Ein Beitrag von Linda Leibhold
Ich habe unzählige Erinnerungen daran, wie ich als Kind mit meinen Eltern am Küchentisch sitze, sie sich über irgendetwas unterhalten und dann immer wieder Sätze fallen, wie: »früher war das einfach besser geregelt« oder »damals hätte es sowas nicht gegeben«. Früher und damals – damit meinten sie eigentlich immer die DDR. Ich bin erst knapp zehn Jahre nach der Wende geboren und habe entsprechend all diese Erfahrungen nicht selbst gemacht, sondern sozusagen anekdotisch vererbt bekommen. Es war offensichtlich, dass ‚Ostdeutsch-Sein‘ für meine Eltern einen großen Teil ihrer Identität bedeutet(e). Wenn sie von ihrem Leben in der DDR sprachen, dann waren es eigentlich immer die gleichen Erzählungen: von der besseren Kinderbetreuung, dem Lehrerberuf als Ausbildung statt Studium, der selbstverständlicheren Emanzipation der Frau nicht aus Gründen des Feminismus sondern Pragmatismus, dem unbeschreiblichen Gefühl als der erste Trabi auf dem Hof stand und wie man ja »nichts hatte und trotzdem das Beste draus gemacht hat«. Dass die DDR auch ein autoritärer Staat war, der programmatisch politische Gegner*innen verfolgte, Freiheiten der Bürger*innen enorm beschnitt und sich in vielen Bereichen sehr weit entfernte von der ursprünglichen sozialistischen Idee der Gerechtigkeit – all das lernte ich erst bedeutend später in der Schule.
Bis zu meinem Abitur hatte das ganze Thema dennoch so gut wie keine direkte Bedeutung für mein Leben. Klar, für die Generation vor mir war es enorm prägend, aber mit mir – mit mir hatte das alles nichts zu tun. Dachte ich zumindest, bis ich für mein Studium ‚rüber‘ nach Baden-Württemberg zog. Von meinen knapp einhundert Kommiliton*innen war ich die einzige aus Ostdeutschland und bekam dies sozusagen von außen als Stempel aufgedrückt. Ich war irritiert, wie wenig sie wussten über die DDR damals und die neuen Bundesländer heute. Neben Aussagen, dass der gesamte Osten ein Nazi- Problem hätte und wie cool Leipzig sei, war da einfach nicht viel vorhanden. Mir wurde klar: Während die ‚Ossis‘ sich gefühlt ständig an den ‚Wessis‘ rieben, dachten diese eigentlich so gut wie gar nicht über den Osten nach. Wie bei allen Diskriminierungsformen gilt: Ignoranz ist ein Privileg, das man sich nur dann leisten kann, wenn es einen nicht betrifft.
Raus aus der Tür - direkt ins Biosphärenreservat
Durch diese Erfahrung angeregt setzte ich mich im Rahmen meines Master-Studiums – für das es mich tatsächlich ins ‚coole‘ Leipzig zog – viel damit auseinander, wie die jetzigen Umbrüche durch den Strukturwandel mit ostdeutschen Identitäten zusammenhängen. Immer wieder ging es um Themen wie historisch gewachsene und anhaltende strukturelle Ungerechtigkeiten, Transformationsmüdigkeit, Abgehängt-Sein, Wende-Trauma durch Treuhand und Massenarbeitslosigkeit, Misstrauen in Parteien und Staatsapparat. Und ich verstand: viele Menschen in Ostdeutschland können über den sogenannten Strukturwandel nur Lachen, weil im Grunde ihr ganzes Leben eine Aneinanderreihung aus Strukturwandeln ist. Tja und währenddessen wurde die AfD immer größer und fand mit ihren rechts-populistischen Narrativen besonders großen Nährboden in den ländlichen Raumen der neuen Bundesländer. Und die meisten meiner Mitstudierenden und scheinbar der ganze Rest Deutschlands waren sich plötzlich einig: Mit solchen Leuten reden wir nicht. Und ich? Mir war das alles weniger klar. In den letzten Jahren hatte sich in mir eine neue Identität zu basteln begonnen, die sich stark von meinen Ursprüngen unterschied: ich lebte stets in größeren Städten, war als einzige aus meiner Familie studieren gegangen, politisch links aktiv, bemühte mich um inklusive Sprache und setzte mich für sozial-ökologische Gerechtigkeit ein. Und doch gab und gibt es natürlich einen Teil von mir, der sich den sächsischen ländlichen Räumen enorm zugehörig fühlte. Der sich dafür interessierte, welche Emotionen hinter den menschenfeindlichen Wahlentscheidungen lagen und wie es dieser gefährlichen Partei wie keiner sonst gelang, diese Emotionen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Ich konnte nachvollziehen, dass man den Politiker*innen der AfD keine Bühne bieten wollte und sollte. Ich fand es jedoch bereits aus rein pragmatischen Gesichtspunkten unklug, alle Wähler*innen dieser Partei als Nazis abzustempeln. Das hieß und heißt für mich zu keinem Zeitpunkt, sie in irgendeiner Form aus der Verantwortung nehmen zu wollen. Doch ich erlebte hautnah und – leider im engen Familienumkreis – wie diese kategorische Abwertung von der AfD einfach als Brandbeschleuniger benutzt wurde, denn Hass und die Abspaltung nur noch mehr zu verstärken. Und das bereitete mit große Sorgen, immer öfter auch Angst.
