Die kurdische Aktivistin Halimeh Ibrahim im Porträt
Ich besuche Halimeh in ihrer kleinen und gemütlichen Wohnung in Bischofswerda. Der Hausflur ist von Pflanzen gesäumt, die in der Nachmittagssonne verträumt ihre Blätter zum Fenster recken. Halimeh Ibrahim arbeitet seit zwei Jahren als kommunale Integrationskoordinatorin im Thespis Zentrum in Bautzen. Hier habe ich Halimeh kennengelernt, wo auch ich seit April dieses Jahres als Kulturmanagerin arbeite. Das Thespis Zentrum ist ein vom sächsischen Ministerium für Integrative Maßnahmen gefördertes Projekt, das sich mit transkulturellen Theaterangeboten für gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Menschen mit und ohne Migrationserfahrungen einsetzt. Es ist das erste Mal, dass wir uns außerhalb des Thespis privat begegnen. Wir sprechen über ihr Leben und ihre kurdische Identität, ihre Flucht aus dem Libanon und die ersten schwierigen Jahre in der Lausitz, die sie zu einer politischen Kämpferin und Aktivistin machten – für eine tolerantere und feministische Gesellschaft und für mehr soziale Gerechtigkeit für Menschen auf der Flucht.
Wenn Halimeh spricht, wirft sie ihre braunen Locken immer wieder mit einer schnellen Handbewegung aus dem Gesicht. Ihr großer weißer Kater Biso öffnet sich selbstverständlich die Tür des Wohnzimmers, indem er mit einem gezielten Satz auf die Türklinke springt. Halimeh lacht auf und sagt, dass er sich von seiner besten Seite zeige, um mir zu imponieren. Plötzlich wird sie ernst. „Bautzen will sich offen zeigen, aber die Realität ist anders.“ Es macht sie traurig, dass Menschen in Beratungen zu ihr kommen, die wiederholt von Diskriminierungen und rassistischen Äußerungen in der Stadt und an öffentlichen Institutionen erzählen. Selbst Lehrpersonal und Erwachsene wettern offen gegen „die Ausländer“. Es fehlt an Sensibilität für die Situation von geflüchteten Menschen. Mit einem Zwinkern sagt sie, wenn es doch eine deutsche Entscheidung basierend auf deutschem Recht ist, die eine Person offiziell anerkennt, wieso fällt es vielen so schwer diese Entscheidung zu akzeptieren?
Der Name „Halimeh“ ist Arabisch und bedeutet „die Geduldige“. Sie ist die wichtigste Bezugsperson für geflüchtete Menschen aus den kurdischen und arabischen Communities in Bautzen. Halimehs Stelle ist in unserem Büro integriert und wird direkt vom Landratsamt Bautzen finanziert. Seit zwei Jahren ist sie eine zentrale Säule für die erfolgreiche Arbeit des transkulturellen Zentrums. Zweimal in der Woche hilft und unterstützt sie bei ihrer „Teestunde“ Geflüchtete mit ihren alltäglichen Anliegen. Sie leistet Übersetzungshilfe von Amtspapieren zur Klärung des Aufenthaltsstatus, verfasst Briefe und begleitet die Menschen bei wichtigen Behördengängen. Halimeh hört den Menschen zu. Kürzlich hat sie im Rahmen der Interkulturellen Wochen im Landkreis Bautzen eine Fotoausstellung und einen Vortrag über die aktuelle politische Situation im Libanon organisiert, sowie einen Workshop für Kinder zum Thema Rassismus. Halimeh koordinierte einen Empowerment-Workshop für muslimische Frauen im Thespis und unterstützte im Oktober eine Demonstration gegen Rassismus in Bautzen. Ich habe Halimeh kein einziges Mal aufbrausend oder unhöflich erlebt. Bei unseren Besucher*innen und im Team ist Halimeh hoch angesehen. Ich bewundere ihre große Beharrlichkeit, mit der sie sich für die Belange von Menschen mit Fluchterfahrungen einsetzt.
