„NICHTS, WAS UNS PASSIERT“

Abgelaufen

In Deutschland haben 13 Prozent der im Rahmen einer Studie befragten Frauen und Mädchen zwischen 16 und 85 Jahren sexualisierte Gewalt erlebt, die nach der engen juristischen Definition als Straftat gilt. Fast jede Siebte ist betroffen – bei 5 bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen wird die Polizei eingeschaltet. In 3 Prozent der Fälle geht man von Falschbeschuldigungen aus. Weniger als ein Fünftel der Verfahren endet mit einer Verurteilung des Täters.

Wie reagieren, wenn im Freund*innenkreis ein Vergewaltigungsvorwurf im Raum steht?

Welchen Umgang mit dem vermeintlichen Täter pflegen, solange der Vorwurf ungeklärt bleibt?

Und danach?

Wie urteilen, wenn nach widersprüchlichen Schilderungen und unklarer juristischer Faktenlage keine absolute Wahrheit auf der Hand liegt?

Und wie die Betroffenen unterstützen – emotional, juristisch, politisch?

Bettina Wilpert liefert in ihrem Debütroman “Nichts, was uns passiert” keine Antworten. Vielmehr interessiert sie sich für das Spannungsfeld aus individuellen und gesellschaftlichen Dilemmata, die sich aus einem sexuellen Missbrauch(svorwurf) entwickeln können. Es geht ihr um den Dreiklang aus Schuld, Verletzung und Loyalität.

Sommer 2014. Leipzig, studentischer Szenekiez. Zähe Nachmittage in der Unibibliothek. Durchwachte Sommer-Nächte. Anna lernt Jonas kennen. Jonas lernt Anna kennen. Sie streiten über ukrainische Literatur. Stoßen darauf an. Beginnen eine unspektakuläre Affäre. Unverbindlicher, einvernehmlicher Sex. Dann die Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes. Alkohol. Sex. 1380 Sekunden. 23 Minuten. Zwei qualvolle Monate später der Gang auf das Polizeirevier. Annas Eingeständnis: Ich bin vergewaltigt worden.

Die Erzählerin versucht sich an der Rekonstruktion der Nacht der (vermeintlichen) Vergewaltigung. Sie führt Gespräche und protokolliert deren Inhalte – nüchtern, geradlinig, unparteiisch. Ausgehend von Annas und Jonas‘ Schilderungen werden die Berichte von Freund*innen, Kolleg*innen, Familie, zufälligen Beobachter*innen im Verlauf des Buches immer vielstimmiger. Ein kontroverses Mosaik aus Erinnerungen, Mutmaßungen und Meinungen zu Anna und Jonas entsteht. Es verunmöglicht den Blick auf die vermeintliche Wahrheit und verhindert schnelle, leichtfertige Urteilssprüche.

Da ist der Polizeibeamte, der Anna auf dem Revier empfiehlt, nicht mehr so exzessiv Alkohol zu trinken. Der gemeinsame Freund, der seine Loyalität zu Jonas pragmatisch verhandelt – wäre die Freundschaft zu einem Lügner weniger verwerflich, als die zu einem Vergewaltiger? Die fremde, feministische Gruppe, die Annas Betroffenheit politisch wertet, ohne dabei ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Jonas, der anfänglich mutmaßt, Anna würde die Verleumdung nur rachsüchtig organisieren. Vielleicht, weil sie sich doch mehr erhoffte, als eine unverbindliche Affäre?

“Nichts, was uns passiert” besticht nicht durch inhaltliche Spannungsbögen, sondern liefert durch konsequent beobachtendes, protokollarisches Vorgehen eine Bestandsaufnahme von Wahrheiten: Jede*r der Befragten konstruiert eine Wahrheit durch Rückgriff auf Stereotype, durch politisches Bewusstsein, statistische Fakten oder aus Loyalität.

Das Verfahren gegen Jonas wird eingestellt werden. Zu diesem Zeitpunkt hat der Vorwurf aber bereits Wellen geschlagen: Freund*innenschaften zerbrechen, Jonas‘ Arbeitsverhältnis wird beendet und der Gang durchs Viertel wird zum Spießrutenlauf. Beide stehen vor dem Scherbenhaufen ihres früheren sozialen Umfelds. Annas Wut und Scham bleiben. Hätte sie es nicht geheim halten können? Wäre der Preis, das eigene Erleben zu übergehen, nicht niedriger gewesen als das, was sie jetzt durchstehen muss?

Vergewaltigungen sind gesellschaftliche Realität – in der rauen Großstadt genauso wie in der idyllischen Provinz. Fast immer sind Männer die Täter. Die feministische Theorie der “rape culture” (Vergewaltigungskultur) betrachtet bereits seit den 1970er Jahren männliche sexualisierte Gewalt gegen Frauen als ein strukturelles Phänomen. Es gibt gesellschaftliche Dynamiken, die diese legitimieren und begünstigen: Schuldzuschreibungen gegenüber der Frau, Bagatellisieren und Infragestellen der Schilderungen der Betroffenen, ein Sexualstrafrecht, nach welchem Verurteilungen selten sind.

Hier muss auch Jahrzehnte später die Diskussion ansetzen. Der Sex zwischen Anna und Jonas ist juristisch nicht als Vergewaltigung haltbar – aber was, wenn Anna sich trotzdem missbraucht fühlt?

Jasmin Gräbner ist zugezogen – und will bleiben. Mit ihrer Freundin lebt sie in der südlichen Oberlausitz.

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NICHTS, WAS UNS PASSIERT

Bettina Wilpert
Hardcover, 168 Seiten
Preis: 19,00 €
ISBN: 9783957323071

Erschienen im Verbrecher Verlag

 
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