Winter
Mein Eindruck ist, dass in den letzten zwei bis drei Jahren verschiedenste Debatten um Ostdeutschland nochmal stärker in den gesellschaftlichen Fokus getreten sind. Im aktuell zunehmend aufgeheiztem Debattenraum wird dieses Thema an vielen Stellen sehr emotional und festgefahren verhandelt. Gespickt mit Zuschreibungen und Vorurteilen und häufig bewertet durch die Brille des Westens. Dirk Oschmann hat in seinem Bestseller »Der Osten – eine westdeutsche Erfindung« auf öffentlichkeitswirksame Weise auf viele der strukturellen und diskursiven Missstände aufmerksam gemacht, die auch noch heute – 35 Jahre nach der Wende – Gültigkeit haben. Und auch ich habe eine neue Facette meiner ostdeutschen Identität entdeckt, als ich diesen Herbst in ein kleines Dorf Nahe Hoyerswerda gezogen bin: Wut. Als ich von meinem Umzug in die Lausitz berichtete, fielen die Reaktionen zu knapp einhundert Prozent in etwa so aus: »Echt, aufs sächsische Dorf, zu den ganzen Nazis?! Krass, könnte ich nicht!«. Und obwohl ich ja selbst den nicht von der Hand zu weisenden Rechtsruck auf schärfste kritisiere, wurde ich bei solchen Gesprächen plötzlich defensiv und sauer. Ich empfand die zugrundeliegende Haltung irgendwie als arrogant. Als könne man das Problem von steigendem Rechts-Populismus lösen, indem man die ländlichen Regionen Ostdeutschlands künftig einfach großräumiger umfährt. In solchen Gesprächen habe ich plötzlich angefangen, den Osten zu verteidigen und vor Pauschalisierungen zu warnen (denen ich natürlich genau dann selbst auf den Leim gehe, wenn ich eine so große Gruppe von Menschen mit unterschiedlichsten Positionen zusammenfasse als ‚den Osten‘). Meine starke emotionale Reaktion auf das Thema hat mich erstaunt. Und mir bewusst gemacht, dass eine bestimmte Facette meiner Identität scheinbar immer dann besonders zum Tragen kommt, wenn ich mit jemandem konfrontiert bin, der diese überhaupt nicht teilt. So fühle ich mich immer dann am meisten als Ostdeutsche, wenn ich mit Westdeutschen spreche. Am meisten als Dorfkind in Unterhaltungen mit Vollblut- Städter*innen. Am meisten als politisch links in Gesprächen mit ‚Andersdenkenden‘. Dieses schwarz-weiß-Denken in gewissen Schubladen ist schlichtweg ein menschlicher Automatismus. Aber eben jener Automatismus führt dazu, dass eben stets vor allem das betont wird, was uns voneinander trennt und man versucht ist, ständig irgendwas voreinander verteidigen zu wollen. Wie anstrengend. Stattdessen möchte ich mehr den Fokus darauf legen, was mich mit anderen verbindet – auch wenn dies natürlich wieder mal wieder an der Realität scheitert.
Zum Einzug haben wir unsere neuen NachbarInnen zum Pizzaessen eingeladen.
Jetzt wo ich hier bin (und im Übrigen sehr glücklich mit dieser Entscheidung) spüre ich in den Gesprächen mit meiner neuen Dorfgemeinschaft immer wieder beides: Zugehörigkeit und Abgrenzung. Einhergehend mit der Erkenntnis: all das ist überhaupt nicht so widersprüchlich, wie es sich vielleicht manchmal anfühlt. In mir existieren unzählige verschiedene – hin und wieder auch scheinbar gegensätzliche – Anteile nebeneinander. Je nach Kontext kommen unterschiedliche Facetten mal mehr mal weniger zum Tragen. Es gibt nicht ‚die eine Identität‘, die ein Mensch hat. All das ist viel weniger in Stein gemeißelt - eine riesige Mischung aus verschiedenen Einflüssen und Erfahrungen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder neu zusammensetzen. Ostdeutsche zu sein ist also ein Teil von mir, neben so vielen anderen Teilen auch. Mal spielt es eine große Rolle, mal überhaupt keine. Naja, und was ist Ostdeutsch-Sein jetzt gerade für mich? Für mich sind es Lebensbiographien, Frust und Einfallsreichtum. Es sind der Tischtennis-Verein in unserer einzigen Dorfkneipe oder die Erzählungen meiner Nachbar*innen vom Schuften im Tagebau. Es sind ausgelassene Dorffeste mit zu viel Bier und noch mehr schlechter Musik. Es sind Heimatverbundenheit, Dialekt und Stolz. Wegzug und Zurückkommen. Es ist Opferrolle und Emanzipation. Es ist das Umrechnen von Preisen in D-Mark. Es sind witzige, traurige, zufriedene und melancholische Anekdoten aus längst vergangen Zeiten. Es ist Angst, Wut und Hoffnung. Es sind Knusperflocken und Vita Cola. Es sind rechte Strukturen und zivilgesellschaftliches Engagement. Es ist Humor. Es sind restaurierte Höfe, graue Platten und neue SUVs. Es ist Meckern im Großen und Machen im Kleinen. Manchmal auch umgekehrt. Es ist Abgrenzung und Verbundenheit. Es ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und noch unendlich viel mehr. Was ist es für euch?
ÜBER MICH:
Ich heiße Linda und bin ganz frisch mit meiner Freundin in die schöne Oberlausitz gezogen. Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf Nahe Meißen, habe später Umweltnaturwissenschaften und Geographie studiert und arbeite jetzt als Gewässerberaterin im Landkreis Bautzen.