„Es war schwer.“
Halimeh selbst kam 2014 mit zwei ihrer drei Kinder und ohne ihren Ehemann aus dem Libanon in die Lausitz. Sie ist libanesische Kurdin. Ihre Eltern sind vor mehr als 80 Jahren aus der Türkei in den Libanon geflohen und haben sich dort ein neues Leben aufgebaut. Wenn Halimeh über ihr Kurdisch-Sein im Libanon erzählt, spricht sie von Erfahrungen der Diskriminierung und Ausgrenzung und davon, dass sie nie als vollwertige Libanesin anerkannt worden ist. „Die Libanesen nennen uns immer die Kurden.“ Sie erzählt eine Anekdote, nach der selbst die Kurd*innen, die eine libanesische Staatsbürgerschaft erhalten haben mit einer Art „Code“ durch das Weglassen des exakten Geburtsdatums zu Menschen zweiter Klasse gemacht werden. Diese Zustände und die Zuspitzung der Wirtschaftslage im Libanon, als auch die hohen Kosten für Bildung und das medizinische System wollte und konnte sie nicht länger hinnehmen.
Wenn Halimeh von ihrem ersten Jahr in der Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Bischofswerda erzählt, dann sagt sie wieder und wieder den Satz: „Es war schwer.“ Nur manchmal schiebt sie kurze Begründungen nach, die auf die größeren strukturellen Probleme und Ungerechtigkeiten des deutschen Asylsystems im Umgang mit Menschen auf der Flucht verweisen. „Es war schwer.“ Ich habe den Eindruck, dass das erfahrene Leid und die gewaltvollen Erfahrungen von Halimeh und ihrer Familie sich mir gegenüber nicht in Worte fassen lassen wollen. Als im Zusammenhang mit der Grenzkrise im Jahr 2015 ein noch größeres Erstaufnahmelager neben ihrer Unterkunft entsteht und die Geflüchteten mit Bussen nach Bischofswerda gebracht werden, begegnen ihr das erste Mal offene Anfeindungen und Proteste vor dem Fenster. Vor allem von deutschen Jugendlichen, die Menschen wie sie hier nicht willkommen heißen wollen. „Es war sehr schwer und wir konnten nichts dagegen machen.“
Ihr 19-jähriger Sohn kommt unerwartet herein und stellt jeder von uns einen Teller mit Pommes und Schnitzel auf den Tisch. Dann verschwindet er wieder. Halimeh bietet mir Saft an und zum Nachtisch kandierte Karotten (Djasarije جزرية) und eine zuckerwatteähnliche Süßigkeit mit Pistazien (Ghaslelbanat غزل البنات) an, die ihre Tochter kürzlich von ihrem Besuch aus dem Libanon mitgebracht hat. Halimeh hat öfters überlegt, in eine größere Stadt zu ziehen in der Hoffnung auf einen toleranteren Umgang und mehr kulturelle Anlaufstellen für sie. Denn daran fehlt es in Bischofswerda. Als Halimeh mit einer Freundin für einen Tagesausflug nach Dresden reist, stolpern sie in eine Pegida Kundgebung. Einer der Teilnehmenden macht mit den Händen eine drohende Geste, andeutend ihrer Begleitung den Kopf abzutrennen. Halimehs Freundin will danach nicht mehr nach Dresden fahren.
