MUTIG, nicht perfekt!

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Reshma Saujani gibt in „Brave, not Perfect“ (Originaltitel 2019) Antworten auf die Frage, warum Frauen oft gar nicht erst versuchen etwas Neues anzufangen: sich auf einen Job zu bewerben zum Beispiel, für den die eigene Qualifikation scheinbar nicht ausreicht, oder übervorsichtig alles doppelt und dreifach zu kontrollieren, gegenlesen und bestätigen zu lassen, sogar eine poplige E-Mail.

Der erste Teil des Buches besteht aus Studien und Fakten zu Frauen und Perfektionismus, Mental Load und genderbezogener Erziehung. Die Autorin bietet vielseitige Einblicke in die Gespräche mit Mädchen und Frauen über ihre überhöhten Ansprüche an sich selbst. Im zweiten Teil spricht sie ihre Anerkennung für die #MeToo-Bewegung aus, erklärt warum wir alle eine eigene Definition von Mut brauchen und warum wir „Mutig wie eine Frau“ in unseren Sprachgebrauch integrieren sollten. Fakt ist: Mut brauchen wir in allen Lebenslagen und Reshma Saujani sammelt im dritten Teil allerlei Möglichkeiten, den eigenen „Mutmuskel“ zu trainieren, sich Unterstützer*innen für die eigenen Pläne zu suchen und Niederlagen zu überstehen.

Reshma Saujani erzählt, dass sie mit ihrer Kandidatur für den US-Kongress das erste Mal in ihrem Leben etwas gewagt hat, von dem sie nicht wusste, ob es ihr gelingen würde. Sie kandidierte als erste indisch-amerikanische Frau gegen eine etablierte Politikerin, gegen die sie augenscheinlich keine Chance hatte. Dennoch blieb sie dran und scheiterte. Seitdem trainiert sie jeden Tag ihren „Mut-Muskel“ für persönliche und berufliche Ziele.

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Reshma Saujani

Saujani ist Anwältin und Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation „Girls Who Code“ (dt.: Mädchen, die programmieren) und beobachtete immer wieder das Verhalten, dass Frauen in ihrer Umgebung sich selten für Bereiche bewerben, in denen sie noch keine Expertise gebildet haben. Wohingegen Männer sich den unbekannten Aufgaben stellen, ohne zu zögern.

Die Ursache liegt in der Konditionierung.

„Eine Luftpolsterfolie aus Liebe und Fürsorge umschließt uns wie ein Kokon.“

Die Anforderung an Mädchen besteht besonders darin, glänzen zu können und sich von Aktivitäten fernzuhalten, die ihnen weniger liegen und an denen sie scheitern können.

„Anders gesagt, man erzieht Jungen dazu, mutig zu sein und Mädchen dazu, perfekt zu sein.“

Eine Untersuchung zeigt, dass sich Männer auf Jobs bewerben, bei denen sie über 60 Prozent der erwarteten Qualifikationen erfüllen und Frauen dagegen erst, wenn sie über nahezu 100 Prozent der mitzubringenden Fähigkeiten bereits verfügen.

Beispiele ihrer Arbeit bei Girls-Who-Code zeigen, dass Mädchen ihre ersten Codes lieber löschen, als den Versuch zu zeigen, der gescheitert ist. Sie stellt weitere Auszüge aus den Gesprächen mit Frauen und Mädchen zu Perfektionismus in Schulen, sozialen Netzwerken und an der Uni dar, und welche Ängste dahinterstehen.

Eine Erklärung bietet die Denkweise über das eigene Selbstbild der Psychologin Carol Dweck. Sie unterscheidet das statische Selbstbild und das dynamische. Ersteres besagt, dass Fähigkeiten angeboren sind und nicht veränderbar. Entweder ist man begabt oder nicht. Das dynamische Glaubenssystem hingegen bietet die Möglichkeit, Fähigkeiten erlernen und entwickeln zu können. Prozesse mit Versuchen und Niederlagen sind folglich Schritte der Entwicklung einer neuen Fähigkeit und gehören einfach dazu.

„Wäre das Leben eine Grundschule, dann gehörte den Mädchen die ganze Welt.“

Das Zitat von Carol Dweck ist mir sehr in Erinnerung geblieben. In der Erwachsenenwelt gibt es keine Einsen, die Regeln sind andere. Und fürs Nettsein wird man tendenziell schlechter bezahlt.

Möglichkeiten einer Gegenkonditionierung vom Perfektionismus als eigenen Maßstab hin zum Mutigsein liefert der dritte Teil des Buches.

Anstatt allen gefallen zu wollen, allen Alles recht zu machen und sich selbst zurück zu nehmen, geht es darum, mutig genug zu sein, auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu achten. Das kleine feministische Einmaleins sozusagen.

Es gilt, eigene Glaubenssätze zu erkennen, sich davon zu befreien und daraufhin neu zu entscheiden.

Ich möchte exemplarisch fünf Strategien aus dem dritten Kapitel teilen:

  • Strategie 1: „Die Batterien müssen voll sein.“

Dazu gehören die üblichen Verdächtigen: Schlaf, Rückzug/Meditation, Gesundheit und Sport. Wenn du müde und gestresst bist, hast du keine Kapazitäten, zu widersprechen oder etwas Neues anzufangen.

  • Strategie 2: Die Kraft des „Noch nicht“

Zwei kleine Wörter werden an die eigenen Gedanken zu sich selbst und den eigenen Fähigkeiten angehangen. „Ich kann/bin noch nicht ...“

  • Strategie 3: Angst oder Weisheit?

Warum habe ich mich dagegen entschieden? Spricht da die Angst oder ist es die Weisheit?

