ich mache jetzt eine Pause, weil es mir dann besser geht. Ich habe verdient, dass ich mich besser fühle. Auch wenn die Gesellschaft oder die politischen Strukturen mir eigentlich sagen: Nö, Du hast es nicht verdient. Dann kämpfe ich im Kleinen natürlich, aber ich kämpfe trotzdem gegen diese ungerechten Strukturen an.
Spoiler für die, die das Buch noch nicht gelesen haben: Ganz am Ende gibt es ja eine Liste mit Dingen, die für Dich zu Selbstfürsorge gehören können. Was von dieser Liste hast Du denn heute vielleicht schon gemacht?
Noch nicht so viel, weil es noch früh ist, aber so ein paar Dinge, die auf der Liste zu finden sind, habe ich tatsächlich schon gemacht:
Ich habe schon einen kleinen Spaziergang mit meinem Hund gemacht, ihn schon gestreichelt (auch ein Punkt auf der Liste) und ich habe meinen Wecker später gestellt, weil ich gestern so müde war und gemerkt habe: Ich brauche mehr Schlaf. Das ist mein Favorite-Thing to do: Wann immer es mir möglich ist, so lange zu schlafen, wie es möglich ist. Gestern habe ich außerdem einen Telefontermin auf nächste Woche verschoben, weil ich gemerkt habe: Nö, das ist mir gerade zu viel. Das habe ich vor ein, zwei Jahren noch nicht gemacht, weil ich immer dachte: den Termin haben wir jetzt vereinbart, da muss ich dann auch können. Jetzt habe ich einfach eine Mail geschrieben und gesagt: Können wir das bitte auf nächste Woche verschieben. Das war sehr selbstfürsorglich.
Das Buch ist ja in Zusammenarbeit mit Slinga Illustration entstanden. Wie kamst Du auf die Idee? Wieso war es Dir wichtig, diese Illustrationen zu haben und was bedeuten Sie Dir?
Ich wollte, dass es für jede Person so zugänglich wie möglich ist und hatte das Gefühl, dass Illustrationen total gut unterstützen können, einfach weil dadurch der Zugang niedrigschwelliger wird. Die Illustrationen verstärken zusätzlich das, was man gelesen hat.
Da hatte ich sofort Lea bzw. Slinga Illustration im Kopf, weil ich ihre Arbeit kenne und schätze, weil sie eine Freundin von mir ist, weil sie auch zu solchen Themen ganz viel macht; also nicht nur Feminismus, sondern auch Mental Health, Körperbilder und viel zum Thema Angst.
Ich finde, es ergänzt sich ganz schön. Und – das kann ich selbst nicht so sagen, aber das haben mir andere gespiegelt – das Buch hat einen humorvollen Anteil und ich glaube, dass gerade durch die Illus nochmal mehr Humor mitreinkommt.
© Slinga Illustration
Was wäre das Schönste für dich, dass ein:e Leser:in nach der Lektüre deines Buches macht?
Ich glaube, das Schönste fände ich erstmal, dass eine Leserin oder ein Leser sich nicht schon während des Lesens unter Druck gesetzt fühlt, sondern einfach eine schöne und entspannte Zeit mit dem Buch hat. Und es danach vielleicht auch schafft, den Druck rauszunehmen und nicht das Gefühl hat, dass Self Care jetzt auf die To-Do-Liste muss, die sowieso schon zu voll ist, sondern, dass vielleicht so eine neue Art der Beziehung zu sich selbst entstehen kann. Dass man so ein bisschen nachsichtiger, verständnisvoller ist.
Wenn man sich vielleicht vorgenommen hat: Jetzt lese ich erst ein paar Seiten in dem Buch, dann mach ich noch mein Work Out, dann meditiere ich, dann trinke ich noch einen Tee und dann gehe ich ins Bett – dass man stattdessen vielleicht einfach sagt: Okay, ich lese jetzt noch ein bisschen und wenn ich müde bin, dann gehe ich schlafen, weil das gerade mein Bedürfnis ist.
