Wie frei, gleichberechtigt und sexuell selbstbestimmt sind Frauen im 21. Jahrhundert?
Wollen wir mal sehen:
Frauen können sich ihre Partner*innen frei wählen? Check!
Sie müssen nicht heiraten? Check!
Sie können verhüten? Check!
Sex ist endlich keine Sünde mehr und kann frei, selbstbestimmt und ohne Angst genossen werden.
Es gibt also keine Probleme. Alles erledigt. Juhu! Sexuelle Freiheit für alle!
Die Frage, die sich allerdings stellt, ist: Kann das kulturelle Gedächtnis Zweitausend Jahre Ungleichgewicht so einfach vergessen? Oder feiert die weibliche Sexualität zu Unrecht ihre Emanzipation?
Antworten findet die deutsche Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Sandra Konrad in ihrem Buch „Das beherrschte Geschlecht“ . Darin beschreibt Sie kenntnisreich die Geschichte der weiblichen Sexualität bis ins 21. Jahrhundert. Über siebzig Frauen im Alter zwischen achtzehn und fünfundvierzig hat sie dafür zu ihrer Sexualität befragt und ihre Antworten eingebettet in psychohistorische Analysen und aktuelle Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung. Was dabei herauskam ist, wie ich finde, eine wahre Fundgrube an wissenswerten Fakten und nützlichem Argumentationsmaterial gegen Sexismus und Feminismusfeindlichkeit.
Besonders aufschlussreich waren für mich persönlich die Kapitel zur Sexindustrie oder – wie Konrad sie bezeichnet – zur „Parallelwelt der Gleichberechtigung“. Meine Meinung zu Pornografie und Prostitution ist zwiegespalten. Zum einen würde ich am liebsten die meisten Darstellerinnen aus den Pornos „retten“. Ich möchte in den Bildschirm springen und die Frau, die dort in alle Körperöffnungen gleichzeitig penetriert und der am Ende von mehreren Männern ins Gesicht ejakuliert wird, rausholen, in den Arm nehmen und ihr sagen, alles würde wieder gut werden.
Und alle Jungs und Mädchen, die diese Pornos sehen, um etwas über Sex zu lernen, nun aber völlig verstört sein müssen, die möchte ich trösten und ihnen sagen: „Ihr müsst das so nicht machen“.
Andererseits halte ich es auch für wichtig, Sexarbeit nicht moralisch zu marginalisieren.
Sandra Konrad eröffnet in ihrem Buch genau diese Diskussion. So macht sie auch auf vermeintlich feministische Pornodarstellerinnen wie Sasha Grey aufmerksam, die nicht müde wird, der Öffentlichkeit zu erklären, dass sie einzig und allein aus Lust in die Sexbranche einstieg und dort freiwillig und selbstbestimmt Karriere macht. Sie „verweigert sich der traditionell feministischen Pornodeutung vom männlichen Subjekt und weiblichen Objekt“ und erklärt, „dass jemand, der sich freiwillig unterwirft, nicht zu einem Objekt, sondern zu einem handelnden Subjekt werde“. Hm, was soll man dagegen sagen? Sandra Konrad schreibt: „Es wird nur im Einzelfall zu klären sein, ob weibliche Rufe nach Unterwerfung ein Zeichen von befreiter und selbstbestimmter Sexualität oder verinnerlichten patriarchalischen Ideologien und Rollenklischees sind.“
Im Grundsatz bleibt sie der Sexindustrie gegenüber aber entschieden kritisch. Sie beschreibt die Pornografie als „Erholungszone des Gutmenschen“, in der „die Urangst des Mannes vor der sexuell übermächtigen Frau gebannt“ werden könne. Und während die sexuellen, meist erniedrigenden Handlungen vor dem Bildschirm nur theoretisch erprobt würden, fänden sie ihre praktische Anwendung später im Rotlichtmilieu, welches auch einen heimlichen und vor bürgerlichen Normvorstellungen geschützten Ort biete.
„Allein in Deutschland gehen täglich etwa 1,2 Millionen Männer zu Prostituierten.“
„Laut ver.di sind etwa 93 Prozent der Prostituierten in Deutschland weiblich, 4 Prozent männlich, der Anteil der Transsexuellen liegt bei 3 Prozent.“
Fakten wie diese lässt die Autorin im Laufe ihres Buches immer wieder mit einfließen, was mich beim Lesen jedes Mal erschrecken und nachdenken ließ. Sie stellt fest: „Prostitution ist streng geschlechterhierarchisch strukturiert (…) und kein Beruf wie jeder andere, weil einem fast ausschließlich weiblichen Angebot eine fast ausschließlich männliche Nachfrage gegenübersteht.“
Weniger entschlossen und allgemeingültig sollte Konrad an manchen Stellen argumentieren, in denen es um die Auswertung ihrer selbst geführten Interviews geht. Ihre qualitativen Befragungen sind zwar durchaus vielsagend, jedoch sind siebzig Interviews meiner Meinung nach nicht repräsentativ genug, um in der Auswertung dann von „den Frauen“ zu sprechen. Etwas weniger Bestimmtheit täte ihren Thesen sicher gut. Schade fand ich außerdem, dass sich sämtliche Ausführungen im Buch ausschließlich auf Männer und Frauen bezogen. Denn wer tatsächlich überdauerte Geschlechtsstrukturen aufbrechen möchte, kommt meiner Meinung nach auch nicht umhin, auch mal die binäre und hetero-normativ gefärbte Brille abzusetzen, und alle Geschlechter in das Blickfeld zu rücken. Der Umgang mit Sexualität geht ja schließlich alle etwas an.
Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will was er will.
Erschienen am 01.12.2017 im Piper Verlag
384 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-05832-2