„Libanon ist ein sicheres Herkunftsland“, bedeutet ein unsicheres Leben in Deutschland
„Libanon als sicheres Herkunftsland“ sorgt häufig für große Unsicherheiten von Halimeh und ihrer Familie. Deutsche Sprachkurse und die freie Auswahl ihres Wohnortes sind ihr verwehrt. Was bleibt, ist die immer wiederkehrende Angst vor Abschiebung und ein Leben in Prekarität. Als wir nach dem Nachtisch durch den kleinen Park, fußläufig von ihrer Wohnung, laufen, bleibt Halimeh vor einer Schaukel stehen. Ihr Blick wird traurig. Hier saß sie, als sie die Ablehnung ihres Aufenthaltsstatus bekam. Sie fand tröstende Worte und neuen Mut per SMS von einer Lehrerin ihrer Kinder. Der Hauptgrund nach Deutschland zu kommen waren die Chancen auf bessere Bildung für ihre beiden damals noch jugendlichen Kinder. Mit Nachdruck und Ausdauer setzte Halimeh sich von Anfang an dafür ein, dass ihre Kinder die DAZ-Klasse (*Deutsch als Zweitsprache) des städtischen Gymnasiums besuchen können. Dabei kam sie auch in Kontakt mit engagierten Lehrer*innen und einer Schulleitung, die sich aktiv dafür einsetzte, dass Halimeh und ihre Kinder eine eigene Wohnung beziehen konnten.
Halimeh ist studierte Biochemikerin, die nie als solche gearbeitet hat. Dabei hat ihr die Forschungsarbeit im Labor große Freude gemacht. Als sie mir das erzählt, imitiert sie mit den Händen wie sie eine Flüssigkeit aus einem Reagenzglas in ein anderes füllt. Stattdessen war sie im Libanon langjährig im Business und Management eines großen Unternehmens tätig. Durch Unterstützung in ihrem nahen Umfeld, findet Halimeh in der Lausitz bald Arbeit und durchläuft mehrere Positionen. Zuerst arbeitet sie als Betreuerin einer Wohngemeinschaft für minderjährige Geflüchtete, später als Quartiersbüromanagerin in Kamenz und heute in Bautzen. Dabei halfen ihr ihre Sprachkenntnisse in Kurdisch, Arabisch, Französisch, Englisch und Deutsch. Darüber hinaus engagierte sie sich viel ehrenamtlich. Halimeh unterrichtete Kinder in Arabisch und Kurdisch, die aufgrund ihrer Flucht nach Deutschland in ihrer Muttersprache noch nicht Lesen und Schreiben lernen konnten oder sie übersetzte Amtspapiere zur Klärung des Aufenthaltsstatus in der Familie.
Sie kam dabei auch in Berührung mit Familien, die dezentral in eigenen Wohnungen untergebracht worden sind. Diesen Ansatz findet Halimeh wesentlich besser als die Unterbringung in großen Sammelunterkünften. Schließlich ist so eine engere Anbindung an die deutsche Nachbarschaft gegeben und die Familien können besser und schneller die neue Sprache lernen. Nur so bekommen sie eine reelle Chance, systematische Ausgrenzung abzubauen. Außerdem sind die Hygienebedingungen in den Sammelunterkünften und die geografische Abschottung oft sehr schwer zu ertragen und führen zu vielen Problemen und Konflikten. Aktuell macht sich Halimeh für geflüchtete Kinder in einer Unterkunft in Wehrsdorf bei Bautzen stark. Sie organisiert Kreativworkshops und Ausflüge für die Kinder. Seit Kurzem hat sie gemeinsam mit einem Theaterpädagogen aus dem Thespis einen Fahrservice nach Bautzen organisiert, sodass die Kinder an Aufführungen des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters teilhaben können. Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie machen der Planung immer wieder einen Strich durch die Rechnung und isolieren die Bewohner*innen in der Unterkunft. Dabei berührt sie der enge Zusammenhalt der Familien und unterschiedlichen Kinder, die wie Geschwister zusammenwachsen.