Wie würdest Du denn beispielsweise Menschen in der Lausitz erklären, die eher in kleinen Gemeinden oder Dörfern leben, sehr viel Care Arbeit leisten und in ganz vielen Bereichen tätig sein müssen und vielleicht nicht so viele Zugänge haben, dass Selbstfürsorge sich auch für sie lohnt?
Genau aus dem Grund ist es mir ein Anliegen gewesen, dieses Buch zu schreiben. Ich finde es so wichtig, dass darüber gesprochen und aufgeklärt wird, dass Selbstfürsorge nicht nur ist, in den fancy Yoga Kurs zu gehen, teure Kosmetikprodukte zu kaufen, ein Sabbatical zu machen oder sich jeden Tag zwei Stunden Zeit nur für sich zu nehmen, sondern dass es schon mit Kleinigkeiten anfängt.
Besonders in so krass herausfordernden Zeiten wie gerade kann man versuchen, damit anzufangen, sich selbst mehr Verständnis entgegenzubringen. Die eigenen Bedürfnisse nicht zu verleugnen. Die eigenen Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern auch gerne mal zu sagen: Es ist gerade einfach alles zu viel, ich bin gerade gestresst und ängstlich. Sich da eine Verletzlichkeit, Menschlichkeit zuzugestehen.
Vielleicht auch einfach die eigenen Bedürfnisse nicht nur wertzuschätzen, sondern auch zu kommunizieren. Gegenüber Partner:innen, vielleicht auch Kindern. Sich da eben nicht zu zwingen, eine Fassade aufrechtzuerhalten und so zu tun als wäre man stark und würde alles easy wegstecken, sondern auch einfach mal zu sagen: Mir ist es gerade auch zu viel und ich brauche gerade mal zehn Minuten für mich.
Weinen ist eine total gute Sache, weil man dadurch Stress abbaut und sich durch Gefühle hindurchmanövrieren kann.
Man kann auch schauen: Was habe ich denn für Möglichkeiten der Vernetzung gerade? Auch in der Gemeinde. Gibt es ein schwarzes Brett wo man aufschreiben kann, wie man sich gerade gegenseitig unterstützen kann. Kann man sich im Zweifelsfall Unterstützung von außen holen, z.B. durch Krisentelefone. Auch das ist Selbstfürsorge. Wie kann ich auch in einer Dreifachbelastung mich selbst unterstützen? Da wirklich die eigenen Bedürfnisse mal an die erste Stelle packen, denn wenn die auf Dauer nicht erfüllt sind, kommt das niemandem zu Gute.
Und noch ein Pro-Tipp zum Schluss: Wenn man das nicht gleich schafft, sich selbst mehr Verständnis und Freundlichkeit entgegen zu bringen, einfach mal vorstellen, dass es nicht um mich geht, sondern um eine Person, die ich liebe. Um mein Kind, meine gute Freundin. Würde ich die auch fertig machen und alles von ihr fordern? Oder würde ich sagen: Oh man, das ist gerade echt eine harte Zeit, gönn Dir mal eine Pause!
Svenja Gräfen...
... geboren 1990, lebt in Leipzig und ist Autorin für Prosa, Essays und Drehbücher. Sie veröffentlichte bisher zwei Romane, „Das Rauschen in unseren Köpfen“ (2017) und „Freiraum“ (2019), sowie Texte in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften. Für ihr Schreiben hat sie bereits zahlreiche Stipendien erhalten. Sie leitet außerdem Schreibkurse und arbeitet als freiberufliche Redakteurin, Lektorin und Kreativberaterin. Ihr neues Buch „Radikale Selbstfürsorge – jetzt!“ ist bei Eden Books erschienen. Mehr zur Autorin: https://svenjagraefen.de/ ; Die Illustrationen stammen von der Leipziger Illustratorin Lea Hillerzeder, mehr Infos: https://www.slingashop.de/
Ann-Kathrin Canjé…
… ist schreib-,musik- und leseaffin. Ihr liegen die kleinen, unauffälligen Geschichten des Alltags am Herzen, die sie meist in Kurzgeschichten festhält. Wenn sie nicht kreativ schreibt, ist sie als Volontärin beim MDR tätig.