  • Strategie 4: Was ist die Klippe?

Jede*r hat eine Angstsache, die das eigene Leben grundlegend verändern würde und sollte sie kennen und mitdenken.

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Prioritäten setzen und anfangen

  • Strategie 5: „Fang an, bevor du soweit bist.“

Die Strategie sagt dir: „Hauptsache du beginnst mit einer kleinen Sache!“, z. B. mit einem Anruf, einer E-Mail oder der Meinung einer vertrauten Person.

  • Strategie 6: Sisterhood

Nach Hilfe zu fragen erfordert Mut. In Krisenzeiten und Phasen der Veränderung brauchen wir Unterstützer*innen und Netzwerke. Sie können ihr Wissen und ihre Kontakte mit uns teilen, anstatt mit uns zu konkurrieren. Und damit wird dem misogynen Spiel ein Ende gesetzt.

Es gibt noch mind. 15 weitere Ideen, aus denen man sich eine passende aussuchen kann.

Für wen lohnt es sich, das Buch zu lesen?

Wer Lust auf Perfektionismus-Dekonstruktion hat, der/dem sei es empfohlen!

Der TED-Talk von Saujani zum Zusammenhang von Mädchen, Perfektionismus und Mut begeisterte 2016 Tausende Mädchen und Frauen. Als Einblick kann man sich das 12-minütige Video anschauen und daraufhin entscheiden, ob es Berührungspunkte erzeugt und Lust macht, mehr wissen zu wollen. Mittlerweile wurde das Video fast vier Millionen Mal angeschaut.

Am Ende des Buches finden sich Diskussionsvorschläge und Fragen zur Reflektion, die Anlass bieten, weiter zu denken und das Gelesene zu integrieren. Besonders für Erziehungspersonen mit Töchtern gibt Reshma Saujani Möglichkeiten, genderbezogene Erziehung zu erkennen. Sie ist selbst Mutter eines Sohnes und gewährt Einblicke in die gemeinsame Erziehung mit ihrem Mann.

 Meine Erkenntnis: Das Buch funktioniert auch wie ein Selbst-Test. Wie perfektionistisch auf einer Skala von 1 bis 10 bin ich? Je nachdem in wie vielen Geschichten du dich wiedererkannt hast, zeigen sich die perfektionistischen Züge in allen ihren Facetten und wie du dir dabei selbst im Weg stehst.

Wenn du Selbsthilfe-Ratgeber ablehnst, solltest du allerdings die Finger davon lassen. Es erinnert mich punktuell an Insta-Posts, die mir sagen: „YOU WILL NEVER FEEL 100% READY“ und mich dabei bestärken, es im Zweifel dann doch zu tun.

 

Blickwede 1 Buchcover 400px Cover des Buches

Eine Freundin fragt mich bei größeren Entscheidungen mit Zweifeln, ob sich ein Mann die gleichen Fragen stellen würde. In vielen Fällen würde ich darauf antworten „Nein“. Die Strategie hat sich also auch als ganz hilfreich erwiesen.

Für meinen Geschmack ist es genau das richtige Maß an Biografie, Sachbuch vs. Ratgeber und sparkt dabei eine Menge joy, wenn es grad gut auf die eigene Situation passt. Es gibt so viele Inspirationen, mal wieder in neue Richtungen zu denken. Worauf habe ich eigentlich Lust? Wie kann ich mich mal wieder selbst herausfordern? Ach, ich bewerb‘ mich jetzt einfach mal, es besteht ja auch die Möglichkeit, dass es klappt! Besonders im Lockdown fand ich es aufregend mich ein bisschen selbst zu „coachen“ und online an einem Vorstellungs-Gespräch teilzunehmen, vor dem ich mich normalerweise gedrückt hätte.

Laut und mutig sein ist wichtig, wenn man den rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Äußerungen im eigenen Umfeld etwas entgegnen will. Zu riskieren, sich als unhöflich oder arrogant darzustellen, gehört dabei genauso dazu, wie den Anderen dabei Raum für Entwicklung zu ermöglichen.

Populärwissenschaftliche Literatur wie diese hat zudem den Vorteil für verschiedene Leser*innen zugänglich und verständlich zu sein.

Die einzige Kritik, die ich äußern will: manche Aussagen sind stark vereinfacht und unzureichend belegt.

Es hat mich gestört, dass das Buch das Märchen der Chancengleichheit erzählt. Besonders in der kapitalistischen Verwertungslogik gibt es für Arbeitnehmer*innen Ausschlusskriterien, denen man auch als mutige Person unterlegen ist. Die Gefahr besteht darin, systemische Ursachen und Diskriminierungsformen zu stark auf Einzelpersonen abzuwälzen, die sich scheinbar nicht genug bemüht, getraut und überwunden haben, ihrem Lebenstraum nachzueifern.

 

Reshma Saujani

Mutig, nicht perfekt – Warum Jungen scheitern dürfen und Mädchen alles richtig machen müssen

Erscheinungstag: 18.08.2020 im DUMONT Verlag

ISBN 978-3-8321-7051-6

Übersetzung: Susanne Rudloff

Hardcover, 222 Seiten

 

Helene Blickwede...

... lebt in Görlitz und hat im Oktober 2020 ihr Studium an der HSZG abgeschlossen. Ihre Grafik & Illustration veröffentlicht sie auf Instagram unter wohinundher. Das F wie Kraft - Journal stellt für sie eine gute Möglichkeit bereit, sich in der Lausitz zu vernetzen und sich in neuen Gefilden auszuprobieren. Eine Rezension mit eigenen Illustrationen zu veröffentlichen gehört definitiv dazu.

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