„Wieso akzeptierst du nicht, dass eine Frau mit Kopftuch im Café neben dir sitzt?“
Ich frage Halimeh, was sie sich für die Region wünscht. Sie erhofft sich, dass die Leute in Zukunft weniger Vorurteile gegenüber Menschen haben, die hierherkommen. „Wieso bekommen Menschen kein Praktikum und keine Stelle nur, weil sie anders sind? Diese Menschen bringen eigene Stärken mit, man muss ihnen nur Chancen geben. Wieso akzeptierst du nicht, dass eine Frau mit Kopftuch im Café neben dir sitzt?“
Doch auch für die migrantischen Communities wünscht sie sich mehr Eigeninitiative. „Natürlich gibt es auch viele geflüchtete Menschen, die Angst davor haben, von der deutschen Bevölkerung nicht akzeptiert zu werden. Aber wenn wir einmal zusammensitzen und uns unterhalten, uns zuhören, wird es etwas geben, das wir zusammen machen können oder das uns beiden gefällt.“ Besonders schätzt und unterstützt sie die Arbeit von Hamida Taamiri und der von ihr gegründeten Migrant*innen-Selbstorganisation KOMMIT, die sich seit einem Jahr aktiv für mehr Gerechtigkeit und die Vernetzung von Organisationen in Sachsen einsetzt, die sich im Bereich Flucht und Migration engagieren. Willkommen in Bautzen e. V. unterstützt Menschen, die neu in Bautzen sind, anzukommen und bietet Sprachgruppen an, die sehr positiv angenommen werden. Davon braucht es noch mehr, findet Halimeh.
„Ich möchte in Zukunft meine kurdische Identität stärken. Ich bin keine Araberin, aber ich bin in einem arabischen Land geboren und habe auch ihre Kultur übernommen. Also bin ich auch keine hundertprozentige Kurdin. Ich habe nicht die eine „reine Identität“.“ Seit kurzem trifft sie sich regelmäßig mit einer Gruppe kurdischer Frauen und organisiert kleine Veranstaltungen zu kurdischer Kultur, um diesen Frauen eine Plattform zu bieten, aber auch um Menschen aus Bautzen dazu einzuladen, mehr darüber zu erfahren, was kurdische Kultur eigentlich bedeutet.
Halimeh lehnt sich gegen den großgewachsenen Baumstamm hinter ihr. Sie wirkt überzeugt und zuversichtlich, als sie über ihr neues Vorhaben mit den kurdischen Frauen spricht.
Ihren Mann hat Halimeh in den letzten sechs Jahren zweimal gesehen. Sie hofft darauf, gemeinsam ein Leben in Deutschland zu haben. Voraussetzung ist, dass Halimeh ihre Niederlassungserlaubnis erhält und auch ihn finanziell versorgen kann. Dafür muss sie fünf Jahre lang ihr eigenes Einkommen bestreiten und in einem sicheren Arbeitsverhältnis sein. Die Finanzierung ihrer aktuellen Stelle ist ab Januar 2021 ungewiss. Anders als für mich, bedeutet ein fehlendes Arbeitsverhältnis für Halimeh die mögliche Ablehnung ihres Aufenthaltsstatus.
Im Dezember 2020 erfahre ich, dass Halimehs Stelle als Kommunale Integrationskoordinatorin in Bautzen für das Jahr 2021 nicht verlängert wird. Dies ist das falsche Zeichen in eine Region, die mit erstarkenden rechten und menschenfeindlichen Gruppierungen zu kämpfen hat. Der Verlust von Halimehs Arbeit und ihrer Präsenz in Bautzen als Ansprechpartnerin und Vermittlerin für Geflüchtete, von denen es ohnehin zu wenige gibt, ist sehr bedauernswert und ärgerlich. Mit Halimeh verliert die Region eine engagierte, kreative und wichtige Persönlichkeit und Ansprechpartnerin, die sich stets über die von der Stelle geforderten Aufgabenbereiche mit Herz und Ideenreichtum für migrantische Perspektiven einsetzte.
Ticha Matting...
... ist studierte Kulturwissenschaftlerin (M.A.) und Kulturarbeiterin (B.A.). Seit April diesen Jahres unterstützt sie die Transkulturelle Akademie des Thespis Zentrum in Bautzen, für das sie im September das "Willkommen Anderswo" Festival für Partizipatives Theater kuratiert und organisiert hat. Zuletzt übernahm sie die Redaktionelle Leitung der "Bautzen.perspektive". Ticha ist außerdem als freie Redakteurin in Wort und Bild tätig.
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Fotos: Ticha Matting